Freitag, 19. April 2024

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Schwimmbadsommer

Ein wenig stutzt man doch – oder freut man sich ganz einfach, heiter gestimmt durch den Titel Schwimmbadsommer? -, wenn man dieses Buch aufschlägt und gleich auf der ersten Seite in fetten schwarzen Lettern lesen darf: «Meiner Schwester gewidmet», wenn man dann im Inhaltsverzeichnis nicht weniger als sechsmal auf die Formel trifft: «Mein Vater ist ...», und nach den drei Pünktchen ist der Vater dann mal Albert Camus, mal Ivan Lendl oder James Dean oder JFK, irgendsoeine Nostalgie-Berühmtheit jedenfalls: Mit einem Wort, recht familiär geht es zu in diesem Erzählwerk des 1976 geborenen Fridolin Schley, der für seinen ersten Roman Verloren, mein Vater bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Auch Juroren schätzen offenbar das Familiäre und besonders, wenn es von vielversprechenden jungen Männern hochgehalten wird.

Martin Krumbholz | 14.07.2003
    Aber wo bleibt die Mutter? In der ersten Geschichte ist der Vater, den die Arbeitskollegen sonst «als seriösen, ruhigen Macher» kennen, ein Indianer, der im Kinderzimmer mit Playmobilen spielt; der Weg nach Oklahoma sei kein Osterspaziergang, erfahren wir, und am Schluss begegnen wir – aha! – der «Squaw», also der Frau des Indianerhäuptlings, also «unserer Mutter». Endlich. Wir blättern weiter und finden nun, da das Buch im gleichförmigen Wechsel aus Vater- und Nicht-Vatergeschichten komponiert ist, eine längere Erzählung mit dem Titel Schöner Ball . Erfreut nehmen wir mit dem ersten Satz zur Kenntnis, dass der Ich-Erzähler kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag die Gautinger Tennismeisterschaften im Junioren-Einzel gewinnen konnte; da auf 27 der 27 Seiten dieser Geschichte von Tennis und am Rande ein wenig von Eifersucht auf andere Tennisspieler und ihre Freundinnen die Rede ist, und da wir zwar von schönen Frauen ein wenig, von Tennis aber leider wenig verstehen, werden wir zunehmend ungeduldig; indem wir drei Seiten vor Schluss auf den Satz stoßen: «Sportgeschichten wollen schnell erzählt werden», blicken wir nervös auf die Uhr und blättern weiter zum nächsten Text, in dem der Vater – drei Pünktchen – als Albert Camus debütiert.

    Im ersten Satz heißt es: «An den Stränden von Mimizan lagen nach einigen Jahren mehr Deutsche als Franzosen auf ihren Handtüchern», und wir denken, das ist genau die feine Prise Übertreibung, cum grano salis sagt der Lateiner wohl, die die gehobene Literatur kennzeichnet. Wir erfahren im folgenden, dass der Vater, schon in jungen Jahren ein Schlitzohr, im philosophischen Seminar, kaum ohne auch nur ein paar Mal den Mund aufzumachen, die Mutter freite. Nur ab und zu stellte er eine schlaue Frage, und so ist der Vater, mehr oder weniger indem er geschwiegen hat, ein Philosoph geblieben.

    Die sich anschließende Geschichte Schwimmbadsommer eröffnet der Erzähler mit einem ähnlich vornehm-zurückhaltenden Gestus wie schon die Tennisgeschichte, in der er oder sein Double bekanntlich Juniorenmeister wurde: "Eine bescheidene Veröffentlichung hatte mich lokal bekannt gemacht, hatte dafür gesorgt, dass mein Name (und mitunter auch ein Foto) in den Zeitungen der Gegend [ja: in den Zeitungen, so steht es da] erschien." Ein wirklicher Thomas-Mann-Eröffnungsgestus, wie wir finden; wir lesen begierig weiter und forschen in der immerhin fast 50 Seiten langen Erzählung nach dem thematischen Focus dieser letztlich doch schon eher unbescheidenen Veröffentlichung: Es geht um eine Episode aus der Schülerzeit unseres Gautinger Thomas Mann, genauer gesagt um deren Abschluss, das Abitur nämlich und die geplatzte Abiturfeier; es geht um zwei Schulfreunde des Ich-Erzählers: Die Sache war nämlich die, dass ... Nein, das ist es wohl nicht, aber was eigentlich ist es? Ein Mitschüler namens Sascha, ein sogenannter «Gruftie», bewundert und gemieden von der wohlerzogenen Mehrheit, verunglückt tödlich in seinem Automobil; eine Art hämmernder schicksalsmäßiger Abi-Streich, könnte man sagen, wenn für derart frivole Späße in Fridolin Schleys gesitteter Musterschüler-Prosa Platz und Raum wäre.

    Thomas Mann, der echte, hätte – bei allem Wohlgefallen an der ordentlichen Manier und der sauberen Satzbaukunst seines Epigonen – nun doch ein wenig die Stirn gerunzelt, denn er hätte sich pflichtschuldig fragen müssen, welchen Symbolgehalt, welchen Aussagewert die schiere Tatsache des plötzlichen Todes dieses Sascha in der Erzählung denn nun habe, und eine befriedigende Antwort hätte er mutmaßlich so wenig gefunden wie wir. Wir spekulieren nun einmal ganz unernst: Sascha muss sterben, weil das Element von Anarchie und unschuldigem Revoluzzertum, das er verkörpert, in diese Welt der abgezogenen Tennisplätze, der blühenden Kastanienbäume, der aufgeräumten Kinderzimmer und der ebenso aufgeräumten Väter einfach nicht hineinpasst.

    Bevor wir das Buch zuklappen, wollen wir noch wissen: Wer zum Teufel ist Frank Mill? Denn auch in dieser Rolle triumphiert, mitten zwischen James Dean und JFK, der sympathisch-aufgeweckte Vater des Erzählers. Wir kennen Frank Mill nicht, was ist uns da nun wieder entgangen, aber wir wollen sein Geheimnis lüften, und es wird uns auf den Seiten 167 folgende des «Schwimmbadsommers» mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelingen.