Donnerstag, 28. März 2024

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Morgen in der Schlacht denk an mich

Eine junge Frau, gerade von der Hochzeitsreise zurückgekommen, betritt das Badezimmer, stellt sich vor den Spiegel, knöpft die Bluse auf, zieht den Büstenhalter aus und schießt sich, zum Entsetzen der Gäste im Eßzimmer, eine Kugel ins Herz. Was für ein Romananfang, welche Szene, ein Bild, das einen ein ganzes Leseleben lang nicht loslassen wird.

Hajo Steinert | 01.01.1980
    Mit langen, kunstvoll ineinandergreifenden Sätzen hob ein Roman an, der zu den spektakulärsten Neuerscheinungen der letzten Jahre gezählt werden darf. Allein schon der Anfang dieses auf ein Shakespeare-Zitat anspielenden Romans "Mein Herz so weiß" fesselte den Leser wie kaum ein anderer zuvor. Der Autor, Javier Marias, bis dahin nur ein Insider-Tip, erwies sich auch im weiteren Geschehen mit seiner gnadenlos ans hintere Ende gesetzten krimifesten Pointe als ein einzigartiger Erzählkünstler. Daß dieses allerdings alles andere als unkompliziert geschriebene Buch zu einem Bestseller par excellence avancierte, erscheint mir heute noch wie ein Wunder, ein TV-Wunder mithin. Ohne das "Literarische Quartett" wäre "Mein Herz so weiß" kaum ein Publikumserfolg geworden.

    Javier Marias erzählt seinen Roman nicht nur aus der Perspektive einer Hauptfigur, die dem Beruf des Simultandolmetschens nachgeht - simultanes Erzählen ist auch das herausragende Formmerkmal in "Mein Herz so weiß". Das heißt: Der Erzähler entwirft einen Reigen von Szenen, erotischen zumeist, die er wie mit verschiedenen, auf den jeweiligen Schauplatz strategisch verteilten Kameras einfängt. Sei es der sich lockernde Riemen eines Büstenhalters, das Hineingleiten eines Damenfußes in die sich öffnende Sandale, ein blinkender Ehering am Finger, das locker hingestreckte Höschen auf dem Teppichboden: der Erzähler ist ein Voyeur.

    Er hält die Zeugen seiner heimlichen Obsessionen, sprich uns Leser, mit aufreizend nahen Großeinstellungen, hart aneinander geschnittenen und dann doch extrem in die Länge gezogen Bildern in Atem. Ständig wechseln die Perspektiven. Mal lauscht der Erzähler an der Wand, um mitzubekommen, was sich im Nebenzimmer tut; mal steht er stundenlang am Fenster und beobachtet das Treiben auf der Straße. Später steht er unten auf dem Trottoir und starrt ins beleuchtete Etagenfenster. Kein Detail will er sich entgehen lassen. Javier Marias erzählt mit detektivischer Genauigkeit. Seine Erzähler-Figuren stehen unter fiebrigem Wahrnehmungszwang.

    "Mein Herz so weiß" handelt von der Zufälligkeit erotischer Begegnungen, vom Zufall des Todes, von der Anonymität in der Großstadt. Furchtlos begibt sich der literarisch gebildete Autor - ein ausgebildeter Anglist, gelegentlich Lehrer an der Universität in Oxford - an die großen Themen der Weltliteratur: Liebesverrat und Tod, Ehe und Einsamkeit, Ehebruch und Liebesmord, Treue und Komplizenschaft - all diese Evergreens kommen vor in einem Roman, der ganz im Heute stickiger Metropolen wie Madrid, New York und Havanna spielt.

    Und immer wieder stellt der Autor Schilder mit philosophischen Sentenzen von klassischer Stichhaltigkeit in seine Avenues, seien sie nun von Javier Marias selbst oder von Lehrmeister Shakespeare beschriftet. "Die Ehe ist eine Institution, die dem Erzählen dient", "Das Bett ist ein Beichtstuhl", "Ich liebe dich so sehr, daß ich für dich töten würde" oder "Schlafende und Tote sind Bilder nur". Das sind Sätze, die ich in meinem Exemplar des Romans so fett angestrichen habe, daß sie mir beim Wiederlesen des Romans sofort ins Augen springen. Wäre ich Lehrer, ich beriefe sie in den Stand von Schulaufsatzthemen.

    Apropos Wiederlesen. Während der Lektüre des neuen Romans von Javier Marias fragt sich der Leser wiederholt, ob er auch das richtige Buch vor sich liegen hat. Sprache, Form, Motivik, Symbolik, Metaphorik, auch Teile des Inhalts: sie kommen einem so bekannt vor, daß man meint, nur eine Fortsetzung von "Mein Herz so weiß" zu lesen. Wieder darf der Leser Seite für Seite philosophische Sentenzen herausstreichen (aber nicht alle sind so stichhaltig wie im Roman zuvor), wieder muß man darüber staunen, welch vielfältige erzählerische Möglichkeiten dem Autor zur Verfügung stehen, wieder diese Wahrnehmungsintensität, wieder das Großstadtgetriebe (Madrid und London), wieder ein ebenso sprachmächtiger wie voyeuristischer Ich-Erzähler (kein Dolmetscher diesmal, sondern ein Drehbuchautor und Ghostwriter), wieder bekommt eine politische Respektsperson ihren Auftritt (statt der "eisernen Lady" ist es diesmal der spanische König), wieder verfolgen wir diese kunstvoll ineinander verschlungenen Sätze, sauber gedrechselt, geschliffen in ihrer grammatischen Korrektheit, präzise wie ein Schweizer Uhrwerk.

    Einmal mehr folgt die Romanhandlung den Erzähllinien eines Kreislaufs, kommt der Erzähler im Zuge seiner Reflexionen ins Pallavern, schweift er in Rückblenden ab. Objekt seiner simultanen Erzählweise sind auch die gelegentlich bedeutungsvoll flimmernden Fernseher im Raum. Bei Marias parallelisieren und illuminieren die trivialen Geschichten auf der Mattscheibe das restliche ernsthaft tragische Geschehen im Roman. Ein schöner ironischer Einfall, der seine Wirkung allerdings spätestens beim dritten Mal verliert. Der Leser zappt sich mit zunehmender Ungeduld durch die verschiedenen Erzählkanäle des ersten, zweiten und dritten Marias-Programms. Wie in "Mein Herz so weiß" bietet auch in "Morgen in der Schlacht denk an mich" das letzte Kapitel des Romans die Auflösung eines im ersten gestellten Rätsels; wieder geht es um wirkliche und eingebildete Schuld, um Liebesverrat und Ehebruch - und Büstenhalter spielen übrigens einmal mehr von Beginn an eine tragende Rolle.

    Javier Marias gehört zu den Autoren, die meinen, ihre literarische Souveränität von Werk zu Werk unter Beweis stellen zu müssen, indem sie schnurstracks an ihrem Erfolgssrezept festhalten. Solche Autoren - wohlgemerkt, sie gehören zu unseren besten - faszinieren und langweilen einen zugleich. Bei Thomas Bernhard war es so, Javier Marias scheint auf dem besten Wege dahin. Jeder neue Roman - ein Kopierwerk früherer Produkte.

    Die Gefahr ist groß: Autoren wie Marias bewundert man in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichungen mit abnehemder Tendenz, man zollt ihnen mit steigender Tendenz Respekt. Waren Marias' Leser beim vorherigen Buch noch Entdeckungsreisende, so sind sie jetzt nur noch Experten; eine Neuerscheinung von Marias wird nicht mehr 'verschlungen', sondern 'rezipiert'. Über Autoren, die von der Stange schreiben, hört man auf zu rätseln - es werden Dissertationen über sie verfaßt. Hat man gerade noch ihre Unvergleichlichkeit beschworen, beginnt man jetzt mit komparatistischen Studien. Kurz gesagt: wo sich Virtuosität nur noch als Variante des Gekonnten verrät, verliert ein Roman seine Seele. Literarisches Handwerk siegt über die Lust am Scheiben, Perfektion über Talent, Berechenbarkeit über den Überraschungseffekt. Aus dem literarischen Verführer Javier Marias ist ein von seinem eigenen Charme Verführter geworden.

    "Morgen in der Schlacht denk an mich" - das ist, man braucht es kaum noch zu sagen, wieder ein Zitat von Shakespeare. Gesagt hat den Satz Richard III. Aber auch jenes "Schlafende und Tote sind Bilder nur" aus "Macbeth" hätte einen passenden Titel abgeben können. Die Metaphysik des Todes: dieses Thema hat Javier Marias in seinem neuen Roman brennend interessiert, stärker noch als in "Mein Herz so weiß". Das neue Buch liest sich wie eine literarische Ausdeutung jenes 'memento mori', das die Philosophen seit Lessing, der noch das tröstlich antike Bild vom Tod als Zwillingsbruder des Schlafes verbreitete, beschäftigt. Daß der Tod nicht nur im Augenblick des Sterbens, sondern von Geburt an geschieht, also permanent lebensimmanent ist, gehört zu den schmerzlichen Erfahrungen, die die Figuren in Marias' Roman machen. Die Verdrängung des Todes aus unserem alltäglichen Bewußtsein - dieser Erkenntnis verdankt der Roman seinen paukenschlagartigen Einstieg: "Niemand denkt je daran, daß er irgendwann eine Tote in den Armen halten könnte und daß er nicht mehr ihr Gesicht sehen wird, an dessen Namen er sich erinnert. Niemand denkt je daran, daß jemand im unpassendsten Augenblick sterben könnte, obwohl dies die ganze Zeit passiert, und wir glauben, daß niemand, dem dies nicht bestimmt ist, in unserem Beisein wird sterben müssen."

    Während die meisten Gegenwartsautoren heute nur noch über das Sterben (des Vaters, der Mutter usw.) schreiben, interessiert den spanischen Autor noch die literarische Umsetzung todesphilosophischer Gedankengänge, wie sie am Anfang unseres Jahrhunderts en vogue waren. Georg Simmel war einer von denen, die das Denkbild von der "Lebensimmanenz des Todes" entwarfen. Für ihn war der Tod nicht nur etwas, das in "jedem einzelnen Moment" geschieht, er schwor die "formgebende Bedeutung des Todes" herauf. Leben und Tod waren für ihn keine Antithesen. Er löste diese Polarität als falschen Schein auf und 'transzendierte' die Auflösung eines vermeintlichen Gegensatzes in eine höhere Bewußtseinsstufe, die er "Wirklichkeit" nannte.

    Um diese "Wirklichkeit" des Todes ging es etwa Rainer Maria Rilke in seinem Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Malte reagiert auf den "fabrikmäßigen" Tod eines Menschen in seiner unmittelbaren (Pariser) Umgebung mit panischem Schrecken und vergegenwärtigt sich dann, zu seinem eigenen Trost, die Todesarten seines Vaters bzw. Großvaters, die noch einen "eigenen", einen harmonischen Tod im Kreise der Familie starben. Auch Javier Marias geht es um jene philsophisch verstandene "Wirklichkeit" des Todes. Allein, einen "harmonischen" Tod, wie ihn die alten Dichter noch sangen, kann es bei ihm nicht geben, genauso wenig einen harmonischen Familienkreis. Sich dieser Utopie gleichwohl auszusetzen - dies gehört zu seiner literarischen Anstrengung.

    Der Anfang des Romans - wieder genial, wieder mit dem Javier Marias ureigenen Tempo erzählt, wieder zieht uns der Meister effektvoller Romaneinstiege binnen weniger schwindelerregender Sätze mitten ins Herz des dramatischen Geschehens, wieder ist es eine unerhörte Begebenheit: der Ehemann ist verreist, das zweijährige Kind schläft im Nebenzimmer, und Marta empfängt einen taufrischen Liebhaber. Der heißt Victor, ist der Ich-Erzähler des Romans, und kaum haben sich die beiden ihrer ersten Kleidungsstücke entledigt, ist ihr der Büstenhalter eher von selbst heruntergerutscht, stirbt sie ihm einfach weg. Was tun mit der Leiche, was tun mit dem schlafenden Kind, was tun mit dem Büstenhalter? Natürlich gerät Victor in einige Konfusion, Seite für Seite malt der Autor sie aus. Wir fiebern mit. Am Ende des Kapitels sind es drei Dinge, die der aus dem Haus flüchtende (Fast?-) Ehebrecher mitgenommen hat: die Adresse des (fast) betrogenen Ehemannes in London, eine Tonkassette aus dem Anrufbeantworter und jenes filigran gewirkte Kleidungsstück der Geliebten für einen halben Tag.

    Was jetzt, nach furiosem Auftakt, beginnt, ist ein bohrendes und bisweilen auch nervtötendes Kammerspiel über die Schuld und Unschuld eines Eindringlings in fremde Gemächer, eine Recherche nach der Wahrheit im Stile einer Detektivgeschichte, ein philosophisches Traktat über die Qual des Vergessens und Nicht-vergessen-Könnens, eine Anleitung in die Kunst, im richtigen Moment das richtige Täuschungsmanöver zu beginnen, ein weiterer Film über den gar nicht so diskreten Charme der Bourgeosie. Victor kann das Erlebte nicht aus seinem Gedächtnis löschen. Heimlich nimmt er an der Beerdigung Martas teil. Er lernt ihren Vater und ihre naturgemäß attraktive Schwester kennen, im weiteren auch Martas Ehemann, der sich im übrigen einer ganz ähnlich gelagerten Schuldfrage stellen muß wie Victor. Am Ende wird man noch den Tod einer anderen jungen, schönen Frau beklagen. Der Kreis wird geschlossen, alle Wahrheiten, falschen Beichten und echten Verschleierungsmanöver treten zutage.

    Es ist der Kombinationslust des Lesers überlassen, die einzelnen Geschichten miteinander zu verbinden. Der Autor macht es ihm nur insofern schwer, als er es dieses Mal mit seiner Kunst des Abschweifens etwas weit treibt. Aus noch so banalen Alltäglichkeiten versucht er, literarische Funken zu schlagen. Stellenweise liest sich der Roman wie ein Training des Beschreibens, ein literarisches Dribbling, ohne am Ende aufs Tor zu schießen. Akribisch genau beschreibt Javier Marias das Einsteigen einer Frau in engem Rock und offenem Ledermantel ins Auto oder das Ausziehen eines Pullovers mit gekreuzten Armen. Aber so pingelig genau, wie es der Erzähler hier tut, wollten wir es gar nicht wissen.

    "Mein Herz so weiß" bestach noch durch die eigene Dynamik jeder einzelnen, für sich selbst sprechenden Binnenerzählung (man denke nur an die Berta-Episode in New York). Der ganze Roman: eine Art stacheliger Novellenkranz mit sehr vielen schönen Spitzen. Nicht alle Ausschweifungen im neuen Werk sind so packend und zwingend für das Ganze wie jenes Stelldichein Victors, der sich bei dieser Gelegenheit (hört! hört!) Javier nennt, mit einer Prostituierten im Auto. Das quicke Treffen kam zustande, weil die Prostituierte der Exfrau des Gehörnten zum Verwechseln ähnlich sieht. Aber selbst diese virtuos erzählte Szene räumt unseren Verdacht nicht aus dem Wege, daß Javier Marias mit seinem neuen Roman "Morgen in der Schlacht denk an mich" nicht nur zum Buchhalter seines literarischen Könnens geworden ist, sondern darüber hinaus auch zum raunenden Moralapostel. Das hätten wir nicht erwartet. Die letzten Worte des Romans sprechen für sich. "Und wie wenig bleibt von jedem einzelnen Menschen in der Zeit, die so unnütz ist wie glatter, rutschiger Schnee, von wie wenig hat man Ahnung, und von diesem Wenigen wird so vieles verschwiegen, und von dem, was nicht verschwiegen wird, bleibt später nur ein winziger Teil in Erinnerung und nur für kurze Zeit: Unterdessen streben wir langsam unserer Auflösung entgegen, nur um auf der Rück- oder Kehrseite der Zeit zu wandeln, wo man nicht weiter denken und auch nicht weiter Abschied nehmen kann: 'Leb wohl, Gelächter, und leb wohl, Schmach, ich werde euch nicht wiedersehen, und ihr mich auch nicht. Und leb wohl Lebensglut, lebt wohl, Erinnerungen."