Donnerstag, 18. April 2024

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Die Stimmen im Kopf

Tanya Lieske: Manchmal kann es schwer sein, heute noch irgendwo Stille zu finden. Und hat man sie doch gefunden, so folgt die nächste Hürde, man muss sie auch noch aushalten können. Denn die Stille kann laut sein, jedenfalls dann, wenn die Gedanken im Kopf Lärm schlagen. So geht es Harold Cleaver, er ist Mitte Fünfzig, und ein äußerst erfolgreicher Journalist. Von einem Tag auf den anderen, Knall auf Fall, verlässt er sein bisheriges Leben. Er verlässt London und sucht die Einsamkeit in den Bergen von Südtirol, über der Lärmgrenze. Tim Parks' Roman ist ein Bewusstseinsroman, und wie in seinen früheren Büchern beschäftigt ihn die Frage: Was verraten die Gedanken über den, der sie denkt?

Moderation: Tanya Lieske | 07.11.2006
    Tim Parks: Mein Roman ist ein Bewusstseinsroman, aber der Körper spielt auch eine große Rolle. Harold Cleaver, der entschieden hat in einer kleinen Berghütte in 2000 Meter Höhe ohne Strom zu leben, macht sich ständig Gedanken um die nächste Mahlzeit, wie er sich warm halten kann, usw. Also, das Bewusstsein, die Welt der Gedanken, und der Körper stehen in ständiger Korrespondenz zueinander. Von Cleaver können wir lernen, dass eine solche Entscheidung, in völliger Abgeschiedenheit zu leben, noch längst nicht bedeutet, dass man seine Gedanken zum schweigen bringt. Sie stehen nicht still. Im Gegenteil, sie melden sich immer lauter zu Wort, wenn er über seine Vergangenheit nachdenkt. Vielleicht kommt er auch zu der Erkenntnis, dass dieser ganze Geräuschpegel in seinem Leben, die Medien, das Fernsehen, ihn auch davon abgehalten hat, über all die Dinge nachzudenken, die ihn jetzt beschäftigen.

    Tanya Lieske: Welche Gedanken kommen ihm, und welche Dinge sind wichtig, jetzt gedacht zu werden?

    Tim Parks: In seinem Job hatte Cleaver viel mit der Politik zu tun, und er musste ständig eine gute Figur machen. Jetzt, wo er alleine ist, interessiert er sich plötzlich nicht mehr für Tony Blair oder die Hungersnot im Sudan. Jetzt tritt sein eigenes Leben in den Vordergrund, seine Frau, seine Kinder, und er zieht Bilanz. Vor allem aber findet ein innerer Kampf statt mit dem eigenen Denken, eigentlich möchte Cleaver ganz aufhören zu denken. Und dann sind da seine neuen Nachbarn. Es ist auch ein Kampf, ihnen zu begegnen, ohne sie zu einem Teil seiner Vergangenheit zu machen, zu den eigenen Verhaltensmustern. Jetzt lebt er da in 2000 Metern Höhe neben dieser Tiroler Bauernfamilie, und ständig stellt er sich vor, wie sie leben, und er vergleicht sie mit seiner eigenen Familie, die er verlassen hat. Und langsam kommt er zu dem Schluss, dass er diesen Menschen ganz anders begegnen muss.

    Tanya Lieske: Sie haben Harold Cleaver dem größtmöglichen Kulturschock ausgesetzt, er muss seine Handys ausstellen, er ist von der Stadt aufs Land gefahren, und vor allem, er versteht kaum die Sprache, die um ihn herum gesprochen wird. Warum war es nötig, ihn diesem Schock auszusetzen, um diese Figur zu entwickeln?

    Tim Parks: Cleaver ist der personifizierte Exzess. Er ist ein großer Mann, ein dicker Mann, er trinkt zu viel, er isst zu viel, er hat zu viele Frauen, und er ist zu eitel, er sieht sich selbst auf allen Kanälen. Und wie in einem Spiel mit den Polaritäten sucht er in diesem Augenblick der Krise das Gegenteil von allem, was er gelebt hat. Für Cleaver besteht die große Herausforderung darin, seinen ganzen Exzessen zu entsagen. Deshalb musste er alles hinter sich lassen, er wollte sehen, was in seinem Kopf passiert. Ich denke, viele von uns haben diesen Traum, ihr Leben so radikal zu verändern. Bei mir ist es jedenfalls so. Übrigens ist es eine falsche Vorstellung, wenn man meint, in den Bergen wäre es still. Da sind lauter Kühe mit bimmelnden Kuhglocken. Man hört den Wind, das Wasser und natürlich die Kettensäge, das ist wahrscheinlich das schrecklichste Geräusch auf der ganzen Welt. Jedenfalls hat Cleaver sich geirrt, was die Stille der Berge angeht.

    Tanya Lieske: Viele der Gedanken, die ihn heimsuchen, haben mit seiner vergangenen Existenz in den Medien zu tun. Er sieht sich selbst ständig in seinem eigenen Film, stellt sich sogar die Schnitte vor. Ich halte Ihren Roman in weiten Teilen auch für eine beißende Kritik an den Medien, und im Kern haben sie dargestellt, dass Angst die Menschen vorantreibt, die in den Medien unterwegs sind. Wie sind Sie zu diesem Schluss gekommen?

    Tim Parks: Man sollte auch beachten, dass das Buch sehr lustig ist. Cleaver ist auch eine sehr attraktive Persönlichkeit. Er ist sehr eitel, und ständig stellt er sich vor, wie er diese Szene jetzt im Fernsehen darstellen würde. Im gleichen Zug schämt er sich dafür, er weiß, wie lächerlich das ist. Wenn jemand an seiner Hütte vorbeikommt, ein Bergsteiger zum Beispiel, dann denkt er sofort, das muss ein Zeitungsreporter sein, der ihn ausfindig machen will. Der ihn nackt fotografieren will, wie er da an seinem Berg steht und duscht. Was die Medien angeht, so wird deutlich, wie sehr sie die Gedanken eines Menschen beherrschen können. Wer in den Medien arbeitet, muss sich so ausdrücken, dass seine Gedanken in begrenzte und genau zugeteilte Zeiteinheiten passen, in einen Soundbite oder in eine Kameraeinstellung. Mit all seiner Eitelkeit, und mit allem Erfolg, findet Cleaver sich mit seinen Gedanken in dieser Tretmühle gefangen.

    Tanya Lieske: Mussten Sie für diese Einsicht recherchieren?

    Tim Parks: Nein, dafür musste ich nicht recherchieren. Wenn man in ein paar Studios war und erlebt hat, wie genau vorgegeben alles ist, kann man sich gut vorstellen, was es bedeutet, wenn man sein ganzes Leben so verbringt.

    Tanya Lieske: In Ihren Romanen spielt auch immer die Familie, und spielen familiäre Bindungen eine ganz besondere Rolle. Und am Ende Ihres Buches kommt es auch zu einer versöhnlichen Begegnung zwischen Harold Cleaver und seinem Sohn. Warum war diese Begegnung wichtig?

    Tim Parks: Alle Geschichten, und vor allem der Roman, erinnern uns daran, wie begrenzt unsere Individualität ist. Wir alle haben diesen Traum, ich zum Beispiel denke, ich bin Tim Parks und entscheide, was ich tue und wer ich bin. Aber dann fängt man an, über seine Familie nachzudenken, und man begreift, wie sehr man in der Beziehung zu anderen Menschen existiert. Sie haben dich zu dem gemacht, der du bist, und du machst sie zu dem, was sie sind. Also, Cleaver, der sich jetzt dieser enormen Herausforderung des Alleinseins stellt, merkt, wie sehr er sich noch mit seiner Partnerin Amanda auseinandersetzt, und natürlich auch mit seinem Sohn, der dieses furchtbare Buch geschrieben hat, in dem er seinen Vater runtermacht und ihn zerstört. In meinem Buch geht es hauptsächlich um die Familie, und ich denke, dass jede gute Geschichte in ihrer Essenz auf die Familie zurückführt.

    Tanya Lieske: Das Buch, das Alex über seinen Vater geschrieben hat, heißt "Im Schatten des Allmächtigen" und ist wirklich eine bittere Abrechnung. Über weite Teile ärgert sich Harold Cleaver auch mächtig. Das Buch läuft fast wie eine zweite Erzählstimme durch Ihren Roman, was verrät diese Stimme uns über Harold Cleaver?

    Tim Parks: Mein Buch kommt wie ein Monolog daher, aber eigentlich findet man darin sehr viele Stimmen. Alle laufen in Cleaver zusammen. Er zitiert ständig aus dem Buch seines Sohnes, obwohl er es nur einmal in großer Eile durchgelesen hat. Also wissen wir gar nicht, ob Cleaver wirklich aus dem Buch zitiert. Und der Sohn hat natürlich die Leiden seiner Kindheit zu Geld gemacht. Das ist eine mögliche Art, sich dem Schreiben zu nähern. Er hat einen Roman aus dem Leben seines Vaters gemacht. Vor allem aber stellt er die Frage, ob es einen Verantwortlichen gibt für den Tod seiner Zwillingsschwester Angela. Für mich als den Autor des Buches haben sich da auch viele Möglichkeiten aufgetan. Wenn meine Frau die Geschichte unseres Lebens erzählen würde, käme etwas ganz anderes heraus, als wenn ich die Geschichte unseres Lebens erzählen würde. Für Cleaver stellt sich das Problem, eine Version seines Lebens zu finden, mit der er zufrieden ist. Es macht ihm überhaupt nichts aus, als Schürzenjäger dargestellt zu werden, aber die Sache mit dem Tod der Tochter und der Verantwortung für die Kinder wiegt schwer.

    Tanya Lieske: Der Tod seiner Tochter Angela stellt sich als Wende- und Kristallisationspunkt in diesem Roman heraus. Und der Tod übernimmt diese Funktion oft in Ihren Romanen, warum?

    Tim Parks: Ich erzähle eine Geschichte. Ich will Cleaver so faszinierend und interessant wie möglich gestalten. Wenn man ihn zum ersten Mal sieht, als Schürzenjäger und Alkoholiker und als eitler Fernsehmoderator, kann man zu einer sehr negativen Einschätzung seiner Person kommen, man kann ihn für einen Clown halten. Aber da ist dieses Pathos in seinem Leben, das verleiht ihm Tiefe. Und man begreift auch, dass er sein Leben in Bezug auf dieses Leid entwickelt hat und auch in Bezug auf seine ganz besondere Beziehung zu seiner Tochter, die war sehr intensiv. Seit dem Tod seiner Tochter steckt er fest. Er ist paralysiert, und versucht auf seine Art, die zärtlichen Gefühle, die er für seine Tochter hatte, bei anderen Frauen zu wiederholen. Das ist auch eine Perversion dieser Gefühle.

    Tanya Lieske: Und das versteht er jetzt zum ersten Mal?

    Tim Parks: Ja, er begreift, dass er in die Berge gefahren ist, um über seine Tochter nachzudenken. Und dann findet er in den Bergen ein Foto von einer Frau, die gestorben ist, die abgestürzt ist, und das gibt ihm die Chance, seinen Gedanken näher zu kommen.

    Tanya Lieske: Vielen Dank für das Gespräch.

    Tim Parks: Stille
    Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Becker
    Antje Kunstmann Verlag, München, 2006
    360 Seiten geb., 22,00 Euro.