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Den Armen geben

Es fällt auf, dass sich immer mehr lateinamerikanische Schriftsteller der jüngeren Generation mit dem Thema Gewalt beschäftigen. Gewalt, die von Sicherheitskräften und Polizei ausgeht, von Drogenkartellen oder Jugendbanden. Die Schauplätze sind zumeist Brasilien oder Kolumbien, El Salvador oder Mexiko. Sie tun dies in Form von Erzählungen, Romanen und Krimis oder aber, wie der argentinische Journalist Cristian Alarcón, in Form einer literarischen Reportage. Für sein Buch "Der Robin Hood von San Fernando" über kriminelle Jugendliche in Buenos Aires wurde Alarcón 2005 in den USA mit dem "Samuel Chavkin-Preis für integeren Journalismus" ausgezeichnet.

Von Wera Reusch | 08.12.2006
    " Auf dem Friedhof von San Fernando, auf dem herrschaftliche Mausoleen beim Eingang und gewöhnliche Nischengräber nebeneinander bestehen, bekam El Frente sein Grab in der ärmsten Abteilung. Hier lagen die Toten, einer wie der andere unter dem ewig gleichen Meer von Kunstblumen. Nur das Grab von Víctor Vital sticht hervor. Es fällt auf wegen der Opfergaben. Gruppen von Kids in exklusiver Sportbekleidung und mit galaktischen Turnschuhen treffen sich, um mit El Frente ihr Marihuana und ein Bier zu teilen. Sie opfern ihm - und erflehen seinen Schutz. "

    Víctor Manuel Vital, genannt El Frente, wurde am 6. Februar 1999 im Alter von 17 Jahren von der Polizei erschossen, nachdem er gemeinsam mit einem Komplizen versucht hatte, eine Möbelfabrik auszurauben. Auf der Flucht vor der Polizei hatte er sich im Haus einer Nachbarin versteckt, wurde jedoch entdeckt. Als die Polizei das Haus stürmte, schrie er: "Nicht schießen, ich ergebe mich!", bevor ihn vier Kopfschüsse trafen. El Frente hatte als 13-Jähriger mit bewaffneten Überfällen begonnen. In den Armenvierteln im Norden von Buenos Aires war er berühmt wegen seiner Kühnheit, vor allem aber, weil er seine Beute an Bedürftige verteilte. Legendär ist die Geschichte, wie er mit seinen Freunden einen Kühltransporter überfiel:

    " Sie luden alles auf von Pferden gezogene Wagen um, mit denen viele aus der Siedlung nachts Altpapier einsammeln, und verteilten es in der Art, wie es in den Siebzigerjahren die Mitglieder der bewaffneten Organisationen gemacht hatten. Die Beute gelangte bis in die Gefängnisse. (...) "El Frente hatte die fixe Idee, dass Kinder Joghurt essen sollen und keine Süßigkeiten", berichtet Matilde. (...) "Damals mit dem Lastwagen war die Siedlung voll von Milchprodukten, Joghurt, Sauermilch und Sachen, die sie vorher nie haben konnten." "

    Cristian Alarcón, Reporter der argentinischen Tageszeitung "Página 12", stieß auf diese Geschichte, als er sich mit Todesschwadronen der Polizei von Buenos Aires befasste. Er besuchte das Viertel, um mehr über den Robin Hood von San Fernando und die Umstände seines Todes zu erfahren. Der Kultstatus, den El Frente bis heute genießt, wurde für Alarcón zum Ausgangspunkt, sich eingehender mit den Jugendbanden zu befassen. Im Laufe seiner über zwei Jahre langen Recherche lernte er zahlreiche so genannte "Pibes Chorros" kennen - Jugendliche, deren Biographien sich zwischen Familie und Erziehungsanstalt, Gefängnis und kriminellen Abenteuern bewegen.

    " Der Hass auf die Polizei ist vielleicht das stärkste verbindende Identitätsmerkmal der Kids, die Überfälle begehen. Es gibt keinen "Pibe Chorro", der nicht irgendwann im Lauf seiner Geschichte von Verlusten und Erniedrigungen einen Kumpel durch die Kugeln der Polizei verloren hätte. Für diese Kids ist der Tod eines Freundes eine Wunde, von der man weiß, dass sie nie heilen wird; mit der man zu leben lernt. Sie wird gehegt und gepflegt, mit irgendeinem Ritual gelindert und durch Erinnerung und Trauer doch immer frisch gehalten. "

    Alarcón lernte nicht nur die Sprache, Symbole und Rituale der Jugendlichen kennen, sondern tauchte auch immer stärker in die Strukturen des verarmten Viertels ein. Er begegnete Müttern und Bräuten, Ex-Ganoven und Komplizen, Dealern und Verrätern. Allmählich erschloss sich ihm ein komplexes System von Überlebensstrategien und ungeschriebenen Gesetzen, in dem Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Alarcóns Methode glich dabei der teilnehmenden Beobachtung, wie sie die Ethnologen pflegen.

    " Ich ertappte mich eines Tages dabei, dass ich versuchte, mich dem Rhythmus der kriminellen Kids anzupassen, indem ich stundenlang an derselben Ecke saß und zusah, wie sie Fußball spielten und einen miesen mittleren Abwehrspieler mit Fußtritten abstraften. Plötzlich fand ich mich in einer anderen Art von Sprache und einem anderen Zeitbegriff wieder, in einer anderen Art des Überlebenskampfes bis zum Tod. Ich lernte das Viertel so gut kennen, dass ich darunter zu leiden begann. "

    In seiner subtilen literarischen Reportage wechselt Alarcón immer wieder die Perspektive. Neben Passagen, in denen der Reporter seine Erlebnisse und Gespräche im Viertel wiedergibt, stehen Kapitel, in denen historische Ereignisse aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers geschildert werden, was ihnen zusätzliche Dramatik verleiht. Alarcón hat ein sicheres Gespür dafür, wo Verständnis zu Anbiederung wird, vorurteilsfreie Darstellung zu Romantisierung. Souverän umgeht er diese Fallen. Bei ihm sind die "Pibes Chorros" weder Helden noch Opfer, ihre Realität ist widersprüchlich, und Alarcón überlässt dem Leser das Urteil. Er versteht sich als Reporter im besten Sinne, der durch seine dichte Darstellung einen Zugang zu einer No-go-Area ermöglicht. Dabei vertraut er auf die Stärke der subjektiven Perspektive. Armutsstatistiken oder soziologische Analysen sucht man in dieser Reportage vergebens. Eher beiläufig wird der politische Kontext der 90er Jahre beschrieben, als Präsident Carlos Menem in Argentinien einen rücksichtslosen Neoliberalismus etablierte.

    " Es sollte nicht mehr lange dauern bis die Jugendlichen fast ohne Umschweife zu bewaffneten Überfällen übergingen, die ihnen genug Geld einbrachten, um auf ihre Art bei der Party mitfeiern zu können, die die begüterten Schichten unter der Regierung der Korruption, der Schiebung und des Diebstahls im großen Stil feierten. "

    Allenfalls an einem Punkt lässt sich Alarcón zu Sentimentalitäten hinreißen, nämlich wenn er der Bande von El Frente eine gewisse Ganoven-Ehre unterstellt, die er in der nachfolgenden Generation vermisst. Mittlerweile richte sich die Gewalt der Banden auch gegen die eigenen Familien und Nachbarn, so das Fazit des Reporters. Als wichtigsten Grund hierfür sieht er die Drogenabhängigkeit der Jugendlichen, die dazu führe, dass alle Hemmschwellen fallen. Für sein zweites Buch hat sich Alarcón deshalb die Dealer vorgenommen. Der mutige Reporter begibt sich damit erneut auf gefährliches Terrain, denn die Dealer sind Schlüsselfiguren innerhalb eines korrupten Systems: Da sie häufig Spitzeldienste leisten, genießen sie den Schutz der Polizei.

    Cristian Alarcón: Der Robin Hood von San Fernando. "El Frente" Vital und die Slum-Kids in Buenos Aires. Aus dem Spanischen von Barbara Gelautz. Rotpunktverlag, Zürich 2006, 215 Seiten, 19,80 Euro.