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Philosophieren im gesprochenen Wort

Heidegger verstehen ist nicht einfach. Was der Quartino-Verlag aus den Schallarchiven süddeutscher Rundfunkanstalten aber zutage gefördert hat, ist Radio in seiner glänzendsten Form und eine verführerische Bildungsveranstaltung.

Von Florian Felix Weyh | 25.06.2009
    Rahner
    "Fast dreißig Jahre sind vergangen, seit ich in Martin Heideggers Seminar und Vorlesungen als sein Schüler war."

    Gadamer
    "Nun, und dieser kleine Mann trat dann aufs Katheder und ... ja wie soll ich das schildern? Das ist ein einzigartiger Eindruck gewesen. Die stärkste geistige Kraft, die mir jemals auf einem deutschen Katheder begegnet ist."

    Heidegger
    "Ich kann nicht physikalisch oder mit physikalischen Methoden sagen, was die Physik ist. Sondern was die Physik ist, kann ich nur denkend, philosophierend sagen. Der Satz 'Die Wissenschaft denkt nicht' ist kein Vorwurf! Sondern ist nur eine Feststellung der inneren Struktur der Wissenschaft."

    Heidegger, Stein des Anstoßes für beinahe jeden Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Um Heidegger kam keiner herum, nicht Theologen wie Karl Rahner, nicht Philosophen wie Hans-Georg Gadamer, beide als Heidegger-Schüler, aber auch nicht Skeptiker wie der strikte Rationalist Max Bense:

    "Die Art des Denkens, wie er darlegt, wie er analytisch vorgeht, die ist gar nicht so sehr verschieden von dem klassischen Begriff des Denkens, von dem klassischen Begriff der Logik. Schließlich macht er ja auch die ordnungsgemäßen Schlüsse! Und er macht schließlich auch sehr selten einen Fehler in diesem ordnungsgemäßen Aufbau der Schlüsse."

    Kann man als außenstehender, nichtakademischer Zeitgenosse begreifen, worum es dem Philosophen bei seinen Denkprozessen ging? Bei Martin Heidegger ist das besonders schwierig, weil es seinem Werk an einer handlichen Kernthese gebricht, während es zugleich eine komplexe Privatsprache entwickelte.

    Eine Annäherung ans Leben und Werk Heideggers ohne jahrelanges Studium lässt sich allerdings durch bloße Hörbereitschaft erzielen. Die wandelt sich schnell in Hörbegeisterung, denn was der Quartino-Verlag aus den Schallarchiven süddeutscher Rundfunkanstalten zutage gefördert hat, ist Radio in seiner glänzendsten Form, nämlich als verführerische Bildungsveranstaltung. Etwa anlässlich von Heideggers "Einführung in die Metaphysik" - die Vorlesungen von 1935 -, als beide Kontrahenten Günther Anders (pro Heidegger) und Max Bense (contra) sich Anfang der 50er-Jahre redlich mühten, im Streitgespräch die Positionen des Philosophen für den Hörer zu erschließen, ohne dabei nur den Sound Heideggers nachzuäffen. Auch die Experten taten sich, dem Hörer zum Trost, nicht leicht mit dieser Aufgabe. Günther Anders:

    "Nun ist freilich die Frage: "Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?" von Heidegger im Laufe seiner Vorlesung nicht nur nicht beantwortet worden, sondern im Grunde genommen nach ein paar Seiten aufgegeben worden, und er beschäftigt sich nur noch mit der dieser Frage angehängten Nebenfrage: Wie steht es um das Seiende?"

    Max Bense:

    "Ich bin der Meinung, dass an solchen Stellen Heidegger besser dichterisch reden würde. Vermutlich würde er dann viel klarer und eindeutiger zu verstehen sein."

    "Mit scheint, dass die Eigentümlichkeit der Heideggerschen Sprache - obwohl natürlich gewisse, sagen wir ruhig Abgeschmacktheiten, Knorrigkeiten, die durchaus im Sinne einer allgemein gewünschten Sprache 1935 waren - dass all solche Dinge bei Heidegger vorkommen. Aber die Sprache hat wesentlich zu tun mit seiner Ontologie selber."

    Darauf grundsätzlich Max Bense:

    "Diese Metaphern, die dann so weit gehen, dass ein substantivischer Stil bei ihm entsteht, dessen Zutreffen oder Nichtzutreffen nur ganz schwer kontrollierbar ist, der berechtigt meiner Auffassung nach von der eigenen sprachlichen Unzulänglichkeit Heideggers zu sprechen. Nicht immer ist der Ausdruck, den er benutzt, seiner Einsicht gewachsen!"

    Schön gesagt und von Generationen an Philosophiestudenten mit Prüfungsschweiß unterschrieben. Nein, ein populärer Aufklärer war Heidegger nie, wie die - übrigens ohne Moderator geführte - Debatte Anders/Bense schlagend demonstriert. Wenn sich aber gelehrte Geister tastend voranbewegen, im spontanen Gespräch Gedanken verfertigen, lernt man mehr über die Differenz zwischen Sein und Seiendem als aus einem abgelesenen Manuskript.

    Das ursprüngliche Philosophieren im gesprochenen Wort ist die herausragende Stärke dieser siebenstündigen CD-Edition, die keine Facette der Causa Heidegger unterschlägt. Da die einzelnen Hörstücke fast 50 Jahre auseinander liegen, erleben wir auch die sich wandelnde Rezeptionsgeschichte im O-Ton. Von der zögerlichen Rehabilitation Anfang der 50er über den wieder selbstbewusst gewordenen Philosophen in den 60ern bis zur Debatte über seine politischen Irrwege im Dritten Reich, wie sie Ende der 80er-Jahre noch einmal von Victor Farias angefacht wurde, ist alles dabei.

    Ja selbst die jüngsten Anknüpfungspunkte Peter Sloterdijks im Gentechnik-Diskurs nimmt die Edition noch mit. Die Hartnäckigkeit, mit der Heidegger auch in späten Lebensjahren seine Naziverstrickungen klein geredet hat, sticht ebenso hervor wie die lebensweltlichen Absonderlichkeiten des Eremiten, etwa die auffallende Kluft seines "existenziellen Anzugs":

    "Da hatte seine Frau eine Reformtracht, die von dem Maler Otto Ubbeloh entwickelt worden war, ausfindig gemacht. Und das war also eine Art Knickerbockers und ein langer, mit Revers versehener brauner Rock mit sichtbaren Knöpfen. Er sah wie ein wohlhabend gewordener Bauer darin aus."

    Sympathisch wird einem Martin Heidegger auch nach intensivem Hörgenuss eher nicht - aber das ist ja auch keine Kategorie seiner Philosophie. Die Bonus-DVD mit zwei Fernsehraritäten aus den frühen 60ern trägt das Ihre dazu bei. Man erlebt einen schwerfällig formulierenden Mann, der auf eher politisch gemeinte Fragen mit philosophischen Allerweltssätzen antwortet. Der Eindruck Hans-Georg Gadamers von der bezwingenden geistigen Kraft will sich angesichts dieser medialen Zeugnisse nicht heraufbeschwören lassen, aber das mag auch dem Medium geschuldet sein - intellektuelles Charisma erobert selten Bildschirme, schon gar nicht in schwarz-weiß.

    "Er nannte das "die freigebende Fürsorge", die Weise, wie er einen versklavte."

    ... merkt Gadamer süffisant an, der sich trotz aller Dankbarkeit zeitlebens einen ironischen Blick auf den Lehrer bewahrte. Was nicht einmal dickleibige Monografien schaffen - Heideggers Gedankenwelt auf einen Schlag transparent zu machen - vermag das Hörbuch natürlich auch nicht zu leisten. Aber man wird auf hohem Niveau unterhalten, ja geistig durchgerüttelt, und versteht, welche Erschütterungen "Sein und Zeit" in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts auslöste: Es war die Radikalität, alle bisher gefundenen existenziellen Antworten anzuzweifeln und erst einmal die Frage nach der richtigen Frage zu stellen:

    "Ich habe gesagt, dass ich die Liebe zur Frage nach der Frage von Martin Heidegger gelernt habe. Ich muss mich verbessern: Ich hoffe, bei ihm etwas davon gelernt zu haben. Denn ich muss das ja auch selbst noch einmal in Frage stellen."

    "Heidegger verstehen"
    Vorträge und Gespräche mit Günter Anders, Max Bense, Hans-Georg
    Gadamer, Karl Rahner, Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk u.v.a.
    5 CD, 1 DVD, Quartino, 430 Minuten