Donnerstag, 18. April 2024

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Der Blick dahinter

Es ist die Kennedy-Ära Anfang der sechziger Jahre. Die Zeit des Wirtschaftswunders. Eine Familienidylle in Zeiten des Friedens und Wohlstands. Doch hinter der Idylle lauert der Tod und hinter der perfekten Familie brüchige Rollenkonstrukte. Die Autorin Ann-Marie MacDonald will mit ihrem über tausendseitigen Roman viel. Sie möchte eine individuelle authentische Geschichte erzählen, die das kollektive Bewusstsein widerspiegelt. Dabei stört es, dass die Dramaturgie auf Effekt angelegt ist.

Von Michaela Schmitz | 20.03.2005
    Am Anfang steht der Tod. Der gewaltsame Tod. Ein Mord, den nur die Krähen sahen. Die Friedlichkeit der Eingangsszene verschärft das Grauen.

    "Tief unten im jungen Gras die weißen Blüten der Maiglöckchen. Es war ein sonniger Tag, Zweigerascheln, erste Frühlingsregen, der Duft von Frühlingserde, April. Der Mord geschah nicht weit von der Stelle, die bei den Kindern Rock Bass hieß. Auf einer Wiese am Rand des Waldes. Ein hellblaues Baumwollkleid. Das sich jetzt nicht mehr regte. Von hoch oben im Baum beäugten die Krähen das Glücksarmband, das an ihrem Handgelenk glitzerte."

    Tod und Gewalt sind schon vor der eigentlichen Geschichte präsent. Eine initiale Verstörung, die den Leser unvorbereitet ins Mark trifft. Die ihn konfrontiert mit der Angst vor der Unerklärbarkeit des Todes und der Unfassbarkeit eines Mordes. Die er nicht vergisst. Und die ihn zum Spurensucher macht. Getrieben von den Fragen: Wer waren Opfer und Täter? Warum geschah der Mord?

    Die Antwort ist eine "herrlich bunte Welt". Technicolor bunt. Es ist die Kennedy-Ära Anfang der sechziger Jahre. Die Zeit des Wirtschaftswunders. Eine Familienidylle in Zeiten des Friedens und wachsenden Wohlstandes. Die McCarthys sind eine kanadische Bilderbuchfamilie: Jack ist Wing Commander bei der Air Force. Seine attraktive Frau Mimi hat ihm zwei reizende Kinder geschenkt: die neunjährige Madeleine und den zwölfjährigen Mike. Alles ist möglich. "Ein Auto genügt und die Welt steht dir offen." Die McCarthys sind unterwegs in ihr neues Zuhause: Der Luftwaffenstützpunkt Centralia in Ontario. Und was sie erwartet, ist eine "herrlich bunte Welt".
    Das perfekte Familienglück als Antwort auf Gewalt und Mord? Das klingt zynisch. Und lenkt den Blick von vorneherein auf die Brüche in der heilen Welt.

    "Hinter der friedlichen Ruhe des Alltags wächst etwas Unberechenbares, etwas, das die Herrschaft des Chaos herbeiführen will."

    Hinter der Idylle lauert der Tod und hinter der perfekten Familie brüchige Rollenkonstrukte. Hinter dem vermeintlichen Frieden steht der Kalte Krieg und die mit der Kuba-Krise virulent werdende nukleare Bedrohung. Hinter der zivilen Raumfahrtmission zum Mond verbergen sich militärische Machtansprüche der Großmächte. Der Krieg ist nur scheinbar überwunden. In Wahrheit hat sich der Kriegsschauplatz nur verlagert. Die Konflikte werden jetzt auf Spionage und Geheimdienstebene ausgetragen. Und später in Vietnam.

    "Es ist, als läge über allem der Tod, wie ein Tuch. Und in den Falten steckt der Geruch. "

    Die Idylle trägt nicht. Die Welt ist aus dem Lot. Der Blick des Lesers verstört. Jedes Detail wird auf seinen möglichen Zusammenhang mit dem Mord überprüft. Jede Einzelheit kann von Bedeutung sein. Alles und jeder ist potenziell verdächtig.
    Aber noch läuft das Leben rund und das Glück der McCarthy’s scheint perfekt. Beinahe ein bisschen zu perfekt. Jack und Mimi lieben sich und begehren sich nach all den Jahren noch immer. Sie wünschen sich ein drittes Kind. Sie sind stolz auf Mike und Madeleine und sie wissen ihr Glück zu schätzen.

    "Sie sind attraktiv, weil sie sich lieben. Er hat funktioniert. Der Traum. Nachkriegsaufschwung, die Kinder, das Auto, all die Sachen, die die Leute angeblich glücklich machen. Das alles hat Jack und Mimi sehr glücklich gemacht. Die "Sachen" selbst sind ihnen völlig schnuppe, und vielleicht ist das ja ihr Geheimnis. Sie sind reich, sie sind sagenhaft reich. Und sie wissen es."

    Und sie sind endlich wieder daheim in Kanada. In Centralia. Einem Luftwaffenstützpunkt am Ende der Welt und paradoxerweise doch im Zentrum der Ereignisse. Klar, die vielen Umzüge machen ein wenig heimatlos, und sie sehnen sich nach den Orten und Freunden, die einige Zeit ihr Zuhause waren. Zuletzt 4Wing in Deutschland. Aber die Familie und all die vertrauten Dinge, die mit ihnen ziehen, bieten ausreichend Geborgenheit. Sie finden leicht neue Freunde. Mimi ist die perfekte Hausfrau und Jack beruflich erfolgreich. Mike spielt Baseball und geht in die siebte Klasse. Madeleine ist in der Vierten und wird bald ihre Flügel bekommen. Dann gehört sie zu den Brownies. Es ist Sommer, die McCarthys feiern ihren Einzug mit einer Grillparty, und sie lernen ihre Nachbarn kennen. Die deutschstämmigen Froelichs mit ihren Zwillings-Babies, der behinderten Elisabeth, Teenie-Schwarm Ricky und der burschikosen Einzelgängerin Colleen, die für Madeleine später zur Huckleberry-Finn-Freundin wird. Die Bouchers mit Tochter Auriel, Familie Ridelle mit Lisa und Kommandant Woodley mit Frau und Tochter Marsha und die amerikanische Familie McCaroll und Tochter Claire. Alles, so scheint es, entwickelt sich nach Plan.

    Aber im Hintergrund wächst die latente Bedrohung. Und um diese langsam, sehr langsam aufzubauen, lässt Autorin Ann-Marie MacDonald sich Zeit. Viel Zeit. Detailversessen beschreibt sie die Umgebung, skizziert Figuren, entwickelt Handlungsfäden, lässt sie ruhen und nimmt sie nach einer genau kalkulierten Pause wieder auf. MacDonald erzählt mit langem epischem Atem. Sie lädt Kapitel um Kapitel schleichend Dinge mit Bedeutung auf, lässt durch bewusste Wiederholungen Strukturen entstehen und Analogien sichtbar werden. Eine erzählerische Herausforderung, die große Disziplin erfordert. Das weiß auch die Erzählerin, wenn sie sich dazu ermahnt:

    "Erzähl die Geschichte, sammle die Ereignisse, wiederhole sie. Muster entstehen dadurch, dass man sie pflegt. Sonst löst sich das Gewebe wieder in seine Fäden auf, aus denen die Vögel Nester bauen. Wiederhol Sie, sonst stürzt die Geschichte ins Nichts und es geht ihr wie Humpty Dumpty in Alice hinter den Spiegeln, den keiner mehr zurück auf die Mauer bringt. Wiederhol sie, und paß gut auf die einzelnen Teile auf, sonst rollen die Ereignisse in alle Richtungen davon wie Murmeln auf einem Holzboden. "

    Im Zentrum der Geschichte steht Madeleine, ein bezauberndes eigenwilliges Mädchen, wie Alice im Wunderland auf der Entdeckungsreise in die eigene Pubertät und mit dem Hang zu überbordender Phantasie. Madeleine steht offensichtlich in Alices Nachfolge: Sie ist faszinierend naiv und immer staunend, dabei mädchenhaft trotzig. Mit der Anspielung auf Alice im Wunderland wird eine entsprechende mythologische Tiefendimension und psychoanalytische Deutungsfolie heraufbeschworen. Gemäß dem literarischen Vorbild scheint beinahe jedes Detail symbolisch aufgeladen. Und immer nachdrücklicher wird evoziert, dass sie selbst das Mordopfer sein könnte. Denn Madeleine wird in der Schule missbraucht. Von ihrem Lehrer Mr. March – auch sein Name ist eine Anspielung auf den verrückten Märzhasen aus Alice im Wunderland. Wie einige andere Mädchen behält er sie nach drei Uhr noch da, um mit so genannten Turnübungen ihre angeblich mangelnde Konzentration zu verbessern. Madeleines Reaktion ist fatal. Sie fühlt sich schuldig. Und schweigt.

    Und ihre Angst wächst. Die Angst vor schulischem Versagen, vor der Enttäuschung der Eltern, vor dem Nach-drei-Turnen. Und sie verknüpft ihre Angst mit der Furcht vor der atomaren Bedrohung, die plötzlich durch die Kuba-Krise, so weit weg und doch so nah, für alle omnipräsent wird.

    "Von einem Tag auf den anderen hat die Welt sich verändert. Das Normale wirkt auf einmal kostbar. Der Angriff einer fremden Nation auf nordamerikanischem Boden ... Nichts wäre mehr wie zuvor. Wir werden fünfzehn bis achtzehn Minuten Zeit haben, uns zu verstecken. Wo? Der Dritte Weltkrieg wird nicht nur der letzte Krieg, sondern das Ende von allem sein."

    Alle sind betroffen. Die ganze Welt. Das globale Dorf. Das Militär wird in Alarmbereitschaft versetzt. Die Krise stellt eine ernste Verschiebung des Machtgleichgewichts dar und die erste unmittelbare Konfrontation zwischen den Supermächten. Es könnte zum Krieg kommen.

    Etwas ist ins Rutschen geraten. Die Normalität wird zur Ausnahmesituation, der Ausnahmezustand gehört zum Alltag. Normal bedeutet, dass alle binnen Stunden ausgelöscht werden könnten. Auch Mimi und Jacks Glück gerät ins Wanken.

    Und da ist noch etwas, das Jack in Unruhe versetzt. Er hat von seinem alten Freund Simon einen Auftrag angenommen. Ein Freundschaftsdienst für seinen Fluglehrer, der ihm einmal das Leben gerettet hat. Es handelt sich um eine Geheimdienst-Mission. Ein Wissenschaftler will von der Sowjetunion auf die andere Seite überwechseln. Jack soll den Überläufer, einen Physiker, der am Bau der Rakete für die bemannte Raumfahrt zum Mond mitarbeiten soll, empfangen und ihn betreuen. Der amerikanische Kollege McCaroll, ohne sein Wissen von der Mission nach Centralia versetzt, soll ihn über die Grenze schaffen. Aber der deutsche Wissenschaftler Oskar Fried hat eine schmutzige NS-Vergangenheit. Jacks Nachbar Henry Froelich hat ihn wiederkannt. Froelich, aus Deutschland emigrierter Jude und Physiker, wurde unter den Nationalsozialisten gezwungen, beim Projekt "Dora" unter Tage an der Entwicklung der V2-Rakete mitzuarbeiten. Oskar Fried ist ein Kriegsverbrecher. Der kleine Freundschaftsdienst für Simon wächst sich für Jack zum massiven Gewissenskonflikt aus und stellt ihn vor die Frage: Ist diese Mission zur Sicherung der westlichen Weltraum-Vorherrschaft imes wert?

    "In dem Wort "erzählen" steckt auch das Wort "zählen". Selbst ein Buchprüfer befaßt sich mit Erzähltem, und der Erzähler ist eine Art Buchprüfer. Beide liefern sie einen Bericht über Ereignisse und das, was sie gekostet haben, und der Zuhörer muss entscheiden – war es das wert?
    Vom Preis für die Raketen erzählt der Bericht darüber, wie sie entstanden, nicht einfach der über ihren Flug zum Mond.
    Die Beweise zeigen, dass die Rakete von Cape Canaveral abgeschossen wurde, aber die Geschichte erzählt uns, dass sie dort abgefeuert wurde, wo man sie schmiedete, tief unten in der Erde – dass sie eine riesige Grotte erhellte, deren Decke sich im Dunkel verlor und deren Boden übersät war mit Knochen und Rost, verbunden durch ein Rückgrat aus Gleisen. Und dass sie, als sie sauber und weiß emporstieg, um die Mündung der Berghöhle zu durchbrechen und den weiten Weg bis zum Mond zu fliegen, eine Spur aus Flammen und Blut und Dreck hinter sich herzog. Wir sollten glauben, dass alles erst mit der NASA begann. Aber es begann mit den Nazis. Wir wussten es, erinnerten uns noch halb daran, aber es stand viel auf dem Spiel, und wir verdrängten es aus unseren Köpfen."

    Jack entscheidet sich gegen sein Gewissen und für die Loyalität. Für Simon. Für einen Mosaikstein zum Erhalt der militärischen Vormachtstellung des Westens. Für den Frieden.

    Aber er lädt noch eine weitere, vielleicht noch weit größere Schuld auf sich, indem er schweigt. Denn durch sein Schweigen trägt er die Mitschuld daran, dass der Nachbarjunge Ricky unschuldig zum Tode verurteilt wird. Für den Mord an einem kleinen Mädchen. Der elfenhaften Claire McCaroll, die mit ihrem hellblauen Kleid und der Unterhose über dem Gesicht am Waldrand aufgefunden wurde. Verschwunden, missbraucht und getötet – ausgerechnet in den symbolträchtigen Ostertagen. Claire, Madeleines Schulkameradin und Nachfolgerin beim Nach-drei-Uhr-Turnen. Die zauberhafte Tochter des zynischerweise nur für die Geheimdienstmission nach Centralia versetzten Amerikaners. Während Jack schweigt, entschließt sich Henry Froelich dazu, die Wahrheit über den Kriegsverbrecher Oskar Fried auszusagen. Was ihn wahrscheinlich das Leben kostet. Denn er verschwindet spurlos.
    Spätestens jetzt, wo Tod und Unheil vom Beginn die Geschichte eingeholt haben und alle Handlungsstränge in einem gigantischen Plot kulminieren, wird klar: Alles ist miteinander verknüpft. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, und das Persönliche ist das Politische. Die Ereignisse in Centralia wirken in einem "Schmetterlings-Effekt" auf das globale Geschehen und umgekehrt. Und diese Zusammenhänge macht Ann-Marie MacDonald nicht nur logisch transparent, sondern auf bedrückende Weise durch diese Geschichte für den Leser emotional erfahrbar.

    Die Erzählung hat die Funktion einer Zeugenschaft. Eine Zeugenschaft, die MacDonald in Teil drei des Buchs "Die Gnade der Königin", eine deutliche Anlehnung an "Alice als Zeugin" in "Alice im Wunderland", symbolisch verdichtet. Die Erzählung verknüpft Erinnerungen mit Erlebnissen der Gegenwart und deutet in die Zukunft. Sie schafft Verbindungen über Räume hinweg. Sie entwirft allererst Strukturen und ist die Voraussetzung für Identität.

    "Eine Geschichte. Deine oder eine ähnliche, in der du dich wie in einem Tümpel wiedererkennen kannst. Erinnerungen. Durchwachsen und vielfältig, zusammengeklappt, wieder und wieder gefaltet für den Transport. Eine Geschichte, das sind tragbar gemachte Erinnerungen. Deine Erinnerungen oder viele ähnliche. Eine Erinnerung führt zur anderen. Soviel bleibt. Ein Zeuge. Sprich."

    Die Erzählung hat für MacDonald die Aufgabe der persönlichen und kollektiven Selbstfindung. Die Geschichte will und muss also erzählt werden, denn ...

    ".. Wenn Geschichten nicht erzählt werden, laufen wir Gefahr, uns zu verirren. Die Zeit zerbirst, und obwohl wir uns Mühe geben, den Splittern zu folgen, wie einer Kieselsteinspur im Wald, kommen wir weiter und weiter vom Weg ab. Wir verlieren unsere Erinnerung. Das kann Menschen krank machen. Das kann eine Welt krank machen."

    Folgerichtig kann und darf mit der Verurteilung Rickys, dem Verschwinden von Oskar Fried und Henry Froelich für MacDonald die Geschichte nicht zu Ende sein. Erst im Rückblick kann in einer Fortführung der Erzählung die Aufarbeitung der Ereignisse erfolgen. Und zwar ganz im psychoanalytischen Sinn, denn MacDonalds Arbeit wurde von ihrem Interesse für die Archetypen der Psychologie C.G. Jungs beeinflusst. Die Autorin nennt als ein Grund für das von ihr bevorzugte Thema Kindesmissbrauch, es rühre an tiefe, sehr archetypische Geschichten. Zur notwendigen Individuation gehört nach C.G. Jung die aktive Auseinandersetzung mit diesen archetypischen Komplexen und die Integration der verdrängten Schatten des Unterbewusstseins ins Bewusstsein.

    "Wir alle müssen gelegentlich unter den Stein sehen. Wir alle haben Angst vor der Dunkelheit und fühlen uns von ihr angezogen, weil wir wissen, dass wir dort etwas zurückgelassen haben, direkt hinter uns. Hin und wieder spüren wir es, aber wir haben Angst, uns umzudrehen, weil wir etwas erblicken könnten, nach dem wir uns sehnen. Unser eigener Schatten jagt uns Angst ein."

    Beinahe lehrbuchhaft erfolgt dann auch die Aufarbeitung von Madeleines Missbrauchserfahrung. Als klassisches Trauma führt es bei Madeleine zu einer Ich-Dissoziation. Wie in "Alice hinter den Spiegeln" flüchtet Madeleine als Überlebensstrategie "hinter den Spiegel" in eine Phantasiewelt. Sie institutionalisiert ihr Fluchtverhalten im Beruf. Als Komikerin wird sie ausgerechnet mit der Phantasiefigur Maurice, eine Parodie auf Mr. March, und der regelmäßigen Fernsehcomedy TV-Nach-Drei bekannt. Aber weder dort, noch in ihrer lesbischen Beziehung findet sie zu ihrem Selbst. Sie leidet unter zunehmender Depersonalisation und Wirklichkeitsverlust.

    "Irgend etwas war zurückgewichen, wie eine durchsichtige Wand. Das, was es möglich macht, dass wir uns über die Dinge der Welt einig sind. Das, was ein Ding zu einem Ding macht. Sie sah alles getrennt, Stück für Stück. Sie verstand nicht mehr, warum irgendwas irgendwo war. Sie sah, was hinter allem war – nichts. "

    Die Ich-Dissoziation ist Madeleines Preis für die Verdrängung ihres Schattens. Bruder Mike meldet sich freiwillig zum Einsatz im Vietnam, von wo er nie wieder zurückkommt. Mutter Mimi kann den Verlust nicht verkraften. Und Vater Jack wird zum Mann ohne Schatten. Er zahlt mit akuter Herzschwäche und frühem Tod. Nur Madeleine beginnt mit einer Therapie und der aktiven Aufarbeitung. Sie begibt sich auf eine mutige Spurensuche, steigt tief in ihre unbewältigte Vergangenheit, recherchiert in den Prozessakten und sucht nach den verlorenen Puzzlestücken ihrer Kindheit, konfrontiert sich mit der kindlichen Missbrauchserfahrung, findet den mittlerweile begnadigten Ricky und Colleen und rekonstruiert den Mordfall. Wobei sie, gleichsam "hinter den Spiegeln", auf ein überraschendes, völlig unerwartetes Ergebnis stößt. Und dabei den Weg zu sich selbst findet.

    "Das Gras ist voller vernachlässigter Dinge, die aus dem Raum ganz oben in ihrem Kopf ausgebrochen sind. Überall findet sie Bruchstücke. Es ist ein Rätsel, wie sie sich so lange unversehrt erhalten konnten. Bis sie gefunden wurden, diese zerbrechlichen Dinge, zart wie Schmetterlingsflügel, vergänglich wie die Kindheit, federleicht wie der Flaum von Löwenzahn und Rohrkolben.
    Es ist, als hätte sie die magischen Worte entdeckt, die diese Dinge zum Leuchten bringen, so dass man sie finden kann. Doch die Worte sind nicht magisch, sondern bloß Worte. Kein Zauberspruch, aber sie müssen ausgesprochen werden."

    Die Autorin Ann-Marie MacDonald will mit ihrem über tausendseitigen Roman viel. Sehr viel. Vielleicht zu viel. Ihr Anspruch ist enorm hoch. Ann-Marie MacDonald möchte Strukturen schaffen, Analogien finden und Zusammenhänge stiften. Sie möchte eine individuelle authentische Geschichte erzählen, die das kollektive Bewusstsein widerspiegelt. Zwar gelingt es ihr in den über tausend Seiten auf bewundernswerte Weise, die mannigfaltigen Handlungsstränge und Themen zu bändigen und in einem gigantischen Plot zu kanalisieren – schließlich ist sie über das Drehbuch zum Roman gekommen. Aber letztlich wirkt die komplexe Handlungsführung und ihre abenteuerliche Verknüpfung konstruiert, die Dramaturgie auf Effekt angelegt, die epische Prosa langatmig und die historischen Details und politischen Diskussionen angestrengt. Die psychoanalytischen Figurenskizzen erscheinen lehrbuchhaft, die philosophisch-poetologischen Reflexionen gewollt und die poetischen Szenenbeschreibungen zu weit verstreut, um über tausend Seiten lang tragen zu können. Schade. Es hätte ein großer Wurf werden können.