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Memento Mori

Im vergangenen Jahr zeichnete sich in den USA eine Grundsatzdebatte über die Verfassung der heimischen Literatur und ihrer Wahrnehmung ab. Als bekannt wurde, dass der international erfolgreiche Horrorautor Stephen King den National Book Award für sein Lebenswerk erhalten sollte, meldete sich der zumindest in akademischen Kreisen nicht weniger berühmte Literaturwissenschaftler und Gelegenheitskritiker Harold Bloom zu Wort und beschimpfte mit der Preisjury auch gleich die gesamte literarische Kultur, die wohl nicht mehr zu unterscheiden wisse zwischen höherer, sprich richtiger, an der Tradition orientierter Literatur und der populären Unterhaltung für den Massengeschmack. Worauf Stephen King bei der Preisverleihung replizierte, indem er einmal mehr die gleichberechtigte Anerkennung von sogenannter Genreliteraur forderte.

Hubert Winkels | 15.02.2004
    Bemerkenswert, dass solche Töne noch so viel öffentlichen Widerhall finden, dachte man doch, dass im Mekka der Popkultur die Schlacht längst geschlagen wäre, spätestens seit den Beatniks in den Fünfzigern und akademisch seit ihrer Nach-Vorne Verteidigung durch den Essay Cross the border, close the gap! aus der frühen postmodernen Feder von Leslie A. Fiedler.

    Überquert die Grenze, schließt den Graben! - Wenn man mit diesem leicht verblassten Schlachtruf von 1968 - sozusagen das amerikanische Gegenstück zu "Die Phantasie an die Macht" der europäischen Studenten - wenn man mit dieser regulativen Idee die Literatur der Generation danach, derjenigen also, die man bei uns gelegentlich die 78er nennt, durchmustert, stößt man auf einige Beispiele gelungener Grenzüberquerung. Doch fast immer darf diskutiert werden, wohin sich die Schale neigt, nur in wenigen Fällen haben wir vollendete Exemplare einer solchen kulturellen Hybridbildung vor uns, die dann auch die Unterscheidung selbst vergessen machen. Eines davon, auf Dauer und in der Fülle des Werkes vielleicht das überzeugendste Beispiel für die Verschmelzung der Kulturen, bildet die Literatur des 1961 in Pittsburgh geborenen Erzählers Stewart O´Nan. Kaum zu glauben, dass der heute in Avon, Connecticut lebende Familienvater O´Nan seinen ersten Roman erst vor gut zehn Jahren veröffentlicht hat: Engel im Schnee, eine Provinzgeschichte, die vom Mord eines verzweifelten Ehemanns an seiner Frau erzählt. Introspektiv, stark dialogisch, alltagsnah - in ergreifendem Rhythmus erzählt.

    Die nächsten beiden Romane entzerren die Qualitäten: In The names of the dead , auf deutsch eher unglücklich: Die Armee der Superhelden ist die Innenwahrnehmung vorherrschend, bei einem Vietnam-Heimkehrer, der von seinen Kriegserlebnissen verfolgt wird. Und im folgenden Roman Speed-Queen ist der schon der Titel Programm: Es handelt sich um eine rasend erzählte Fahrt in den Abgrund, um Morde aus dem Fahrzeug, um Liebeswahn, hard-rock, junk food und endlos weite westliche Horizonte - rasend erzählt von einer Stillgestellten, einer zum Tode verurteilten Mörderin, die sich in ihrer Lebensbeichte an: Stephen King richtet - ausgerechnet. Er hatte - King-Fan Stewart O´Nan wollte es so - die Verurteilte um Beantwortung seiner Fragen gebeten.

    Die Speed Queen ist eine verschärfte Satire, ein literarisches road movie, wie man gerne sagt, ein drive-through Roman, wie ich lieber sagen würde, man schnallt sich zwischendurch im Lesesessel an. Zweifellos ist O´Nan hier der Pop-Kultur am nächsten.

    Doch er kann auch ganz anders, historisch, bedachtsam, in langsamer Entfaltung seine Figurengruppen, Milieus und Motive offenbarend. So in Der Sommer der Züge einem Roman, der während des zweiten Weltkriegs an der amerikanischen Heimatfront auf long island spielt; mit stark dokumentarischem Einschlag im Roman A prayer for the dying, der vom Ausbruch einer Seuche während des amerikanischen Bürgerkriegs erzählt; und in Der Zirkusbrand, der die tatsächlichen Berichte eines historischen Brandes betont sachlich verarbeitet.

    An diesem Punkt haben wir immer noch vier Bücher von Stewart O´Nan gar nicht erwähnt. Einen Geschichtenband und drei weitere Romane. Aber es ist schon offensichtlich, dass dieser Schriftsteller immens, ja geradezu unwahrscheinlich fleißig ist, dass seine Themen vielfältig und seine Schreibweisen sehr unterschiedlich sind. Kein Roman ist missglückt, man muss sie nach Vorlieben und persönlichen Zugängen auswählen. Und wichtig zu bemerken bei dieser Fülle: Mittelmäßig sind seine Romane nie, dazu wagt O´Nan zu viel.

    Er wagt viel: Versuchen wir das an den zwei zuletzt auf deutsch erschienen Romanen Ganz alltägliche Leute und Halloween zu zeigen, die seltsamerweise fast gleichzeitig, nämlich im Abstand von zwei Monaten, im Rowohlt Verlag erschienen sind. Und noch zwei Seltsamkeiten des Verlages seien erwähnt: Der Roman Ganz alltägliche Leute erscheint in der Paperback Reihe des Verlages, wird also als eine Art gehobenes Taschenbuch verkauft, Halloween hingegen als Hard Cover im Hauptprogramm. Den Grund dafür kann man nur vermuten, und er hängt wohl mit der zweiten Seltsamkeit zusammen: Der Roman Ganz alltägliche Leute spielt in einem heruntergekommenen schwarzen Stadtteil von Pittsburgh, seine Helden sind allesamt Afroamerikaner, und er reflektiert eindringlich deren Alltag und Kultur. Da mutet es schon befremdlich an, dass auf dem Titelbild ein weißer Jugendlicher mit Nietengürtel abgebildet ist.

    Tatsächlich macht der white anglosaxon protestant O´Nan kein großes Aufhebens um die Tatsache, dass er sich in das afroamerikanische Milieu einfühlt, man kann es manchmal, wenn man den Figuren, wie meist bei O´Nan, sehr nahe kommt, sogar einmal vergessen. Doch ist die ethnische und soziale Disposition vom ersten Satz an klar. Der schwarze Kongressabgeordnete Martin Robinson hat, mehr aus Not, weil größere soziale Projekte aus finanziellen Gründen gestrichen wurden, dafür gesorgt, dass eine neue Fahrbahn für Busse entlang des schwarzen Stadtteils gebaut wurde. Nun stellt sich heraus, dass diese Fahrbahn den Stadtteil isoliert, dass viele Geschäfte aufgeben müssen, dass Verwahrlosung und Gewalt eher zunehmen.

    Auf einer neuen Brücke über die Busspur versuchen die jugendlichen Freunde Crest und Bean Zeichen ihres Lebens, ihrer Freunde, ihrer Gruppe anzubringen. Beim Sprayen der Graffitis, beim sogenannten Taggen, stürzt Bean in die Tiefe und zieht Crest, der ihn halten will, mit hinunter. Bean ist tot, Crest querschnittsgelähmt. Er sitzt im Rollstuhl, und der Roman entfaltet nun das ganze Figurenpanorama rund um den schwerbehinderten, den toten Freund betrauernden Crest.

    Da ist seine hübsche Freundin Vanessa, die von Crest ein Kind hat, das sie tagsüber in Obhut einer fremden Großmutter gibt, um neben der Arbeit in einem Diner noch das College zu besuchen, wo sie sich mit der Literatur des schwarzen Widerstandes beschäftigt. Da ist Crests Mutter, die in einem Unfallkrankenhaus arbeitet und ihren Mann, Crests Vater, des Fremdgehens bezichtigt. Dieser wiederum hat seine Liebe zu Männern entdeckt, verlässt aber seinen jüngeren Liebhaber, um seiner Frau nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen. Lieber gesteht er einen Seitensprung als seine schwule Neigung. Crests Bruder saß lange wegen eines schweren Gewaltdelikts im Gefängnis, ist vor kurzem entlassen worden und versucht sich als religiös geläuterter Prediger und Sozialarbeiter. Und das ist nur der engste Familienkreis rund um den beschädigten Crest. O´Nan erzählt in knapp zwei Dutzend Kapiteln die Geschichte etlicher weiterer Personen, die alle zum selben Bezugssystem gehören - bis hin zum Kongressabgeordeten Martin Robinson, dessen Tod in der Dienstlimousine wir miterleben. Am Ende steht die Einweihung der Busspur und an jener Brücke des Schmerzes ein großes Graffito von Crest, in dem er all die Toten festhält, die er kannte und liebte, eingereiht in eine Galerie der berühmten Afroamerikaner, die ihm lieb und teuer sind, von Charlie Parker bis Muhammad Ali.

    Mit diesem Bild an der Brücke über der trennenden Busspur haben wir das Zentralmotiv des Romans und vielleicht das zentrale Motiv aller Romane von Stewart O´Nan: Die Trauer um die Toten, den Umgang, die Kommunikation mit den Toten. Wie die Toten die Lebendigen heimsuchen - dieses Grundmotiv beinhaltet auch ein zentrales poetologisches Element Stewart O´Nans: dass Literatur nämlich eine besondere Art der Totenerinnerung ist und damit eben auch Gedächtnis und wesentlicher Teil der menschlichen Geschichte.

    O´Nans Held Crest liegt die historische oder anthropologische Reflexion denkbar fern. Er vollzieht sie in seiner Grafftiti-Kunst, wie alle O´Nan Helden Schuld, Erinnerung und Totengedenken in actu, oder sagen wir es amerikanisch: in action ausdrücken.

    Wie um uns dieses Motiv und dieses Verfahren auf einem literarischen Silbertablett zu servieren, organisiert O´Nan in seinem neuesten Roman Halloween die gesamte Handlung real wie symbolisch direkt um eine populäre Abart des Totengedenkens, um das Zombiefasching Halloween eben.

    Eigentlich seltsam, dass die Marketingabteilung des Rowohltverlages ein solches Halloween-Buch nicht im Herbstprogramm platzieren konnte. Denn das aus den USA reimportierte heidnische Fest der umgehenden Toten wird inzwischen mit viel Kürbislametta und orange-schwarzem Mummenschanz auch hierzulande groß inszeniert. Das christliche Allerseeelen hat sich längst zwischen gebeugten alten Menschen auf abgelegenen Dorffriedhöfen versteckt, dafür grimassieren in den Kinderzimmern und -gärten, bei Colaparties und ersten durchgemachten Nächten, die Horrorfiguren aus Film und Fernsehen umso dreister. Ein Licht-, Kostüm- und Konsumspektakel erster Güte, in dem zelebriert wird, wie auch die Totenerinnerung in die besinnungslose Feier des Augenblicks überführt werden kann. Eine bunte und laute Travestie, in der die schrillen Typen die leisen Toten überstimmen.

    Das ist das eine. Das andere ist die Sterblichkeit der Menschen, dass sie Leid empfinden, mit Verlust und Schuld nicht fertig werden, dass sie daraus Deutung und Wahn generieren, und diese ihre Verfassung sich zu allen Zeiten und unter allen Umständen offenbart. Auch in der komischen Halloweennacht. Dies zu zeigen ist Stewart O´Nan angetreten. Ein schwerer literarischer Gang, denn er bedient die kommune Gespenster- und Gruselerwartung, beschwört das eingespielte Fun- und Horrorspektakel herauf, und zugleich fordert er stärkste Empathie für seine schwer, bis zur Lebensunfähigkeit traumatisierten Figuren. Seine Helden waren Täter, Zeugen und Opfer eines grausamen Verkehrsunfalls, der sich vor genau einem Jahr zu Halloween in einer amerikanischen Kleinstadt ereignet hat. Und exakt ein Jahr später gesellen sie sich willentlich oder nicht zu ihren teuren Toten, nach denen sie rufen oder die sie rufen - wer weiß schon, was die Toten wollen?

    Zu den zentralen Figuren gehört der ausgebrannte Verkehrspolizist Brooks, der vor einem Jahr mit Blaulicht hinter dem ´alten camry´, dem Wagen mit den fünf Jugendlichen, hergerast ist, der bei der Verfolgung gegen einen Baum raste, drei Tote ausspuckte, einen geistig und körperlich völlig Verkrüppelten und den Überlebenden Tim. Brooks ist von Schuldgefühlen ausgehöhlt, seine Frau hat ihn deswegen verlassen, er versieht seinen Dienst mehr schlecht als recht und lebt nur noch auf die kommenden, die jetzt erzählte Halloweennacht hin. Warum? Wegen der Schuldgefühle, die nach Wiederholung, nach erneutem Eintauchen in die Szene des Schmerzes verlangen. Oder wegen Tim, dem überlebenden Jungen? Und Kyle, seinem völlig entstellten Kumpel?

    Tim gehört eine Reihe weiterer Kapitel im Roman. Er hat Abschied genommen von seinem normalen Leben, ohne dass es in seiner Umgebung bemerkt würde. Die Nähe zu seinen toten Freunden, besonders zu seiner Freundin Danielle, die auf seinem Schoß saß in der Nacht, hat sein Leben sinnlos und leer gemacht. ´Wirklich´ kommuniziert er nur noch mit den Toten, und die intensivste Kommunikation ist es, sich zu Ihnen zu gesellen. Brooks, der Aufpasser des Städtchens ahnt das, weil es ihm ähnlich geht. Er passt auf Tim auf, er verfolgt ihn, besonders an diesem Jahrestag. Ihn und Kyle, der völlig Entstellte und Blöde, den wir vor allen aus der Perspektive seiner in stiller Verzweiflung sorgenden Mutter kennen lernen. Kyle wird von Tim täglich im Auto mitgenommen zu einfachsten Arbeiten in einem Supermarkt. Und auch in dieser Nacht der Nächte nimmt Tim Kyle mit...

    Alles läuft auf diese Fahrt in die Mitternacht zu, in der geschehen ist, was die überlebenden Beteiligten nicht ertragen. Sie sind besessen von der Erinnerung, sie starren auf Fotos, rekonstruieren Zeitabläufe, prägen sich Spuren, Zeichnungen und Diagramme ein. Sie kommen nicht runter von diesem Trip aus Schuld und sinnlosem Überleben. Rasch wird beim Lesen klar, dass von den drei verzahnten psychologischen Modellen der Traumabewältigung: Erinnern, Durcharbeiten und Wiederholen, die dritte die entscheidende Option ist. Sie trägt die Spannungsstruktur des Romans, der dadurch eben auch zu einem Horrorromans wird. Am Ende funktioniert es wie im Traum: Alles läuft auf die erneute Katastrophe zu, man weiß es, man will es verhindern, etwas in einem will eben das nicht, und mit der Konvulsion in action endet das Schuld-Begehren.

    Vierundzwanzig Stunden in der Kleinstadt Avon, Connecticut, wo Stewart O´Nan mit seiner Familie wohnt, werden erzählt. Halloween rund um die Uhr. Wir erfahren viel von Siedlungen, Straßen und Straßenrändern, von Auffahrten und Parkplätzen, naturgemäß das meiste vom Auto aus. Halloween ist eigentlich ein drive-through-Roman, wie schon 0´Nans Speed Queen. Ja, das alles, der ganze Horror, das schlimme Schicksal mag auch von den fehlenden Bürgersteigen kommen. Das jedenfalls liegt näher, als über Sinnlosigkeit, Nihilismus und Jugendwahn in den USA zu jammern. Nein, unerbittlich, sinn- und grundlos ist das Geschick, zumindest in der Perspektive der Beteiligten. Und über die geht der Autor in allen seinen Roman nicht hinaus, nicht explizit. Das macht sie alltagsnah, detailgesättigt, dicht und in ihrer short-storyhaften Verkürzungen mitreißend.

    Nur mit den Erzählern treibt er es oft wild. In Speed Queen spricht die Heldin zu Stephen King, in Das Glück der Anderen wird der Held mit du angesprochen, in Halloween nun, dies der Clou, sprechen die Toten. Meist der stille Marco, der gelegentlich auch ´wir´ sagt. Ein kluger Kunstgriff, den man allerdings nicht zu intensiv befragen darf. Manchmal fungieren die Toten wie ein allwissender Erzähler, manchmal reden sie launisch-sarkastisch: denn sie sehen und verstehen vieles, können aber nichts bewegen, nicht direkt eingreifen ins weltliche Geschehen. Sie sind als Geister unterwegs, Teenager-Erinnyen, immer bei dem, der ihrer gedenkt. Das begründet erzähltechnisch ganz wunderbar die enge Handlungsführung und die Konzentration auf im Grunde ein einziges Motiv. Trauer und Schuld sind die Medien der Kommunikation mit den Toten, die Medien der Erinnerung also. Sie erlischt, wenn sich die Toten die Lebenden holen.

    Stewart O´Nan spielt diese Anordnung in seinem Horror- und drive-through-Roman virtuos und spannungsreich durch. Er evoziert wie ein antiker Dramatiker unsere Empfindungen Furcht und Mitleid. Gibt es Gründe, den grandiosen Vielschreiber dafür nicht zu bewundern? Nehmen wir ihm etwa das schrille Halloween-setting übel? Dass er mit Entsetzen Scherz treibt? Dass er von der gothic novel bis zur Halloween-Klamotte alles schamlos herbeizitiert, um seinen Roman populärmythologisch zu rahmen? Sind wir umgekehrt bereit, unsere Empathie mit den vom Schicksal Geschlagenen in den Pappmascheekulissen kulturell approbierter Geisterbahnen auszuleben? - Seien wir nicht so streng mit uns Zuschauern des Unglücks! O´Nans Geisterbahn fährt auf einem schmalen Grat zwischen Kitschstaffage und wahrhaftiger Katastrophe. Ob und wie ihm das gelingt, ist das eigentlich Spannende. Außerdem ist der Roman Allerseelen auch schon geschrieben, von einem europäischen, einem ganz andersartigen Könner.

    Stewart O´Nan, "Ganz alltägliche Leute", Coverausschnitt
    Rowohlt, 320 S., EUR 12,-

    Halloween
    Rowohlt, 256 S., EUR 19,90