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Menasse: Deutsche Kritik an Israel ist legitim

Die deutsche Politik, "die Israel in den letzten Jahrzehnten gut gesinnt war, soll kritisieren, wenn es etwas zu kritisieren gibt, weil jedes Land braucht Kritik von außen", sagt Peter Menasse. Der Wiener Publizist fordert die Juden auf, ihre Opferrolle aufzugeben. Das bedeute aber nicht, das Gedenken an den Holocaust "wegzudefinieren".

Peter Menasse im Gespräch mit Friedbert Meurer | 05.12.2012
    Friedbert Meurer: Heute Abend also wird der israelische Ministerpräsident Netanjahu Gast sein im Kanzleramt in Berlin. Angela Merkel gilt als eine der engsten Verbündeten Israels, aber gerade erst hat sie das Vorhaben Netanjahus für ihre Verhältnisse ungewohnt deutlich durch ihren Sprecher kritisieren lassen. 3000 Wohnungen im Westjordanland sollen neu gebaut werden. Hinzu kommt, dass Berlin sich in der UNO-Vollversammlung der Stimme enthalten hatte, als über die Aufwertung Palästinas zum Beobachterstaat abgestimmt wurde. In Israel hatte man wohl gehofft, Deutschland werde diesen Antrag der Palästinenser ablehnen, statt sich dann der Stimme zu enthalten.

    Peter Menasse ist jüdischer Publizist in Wien, dort ist er Chefredakteur der jüdischen Vierteljahreszeitschrift "Nu" – kurzer knapper Name, "Nu". In seinem Buch "Rede an uns" fordert er alle Juden, die nicht unmittelbar Opfer des Holocaust sind, dazu auf, ihre Opferrolle zu verlassen und den Blick nach vorne zu richten. Guten Morgen, Herr Menasse!

    Peter Menasse: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Wer geriert sich denn Ihrer Meinung nach zu sehr als Opfer? Wen meinen Sie damit?

    Menasse: Es gibt viele Juden, die in Diskussionen immer wieder auf die Shoa verweisen, statt ihren Blick nach vorne zu richten und aus der heutigen Sicht zu argumentieren. Man kann durchaus als Jude aufrecht und stolz durch die Welt gehen, mit heutigen Argumenten sein Leben bestreiten und muss nicht immer wieder nach hinten, 70 Jahre nach hinten argumentieren.

    Meurer: Warum nicht? Es war ein Massenmord ohne gleichen.

    Menasse: Es war ein Massenmord ohne gleichen, aber man muss auch sehen, wenn vor allem junge Juden der dritten, der vierten Generation dieses Opferargument verwenden, verweisen sie indirekt ja ihren jungen Gesprächspartnern eine Täterrolle zu, und das führt zu keinem konstruktiven Klima, in dem man diskutieren kann. Wenn es heute Antisemitismus gibt, gibt es ja genügend Argumente, gegen heutigen Antisemitismus mit heutigen Argumenten aufzutreten – nicht nur für die Juden, sondern auch für die Mehrheitsgesellschaft.

    Meurer: In Deutschland hat es ja heftige Kritik gegeben, 1998 war das am Schriftsteller Martin Walser, als er sagte, Auschwitz eignet sich nicht als Moralkeule. Unterscheidet sich Ihre Position von Walser?

    Menasse: In gewisser Weise ja, weil ich schon sehe, dass den Leuten, die wirklich gelitten haben, und durchaus auch der zweiten Generation, die traumatisiert war, höchster Respekt zu zollen ist und man soll das Gedenken nicht wegdefinieren. Das meine ich nicht, sondern es ist ein immer schwächer werdendes Argument für heutige Entwicklungen. Gerade in Deutschland haben Sie auch viele Jugendliche, die mit ihren Familien erst zugezogen sind, überhaupt keinen Bezug zur Shoa haben, und da fragt man sich schon, ob dort das Argument ankommt.

    Meurer: Dürfen Deutsche oder Österreicher, Herr Menasse, die Politik Israels ganz genauso kritisieren wie zum Beispiel Franzosen?

    Menasse: Ich habe in Vorbereitung unseres Gespräches einmal nachgelesen und habe aus einer Pressekonferenz von Ministerpräsident Netanjahu, die er vor eineinhalb Jahren in Deutschland gegeben hat, gelesen, das jüdische Volk weiß, dass es sich heute um ein anderes Deutschland handelt. Dieses andere Deutschland, die Politik, die Israel ja immer in den letzten Jahrzehnten gut gesinnt war, soll kritisieren, wenn es etwas zu kritisieren gibt, weil jedes System, jedes Land braucht auch Kritik von außen. Ich halte nichts davon, dass man ein Kritikverbot ausspricht.

    Meurer: Also wir dürfen genauso kritisieren wie Franzosen?

    Menasse: Ich glaube schon, wobei man sehr vorsichtig – das versuche ich auch in meinem Buch zu sagen – sein sollte, wenn es jetzt um eine Diskussion geht, die wir als Juden führen. Wir müssen uns schon immer genau anschauen, aus welchen Motiven kritisiert jemand. Natürlich gibt es ganz viele Menschen, sowohl in Deutschland als auch in Österreich, die ihren Antisemitismus in einer antiisraelischen Position sozusagen ausleben. Da verstehe ich, wenn die Juden dann sich zurückziehen und die Diskussion nicht führen wollen. Aber es gibt auch viele, die erkennen, dass Israel immer noch die einzige Demokratie im Nahen Osten ist, das einzige Land, wo Regierungen gewählt und abgewählt werden können, wo es innerpolitische Kritik gibt, wo es junge Intellektuelle gibt, und dann mit solchen Menschen kann man dann das sehen und die Hoffnung in Israel setzen, mit denen muss man sich auseinandersetzen.

    Meurer: Entschuldigung! – Wie erleben Sie die Kritik in Deutschland oder bei Ihnen in Österreich an der israelischen Siedlungspolitik zum Beispiel, oder jetzt am letzten Krieg um Gaza?

    Menasse: Die Völkergemeinschaft hat Israel im Stich gelassen - so, glaube ich, sehen das die Israelis und ich sehe das auch so -, als massiv Raketenbeschuss auf Israel gefallen ist, also Raketen auf Israel gefallen sind, und da hat sich sicherlich ein Gefühl der Isolation entwickelt in Israel, das noch tief sitzt. Ich denke mir nur, die Israelis haben eine wirklich schwere diplomatische Schlappe erlitten. In Ihrem Beitrag vorhin sagte ein Sprecher, man wäre überrascht in Israel gewesen von der heftigen Reaktion, der internationalen Reaktion. Und wenn ich eine Schlappe der Diplomatie erlebe, habe ich zwei Möglichkeiten zu reagieren. Die eine ist, meine diplomatische Position zu überdenken – das würde ich empfehlen -, oder eben, wie Israel das jetzt macht, sozusagen trotzig dagegen zu kämpfen. Das wird keine Sympathien einbringen und nirgends hinführen.

    Meurer: Das Gespräch heute Abend der Kanzlerin mit Benjamin Netanjahu in Berlin - ist unsere Kritik an den israelischen Siedlungsplänen und das, was die Kanzlerin gesagt hat, völlig in Ordnung?

    Menasse: Ja ich denke, weil ich doch sie als eine Freundin wie überhaupt die gesamte seriöse Politik in Deutschland als Freundinnen und Freunde der Israelis sehe, sie hat das Recht zu kritisieren. Ich denke, auch der israelische Ministerpräsident wird ihr sorgfältig zuhören, und vielleicht entwickeln die beiden ja doch Konzepte, die für einen friedlichen Ablauf sorgen. Ich möchte schon dazu sagen: Israel wurde gegründet aufgrund eines Beschlusses der Völkergemeinschaft, der Vereinten Nationen. Und wenn dort in diesem Bereich jetzt ein Konflikt tobt, der von den Konfliktpartnern vermutlich bilateral nicht mehr zu lösen ist, dann sollte auch die internationale Völkergemeinschaft eingreifen im Sinne von helfen und sozusagen als Mediatoren eintreten.

    Meurer: Aber das lehnt ja die israelische Regierung ab.

    Menasse: Ja. Aber die Kanzlerin hat ja so gut ihre eigene Bevölkerung überzeugt von ihren Qualitäten, vielleicht schafft sie das auch mit dem israelischen Ministerpräsidenten.

    Meurer: Dass sie gesagt hat, Israels Sicherheit ist Teil unserer Staatsräson – 2008 war das vor der Knesset -, wie fanden Sie das?

    Menasse: Ja das ist eine Antwort auf die Shoa, die längst gegeben ist, auf die Deutschland auch stolz sein kann.

    Meurer: Und trotzdem dürfen wir Israel kritisieren?

    Menasse: Gerade deswegen dürfen Sie Israel kritisieren.

    Meurer: Warum gerade deswegen?

    Menasse: Weil Sie eine positive Rolle in der Begleitung Israels in den letzten Jahrzehnten eingenommen haben.

    Meurer: Peter Menasse, österreichischer Publizist. Er ist Chefredakteur der jüdischen Vierteljahreszeitschrift "Nu". Bei uns heute Morgen sprach ich mit ihm im Deutschlandfunk über die Frage, was dürfen wir Deutschen an der israelischen Politik kritisieren. Herr Menasse, danke schön nach Wien und auf Wiederhören!

    Menasse: Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.