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Menschen am Rande des Nervenzusammenbruchs

Paul Austers neuen Roman bevölkert gleich ein halbes Dutzend Helden, die sich abgesetzt haben aus der Normalität - ob Miles Heller, der als Entrümpler arbeitet, oder Bing Nathan, Chefarzt einer Klinik für kaputte Dinge. Sie alle haben den Glauben an das amerikanische Fortschrittsprojekt verloren.

Von Walter van Rossum | 07.01.2013
    Miles Heller lebt im Exil. Im Exil seines Lebens. Dabei ist er gerade erst 28 Jahre alt. Er hat die Uni geschmissen, New York verlassen, er lebt in Florida, das ihm zuwider ist, er arbeitet als Entrümpler und hat eigentlich nur zwei Leidenschaften: Das Fotografieren von zurückgelassenen Dingen in verlassen Häusern, von denen es gerade eine ganze Menge gibt. Die andere Leidenschaft ist das Lesen. Kein Wunder: Sein Vater ist ein angesehener Verleger, seine Mutter eine renommierte Schauspielerin. Doch die beiden hat er seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Aber er hat weniger sie verlassen als sich selbst, sein altes Leben.

    Sein neues Leben ist ein Versteck, ein asketisch abgewandtes Dasein. Miles Heller sucht nicht Erleuchtung, sondern Verdunklung. Zuflucht vor einer unklaren Schuld. Hat er nun seinen Stiefbruder Bobby vor zwölf Jahren im Streit vor ein Auto geschubst oder ist er bloß durch eine unglückliche Verkettung der Umstände ums Leben gekommen? Jedenfalls hat er nie mit jemandem darüber gesprochen. Doch der Vorfall hat ihn total verändert. Einige Jahre später lauscht er zufällig einem Streit seines Vaters mit seiner Stiefmutter. In diesem Streit geht es um ihn, Miles, um seine Kälte, seine Erstarrung, seine Trinkereien, überhaupt die Enttäuschung, die er seinen Eltern bereitet. Das ist der Moment, in dem er beschließt, einfach wegzugehen und zum Veteranen seines Lebens zu werden. So sieht ihn auch eine Bekannte:

    "Miles Heller ist alt. Der Gedanke kommt ihr aus dem Nichts, aber nachdem er sich einmal festgesetzt hat, spürt sie, sie ist auf eine wesentliche Wahrheit gestoßen, genau das unterscheidet ihn von (…) allen anderen jungen Männern, die sie kennt (…), dass nämlich Señor Heller so gut wie gar nicht spricht, nicht einmal Smalltalk zustande bringt und sich weigert, irgendjemandem seine Geheimnisse mitzuteilen. Miles ist im Krieg gewesen, und alle Soldaten sind alte Männer, wenn sie nach Hause kommen, verschlossene Männer, die nie über die Schlachten reden, an denen sie teilgenommen haben."

    Doch es geht nicht allein um diesen sensiblen traumatisierten Jungen. Wir begegnen in Paul Austers neuem Roman gleich einem halben Dutzend Helden, die einen Schlag weg haben – lauter lautere Menschen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Durch bestimmte Umstände sieht Miles Heller sich gezwungen, nach New York zurückzugehen. Er kommt unter in einem illegal besetzten Haus am Sunset Park in Brooklyn. In diesem Haus wohnt sein alter Schulfreund Bing, der einzige aus seinem früheren Leben, mit dem er in den letzten Jahren Kontakt gehalten hat. Bing ist auch so einer, der sich abgesetzt hat aus dem Bürgerkrieg des Normalen:

    "Er ist der Großmeister der Empörung, der Champignon der Unzufriedenheit, der militante Entlarver des zeitgenössischen Lebens, der davon träumt, aus den Ruinen einer gescheiterten Welt eine neue Realität zu schmieden. Im Gegensatz zu den meisten Nonkonformisten seines Schlages glaubt er nicht an politische Betätigung."

    Bing Nathan ist der Chefarzt einer Klinik für kaputte Dinge. In einer winzigen Werkstatt repariert er Sachen, die im Geschäftsgang des Welt keine Rolle mehr spielen. Mechanische Schreibmaschinen, Röhrenradios, Plattenspieler und so weiter. Nebenbei spielt er Schlagzeug in einer wenig erfolgreichen Jazzband. Im Haus am Sunset Park wohnen noch zwei junge Frauen: Ellen und Alice. Ellen hat sich nach einer frühen ungewollten Schwangerschaft und der folgenden Abtreibung aus einem lustvollen Leben zurückgezogen, nach dem sie sich eigentlich sehnt. Und Alice bastelt an einer Dissertation, in der es um die realen Veteranen nach dem zweiten Weltkrieg geht. Und irgendwie fühlt sie sich diesen Veteranen sehr nahe.

    Nun mag man glauben, "Sunset Park" handle von einer Generation relativ junger Menschen, die dem amerikanischen Fortschrittsprojekt den Glauben aufgekündigt haben. Doch weit gefehlt, wir mache auch die Bekanntschaft einiger ältere Herrschaften. So etwa von Morris Heller, dem Vater von Miles, ein hochkultivierter Verleger erstklassiger amerikanischer Literatur. Wir begegnen seinem alten Freund Renzo, ein bedeutender Schriftsteller und Mary-Lee, Morris Hellers Frau, der Mutter von Miles. Überall lodert heller Zweifel – so wie bei Morris Heller:

    "Wo die Grenzlinie zwischen Leben und Kunst verläuft, ist ihm ein Rätsel. Renzo ist genau wie Mary-Lee, sie beide sind Gefangene dessen, was sie tun, seit Jahren stürmen sie von einem Projekt zum nächsten, beide haben sie bleibende Kunstwerke geschaffen, aber ihr Leben haben sie beide verpfuscht, beide sind zweimal geschieden, beide suhlen sich in Selbstmitleid, beide sind für andere äußerst schwer zugänglich – nicht dass sie als Menschen gescheitert wären, aber Erfolg als Menschen hatten sie genauso wenig. Beschädigte Seelen. Wandelnde Versehrte, die vor Publikum ihre Adern aufschneiden und bluten."

    Alle bisherigen Romane von Paul Auster haben im Wesentlichen ein Thema: dem Leben ein Geheimnis zurückzugeben, ohne es zu vernebeln, ohne es zu mystifizieren. Das Geheimnis findet radikal an der Oberfläche statt - im Lichte der Tatsachen, die die abenteuerlichsten Schatten werfen. Es sind zärtliche Bücher, versunken in die Ironien des Schicksals, die wirren Volten der Geschichte und die Zerbrechlichkeit des Realen und des Menschen.

    Dieser Roman ist anders – und insofern irritierend für die, die einen "klassischen" Auster erwarten. Die Geschichte von Miles Heller und den Seinen scheint dunkler, obwohl bei Lichte besehen die Dramendichte geringer ist als Austerüblich. Woran auch immer die Figuren in "Sunset Park" laborieren mögen, manchmal möchte man sie anraunzen, um sie aus ihrer Schmerzversunkenheit, ihrer Scheiterseligkeit zu erwecken. Doch wahrscheinlich besteht die ganze Kunst dieses Romans darin, von Ermatteten jeglichen Alters zu erzählen, die kein Krieg verwüstet, kein tonnenschweres Trauma untertunnelt hat. Ihre Lebensmüdigkeit rührt nicht von den Schicksalsschlägen, die sie erleiden mussten, es bedurfte relativ wenig, um sie ins Exil zu schicken. Ihre Erschöpftheit mag mit Schwäche zu tun haben. Doch was ist Schwäche anders als ein Glaubensverlust? Und was auch immer die pausbäckigen Schwadroneure der Selbstverantwortung, die Legionäre eines heroischen Individualismus behaupten mögen: den Glauben bezieht man nicht aus sich allein, den muss man auch in der Welt finden. Und da ist er nicht mehr.

    Man mag bedauern, dass in Paul Austers letztem Roman weniger die lichte Melancholie, das schöne Schattenspiel früher Romane aufscheint, der Sonnenuntergang in "Sunset Park" hinterlässt viel Dunkles, aber man spürt auf jeder Zeile: Paul Auster meint es ernst, vollkommen ernst.


    Paul Auster: Sunset Park.
    Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz
    Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, 317 Seiten, 19,95 Euro