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Menschen in einer Zeit des Umbruchs

"Depeche Mode" ist ein flotter, sprachlich sehr beeindruckender Roman über eine Generation in der Ukraine, die den gesamten Niederschlag der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Instabilität zu spüren bekommen hat. Doch depressive Weinerlichkeit ist nicht die Sache von Serhij Zhadans Figuren.

Von Katharina Narbutovic | 12.09.2007
    Ein nasser, verregneter Sommer in Charkiw. Verlassene Fabrikgelände, zugemüllt mit Eisen, Autos und Beton, endlose Güterzüge, die vom Bahnhof her durch die Lande zockeln, ein amerikanischer Erweckungsprediger, der gekommen ist, die Seelen der Invaliden, Rentner und der neuen biznesmeny in ihren knalligen C&A-Azügen zu retten, brutale Milizionäre, die mit Vorliebe Jagd auf Betrunkene machen, und ein "freundschaftliches Kollektiv von Simulanten", jungen Punks und Anarchisten, alle von der Uni geflogen und arbeitslos, die zusammen in einem Studentenwohnheim untergebracht sind und auf eine fantastische, abenteuerliche Reise geschickt werden - das ist das Setting von Serhij Zhadans erstem Roman "Depeche Mode", der im Jahr zwei der unabhängigen Ukraine spielt, im Juni 1993.

    Die frühen 90er sind in der Ukraine eine Umbruchzeit, chaotisch, anarchisch, hart und befreiend zugleich, in der die alten sowjetischen Strukturen in Auflösung begriffen sind und das Neue vage am Horizont aufscheint. Während die Älteren bereits ihren Platz im Leben gefunden haben und die später Geborenen ganz selbstverständlich in die neue Zeit hineinwuchsen, geriet die Generation von Serhij Zhadan - der 1974 im ostukrainischen Starobilsk geboren wurde, 1991 zum Studieren nach Charkiw ging und zur Zeit der Romanhandlung 19 Jahre alt war - mitten hinein in den gewaltigen Strudel der Veränderungen.

    "Meine Generation ist in eine schwierige Zeit hineingewachsen, das heißt die Phase des eigenen Wandels, der eigenen Veränderung, die ja jeder im Alter zwischen 14 und 18,19 durchläuft und während der sich im Grunde die Persönlichkeit eines Menschen herausbildet. Sie ist mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess einhergegangen, wo sich zur gleichen Zeit wie sie das Land und das System verändert haben. Ich mag zwar nicht solche plakativen Festschreibungen wie die, dass es sich um eine verlorene Generation handelt, aber im Grunde stimmt es, es ist eine gebrochene Generation, weil sie noch unfertig von einem System in das nächste geriet. Im Grunde war diese Generation das Kanonenfutter der ukrainischen Unabhängigkeit."

    "Depeche Mode" ist ein flotter, sprachlich sehr beeindruckender Roman über eine Generation, die den gesamten Niederschlag der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Instabilität zu spüren bekommen hat. Doch depressive Weinerlichkeit ist nicht die Sache von Serhij Zhadans Figuren. Ganz im Gegenteil: Natürlich ist Armut und Perspektivlosigkeit der Preis, den Dog Pawlow, Wasja Kommunist, Sascha Zündkerze und der Ich-Erzähler Zhadan zahlen, um nicht dem goldenen Kalb hinterherzurennen und darüber die eigenen Ideale aufzugeben. Natürlich sind sie marginalisiert und stehen am Rand der Gesellschaft. Doch das ist gleichsam nur die Untermalung, die Hintergrundmusik. Denn sie sind hart im Nehmen, stoische Punks sozusagen, sie sind jung, sie sind sie selbst und sie wollen einfach nur leben in dieser viel zu kurzen Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein, die wie aus dem Zeitenfluss herausgehoben zu sein scheint und einem eigenen Rhythmus gehorcht.

    Eines Morgens, als Dog Pawlow, Wasja Kommunist und Zhadan gerade von einer durchgemachten Nacht nach Hause gekommen sind, steht ein Typ in blauem Regenmantel und mit Plaste-Aktenkoffer bei ihnen vor der Tür, der sich als Onkel Robert vorstellt und sie bittet, seinen verschollenen Neffen Sascha Zündkerze zu finden, dessen Stiefvater sich erschossen habe. Damit nimmt eine abenteuerliche Odyssee ihren Anfang, die Dog Pawlow, Wasja Kommunist und Zhadan kreuz und quer durch Charkiw und schließlich auch ins ostukrainische Umland führt: auf ein Fabrikgelände, wo früher einmal Bergarbeiter-Ausrüstungen hergestellt wurden und wo sie nachts eine Molotow-Büste klauen, in die Roma-Siedlung mit ihren weißen Ziegelsteinhäusern, wo sie bei einem mageren Albino in grauem, abgetragenem Anzug Shit kaufen, zu Marusja mit dem reichen Armeegeneral-Papi, die eine eigene Wohnung hat und nach ihren "Abstürzen in die Abwasserkanäle der Gesellschaft" zumindest immer wieder in das Bühnenbild eines "normalen Lebens" zurückkehren kann, und schließlich ins Pionierlager "Chimik", wo Zündkerze als Betreuer arbeitet.

    Wie in Wenedikt Jerofejews "Reise von Moskau nach Petuschki" ist in Serhij Zhadans Roman "Depeche Mode" der Weg das Ziel. An vier verregneten Juni-Tagen geraten Dog Pawlow, Wasja Kommunist und Zhadan von einer grotesken Ausnahmesituation in die nächste, reiht Achterbahnlooping sich an Achterbahnlooping - ganz wie die rasant sich verändernde ukrainische Wirklichkeit Anfang der 90er Jahre sich gestaltete, nur dass die Perspektive und auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit von Serhij Zhadans Figuren eine andere ist. Sie sind nicht Teil des normalen Lebens draußen auf der Straße, sondern es ist, als säßen sie in einer Weltraumrakete unterwegs durch einen Kosmos von Empfindungen und Gedanken und betrachteten das Geschehen draußen durch das Bullauge ihres Blechraumschiffs. Ihr Blick ist subjektiv, ihre Erkenntnisse über das Leben und die eigenen Perspektiven sind bitter-luzide, ihr Bewusstsein ist breit und empfindsam, was nicht nur vom vielen Wodka und Haschisch herrührt.

    "Das gibt einem die Möglichkeit einer zusätzlichen Subjektivität an die Hand. Ich nehme ja bewusst Abstand von realistischen und psychologischen Momenten. Und in dieser Hinsicht ist es ein ausgezeichnetes Stilmittel, die Ereignisse durch die Brille eines Menschen zu beschreiben, der sich unter Drogen- oder Alkoholeinfluss befindet. Viele meinen deshalb, dass nichts anderes außer Alkohol und Drogen in dem Roman vorkommen. Aber in Wahrheit sind die Drogen und der Alkohol nichts anderes als ein zusätzlicher Bonus, weil die Figuren auch ohne Tranquilizer dazu neigen, die Welt auf höchst subjektive Weise wahrzunehmen."

    Serhij Zhadans Figuren sind begabt mit einer biegsamen, regen Einbildungskraft, ganz gleich ob mit oder ohne Alkohol und Haschisch, als seien sie direkt an einen Wahrnehmungsgenerator angeschlossen. Das Buch ist voll von psychedelischen Visionen, hinreißenden Stadtrandbeschreibungen und eindringlichen poetischen Bildern aus Milch und Blut und Bienen, Vögeln und Federn, Fischen und Forellen und herumschwirrenden Engeln, die sich einem im Gedächtnis festsetzen und bei denen man sofort den großartigen Lyriker spürt, als der Serhij Zhadan in seiner ukrainischen Heimat riesige Säle füllt. Er ist sicher in der Handhabung seiner erzählerischen Mittel, weiß Tempo zu setzen, Passagen zu speeden oder zu slomoten, die Sprache ist quick, akrobatisch, innovativ, und seine Figuren sind wunderbar uneindeutig. Sie sind Punks und Nihilisten, bissig in ihren Gedanken, aber fast buddhistisch-friedfertig in ihrem Verhalten. Jede Position, die wie eine klare Festlegung aussehen könnte, wird sofort ironisch unterlaufen.

    Nur bei einer Aussage bleibt Serhij Zhadan bis heute: dass sich - was die Politik anbelangt - in der Ukraine seit Anfang der neunziger Jahre wenig geändert hat.

    "Da bin ich immer noch derselben Meinung. Was die Politik betrifft, all diese Bilder, die Fernsehbilder dieses Simulacrums, das bestimmt, wie die Ukraine in Deutschland, in Russland und sagen wir in weiten Teilen auch in der Ukraine selbst wahrgenommen wird - doch in Wahrheit hat sich überhaupt nichts verändert. Immer noch dieselben Sachen, dieselben Worte, dieselben Gesten der Politiker, die, wie mir scheinen will, mit der Realität wenig zu tun haben. Was das anbelangt, so hat sich für mich überhaupt nichts verändert. Ganz gleich ob Kutschma oder Juschtschenko - das ist alles so etwas Irreales, wie eine Trennwand, mit der die richtige Ukraine, die richtige ukrainische Gesellschaft von der Welt abgeschirmt wird."


    Serhij Zhadan: Depeche Mode
    Roman, aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr
    edition suhrkamp
    246 Seiten, 10 Eur