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Menschenaffen
Ursprünge des menschlichen Denkens

Der 1950 in Florida geborene Anthropologe Michael Tomasello, Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und Spezialist für Primaten- und Säuglingsforschung, sucht in seinem neuen Buch "Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens" nach der Herkunft des Denkens. Es ist auch eine Antwort auf die postmoderne Fragestellung, ob die Vernunft kommunikativ ist.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 18.03.2015
    Ein Berggorilla im kongolesischen Urwald
    Seltenes Exemplar: Einer der Berggorillas, die in der Republik Kongo leben. (picture alliance / Mika Schmidt)
    Gibt es ein Denken ohne Sprache? Das konnten sich viele Philosophen kaum vorstellen. Für sie ist die Sprache die Grundlage des Denkens. Bis vor circa 200 Jahren herrschte zudem die Auffassung vor, dass sich Menschen von Tieren durch Denken unterscheiden, das sich auf die Sprache stützt. Das hat für Michael Tomasello den Hintergrund,
    "dass es in den ersten paar tausend Jahren der abendländischen Zivilisation keine nichtmenschlichen Primaten in Europa gab. Aristoteles und Descartes konnten ohne Weiteres solche Dinge postulieren wie 'Nur Menschen haben Vernunft', weil sie Menschen mit Vögeln, Ratten, verschiedenen Haustieren und gelegentlich mit Füchsen oder Wölfen verglichen."
    Schlüsselkomponenten des Denkens auch beim Menschenaffen?
    Erst im 19. Jahrhundert gelangten Menschenaffen in zoologische Gärten nach Europa, nannte Königin Viktoria ein Orang-Utan-Weibchen im Londoner Zoo "widerlich menschlich". Spätestens seit Darwins Evolutionstheorie ist es daher nicht mehr so einfach, Menschen von Tieren durch Sprache und Denken zu unterscheiden. Zudem ergeben diverse Experimente und Beobachtungen:
    "Menschenaffen repräsentieren die Welt kognitiv in einem abstrakten Format, sie vollziehen komplexe kausale und intentionale Schlussfolgerungen mit einer logischen Struktur, und sie scheinen zumindest in einem gewissen Sinn zu wissen, was sie tun, während sie es tun. Obwohl das noch kein vollentwickeltes menschliches Denken sein mag, enthält es doch sicherlich einige Schlüsselkomponenten."
    Bereits Menschenaffen sind durchaus in der Lage, sich etwas vorzustellen und Schlüsse zu ziehen. Wenn ein von zwei Gefäßen eine Banane enthält, vermag ein Schimpanse vom Geräusch, das diese beim Schütteln des Gefäßes verursacht und vom fehlenden Geräusch beim leeren Gefäß auf die Banane zu schließen. Logische Strukturen finden sich also bereits bei den Menschenaffen.
    Diese kooperieren auch miteinander, allerdings nur in egoistischer Absicht. Schimpansen kreisen gemeinsam einen kleinen Affen ein. Derjenige, der ihn fängt, frisst ihn aber weitgehend alleine und rückt nur die Reste heraus, wenn die anderen ihn bedrängen und anbetteln.
    "Obwohl die Menschenaffen, die Vorfahren der Menschen, soziale Wesen waren, lebten sie größtenteils ein individualistisches und konkurrenzbetontes Leben, und daher richtete sich ihr Denken auf die Erreichung individueller Ziele."
    Da Kultur auf einer ausdifferenzierten Kooperation beruht, bei dem Denken und Sprache eine wichtige Funktion erfüllen, beobachtet Tomasello, ob und wie Menschenaffen miteinander kooperieren und rekonstruiert dann, wie gewisse Zwischenschritte bei Frühmenschen ausgesehen haben könnten, die zu einer Intensivierung der Kooperation führten. Denn, so Tomasello:
    "Wir können nicht zu Prozessen der Kultur und Sprache gelangen, ohne über irgendeine Art bereits existierender und kooperativer sozialer Infrastruktur zu verfügen."
    Kooperative Lebensweise änderte alles
    Es gibt zwar gewisse Zwischenglieder zwischen den Menschenaffen und dem modernen Menschen. Doch über sie ist nicht nur zu wenig bekannt. Wie diese möglicherweise gedacht haben, vor allem darüber gibt es natürlich keine archäologisch ausgrabbaren Gegenstände. Daher fragt Tomasello nach der fehlenden Verbindung zwischen den Gehirnvorgängen bei Menschenaffen und dem Denken des modernen Menschen.
    "Die Frühmenschen wurden an einem bestimmten Punkt durch ökologische Umstände zu kooperativeren Lebensweisen gezwungen, und daher richtete sich ihr Denken stärker darauf, Möglichkeiten der Koordination mit anderen zu ersinnen, um gemeinsame Ziele oder gar kollektive Gruppenziele zu erreichen. Und das änderte alles."
    Diese Frühmenschen lebten vor circa 400.000 Jahren in keinen ausdifferenzierten Kulturen und verfügten auch noch über keine konventionalisierte Sprache. Denken und Sprache müssen sich daher der Kooperation verdanken, können nicht individuell entwickelt worden sein, besitzen sie vielmehr eine kommunikative Dimension.
    "Wenn Menschen mit anderen an gemeinschaftlichen Aktivitäten teilnehmen, bilden sie zusammen gemeinsame Ziele und gemeinsame Aufmerksamkeit aus, die dann individuelle Rollen und individuelle Perspektiven erzeugen, die innerhalb der Gruppe miteinander koordiniert werden müssen."
    In Kleingruppen von zumeist zwei Menschen, von denen Tomasello ausgeht, bildet sich auf diese Weise eine gemeinsame beziehungsweise "geteilte Intentionalität" – der zentrale Begriff seiner Studie, den Tomasello folgendermaßen beschreibt:
    "Denken, um zu ko-operieren: das ist, in gröbsten Zügen, die Hypothese der geteilten Intentionalität."
    Dazu gehört, dass sich kooperierende Frühmenschen gegenseitig beurteilen. Wer gut kooperiert, wird dann auch einem anderen vorgezogen, der schlechter kooperiert. Das Urteil der anderen spielt heute auch bei Kindern bereits eine wichtige Rolle:
    "Kleine Kinder sorgen sich um die soziale Bewertung durch andere ab dem Vorschulalter, wenn sie versuchen, aktiv den Eindruck zu steuern, den sie auf andere machen. Schimpansen hingegen scheinen sich keinerlei derartige Sorgen zu machen."
    Dabei geht Tomasello davon aus, dass heute kooperative Verhaltensweisen institutionalisiert beziehungseise verdinglicht werden. Das betrifft nicht nur Dinge wie das Geld als gesetzliches Zahlungsmittel, sondern gerade auch die Moralität, bei der es darum geht, dass bestimmte Handlungsweisen richtig oder falsch sind, also eine Art objektiven Charakter annehmen, der von jedem Beteiligten unabhängig von seiner individuellen Position aus einer allgemeinen Perspektive erfasst wird.
    Denken kann jedenfalls nicht einen individuellen Ursprung haben, sondern verdankt sich der Kooperation und besitzt damit einen sozialen Charakter. So wächst die geteilte Intentionalität in Großgruppen mit entwickelten kulturellen Institutionen zu einer "kollektiven Intentionalität" an, die eine Art gemeinsame Grundlage für ein gemeinsames Weltverständnis darstellt. Tomasello:
    "Moderne Menschen fingen nicht ganz von vorne an, sondern bauten auf der Kooperation der Frühmenschen auf. Die menschliche Kultur ist frühmenschliche Kooperation im großen Stil."
    Damit widerspricht Tomasello jenen Theorien, die Gesellschaft und Politik mit Egoismus, Macht und Gewalt zu erklären versuchen und für die dann Sprache, Logik und Ethik nur Mittel im ewigen Kampf der Menschen miteinander darstellen. Dem hält er entgegen:
    "Welche nicht soziale Theorie kann solche Dinge wie kulturelle Institutionen, rekursives und rationales Schlussfolgern, objektive Perspektiven, soziale Normen und normative Selbststeuerung und so weiter erklären? All das sind durch und durch Phänomene der Koordination, und es ist nahezu unvorstellbar, dass sie evolutionär aus einer nichtsozialen Quelle entsprangen. So etwas wie die Hypothese geteilter Intentionalität muss einfach wahr sein."
    Diese beschwörenden Schlussworte verdecken indes nur mühsam die hintergründige Intention des Buches. Während nämlich gerade im Poststrukturalismus französischer Prägung Vernunft und Wissen mit Macht und Gewalt kurzgeschlossen werden, Logik und Mathematik jedem Herren dienen, so versucht Michael Tomasello jene Konzeptionen von Jürgen Habermas oder der angelsächsischen sprachanalytischen Philosophie zu bekräftigen, für die Vernunft keine Gewalt ausübt, sondern grundsätzlich kommunikativ und kooperativ wirkt. Denn diese Rolle, so Tomasello, nahm die Vernunft bereits bei zwei Frühmenschen auf der Suche nach der Antilope ein, sollten diese sich dabei uneins gewesen sein:
    "Jeder würde lieber den Streit verlieren und heute Abend etwas essen, anstatt den Streit zu gewinnen und zu hungern. Und deshalb ist es eine Schlüsseldimension unserer Kooperativität, dass wir beide im Voraus implizit übereinkommen, dass wir in diejenige Richtung gehen werden, für die es die besten Gründe gibt. Genau darum geht es beim Vernünftigsein."