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Menschenrecht auf Migration
Philosophin Donatella Di Cesare: Alle sind zu Gast auf der Welt

Es gibt keinen Flecken fester Erde, auf den nicht irgendein Staat Anspruch erhebt. Doch das Phänomen der Migration erschüttert diese Weltordnung fundamental. Donatella Di Cesare entwickelt aus dieser Erkenntnis eine Philosophie, in deren Mitte eine uralte menschenfreundliche Tugend steht: Gastfreundschaft.

Von Thomas Palzer | 26.09.2021
Die italienische Schriftstellerin Donatella Di Cesare und ihr Buch „Philosophie der Migration“
Donatella Di Cesare fordert in ihrer Philosophie der Migration eine Politik der Gastfreundschaft (Foto: privat, Buchcover: Verlag Matthes & Seitz Berlin)
Wer einen Personalausweis oder Reisepass besitzt, verfügt über einen Status: Das Dokument bezeugt die Zugehörigkeit der Person zu einem Staat. Wer keinen Ausweis hat, ermangelt der Staatszugehörigkeit – und besitzt deshalb auch keine Identifizierbarkeit, keine Identität. Er ist vogelfrei. Vogelfreiheit bedeutet Rechtlosigkeit. Der rechtlose Mensch ist der homo sacer, das heißt, der auf sein nacktes, biologisches Leben zurückgeworfene Mensch.

Displaced Persons

Wer zu den Unglücklichen gehört, die über keine Staatsbürgerschaft verfügen, also über kein Dokument wie den Reisepass, dem droht das Auffang-, Flüchtlings- oder Abschiebelager als materieller Ausdruck planetarischen Exils. Mit dieser Politik der Exkommunikation wird im gleichen Zug Staatsbürgerschaft als quasi-natürliche Eigenschaft sanktioniert, denn es soll kein Leben ohne eine solche geben. So will es der Staat als globaler politischer Akteur.
Die römische Philosophin Donatella Di Cesare hat sich über den Migranten als zeitgenössisches Phänomen Gedanken gemacht - und eine bedenkenswerte Philosophie der Migration entworfen. Deren eigentliche Herausforderung besteht in dem Umstand, dass mit der Migration der Staat neu gedacht werden muss. Denn das Eine ist unlösbar mit dem anderen verknüpft.
"In den Augen des Staates stellt der Migrant eine unerträgliche Anomalie dar, eine Anomie des inneren sowie des internationalen Raumes, eine Herausforderung für seine Souveränität. Doch der Migrant ist nicht nur ein Eindringling und auch nicht nur ein Gesetzloser, ein Illegaler. Allein durch seine bloße Existenz verstößt er gegen das fundamentale Prinzip, auf dem der Staat errichtet wurde: Er untergräbt den prekären Zusammenhang zwischen Nation, Boden und dem Monopol staatlicher Macht, welcher der gesamten Weltordnung zugrunde liegt."
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Besitzansprüche zu Wasser, zu Land und in der Luft

Tatsächlich gibt es auf der ganzen Erde keinen Flecken fester Erde mehr, auf den nicht irgendein Staat Anspruch erhebt. Die agrikulturelle Aneignung und Kolonisierung des Bodens durch die Römer darf dabei als jene Quelle erachtet werden, aus der sich die Legitimation des Eigentumsbegriffs und Besitzindividualismus speist. Es ist nicht die Naturlandschaft - es ist die Kulturlandschaft, die den Staat formt.
Im Unterschied zum Festland entziehen sich Meer und Luft der Aneignung und der Kontrolle deutlich erfolgreicher – aller Drei- beziehungsweise Zwölfseemeilen-Zonen und aller Lufthoheit zum Trotz. Es gibt in dem Sinne keine russische Luft und kein slowenisches Wasser. Aber es gibt russischen Boden, slowenischen Boden, deutschen Boden und so weiter. Der Globus als reine Landmasse betrachtet sei, wie Di Cesare ausführt, einer staatszentrierten Ordnung unterworfen.
"Diese Weltordnung wurde von den jüngsten Migrationsbewegungen zutiefst erschüttert. Und dennoch bleibt der staatszentrierte Gesichtspunkt stabil und beherrschend. Genau deshalb nimmt man, wenn im Rahmen einer öffentlichen Debatte die Probleme der ‚Migrationskrise‘ diskutiert werden, auch stets stillschweigend den Blickpunkt desjenigen ein, der einem Staat angehört und aus dieser inneren, hinter Schranken und Grenzen verschanzten Position nach außen blickt. Nicht zufällig dreht sich ein Großteil der behandelten Fragen allein um die Art und Weise, wie die ‚Ströme‘ denn zu verwalten und zu regulieren wären [...] Der staatszentrierte Gesichtspunkt ist dabei immer auch normativ. Den einem Staat zugehörigen Bürgern wird apriori die Entscheidungsfreiheit und das Vorrecht zuerkannt, den an die Tür klopfenden Fremden aufzunehmen oder abzuweisen."
1974 erregte der französische Ethnologe und Anthropologe Pierre Clastres mit einem Werk Aufsehen, das der verbreiteten Annahme entgegentrat, dass diejenigen Gesellschaften, die ohne Staat und Institutionen lebten, "primitiver" seien als andere, seien in der teleologisch gedachten Fortentwicklung vom Naturzustand zum Staat gewissermaßen zurückgeblieben. Titel des Werkes: "Staatsfeinde". Es beeinflusste maßgeblich Philosophen wie Gilles Deleuze, Anthropologen wie Philippe Descola, Kulturwissenschaftler wie David Graeber und andere. Staat als Begriff bezieht sich ja auf das Unwandelbare, Ewige, Unveränderliche – vom lateinischen status. Clastres sieht den Staat als ein System von Befehl und Gehorsam.
Für die Philosophin Donatella Di Cesare ist der Staat als politisches Gebilde keineswegs sakrosankt, im Gegenteil. Ihrer Meinung nach machten die globalen Ereignisse des 21. Jahrhunderts die Einsicht unumgänglich, dass das Recht zu migrieren – das jus migrandi – zum Menschrecht des neuen Jahrhunderts erklärt werden müsse, und dass der Kampf um dieses Menschenrecht dem Kampf um die Abschaffung der Sklaverei in nichts nachstehen wird. Im Moment jedoch, so die Philosophin, kann das neue Jahrtausend "... als das Zeitalter der Diasporisierung der Welt gelten." Paradox dabei ist, dass die meisten Staaten das Recht auf Ausreise anerkennen - ein Recht auf Einreise aber suchen wir vergeblich.

Wir alle sind Migranten

Naturgeschichtlich betrachtet, haben wir, von den Ozeanen herkommend, alle einen Migrationshintergrund. Unser In-der-Welt-Sein, um einen Begriff Heideggers aufzugreifen, ist ein unbestreitbares Existential – und wird doch bestritten von der Dichotomie zwischen Innen und Außen. Diese Dichotomie, die konstitutiv für den Staat ist, der so seine angemaßte Souveränität stabilisiere - wie Di Cesare bemerkt -, präge das gesamte moderne Denken. Der Staat, und das ist an dieser Stelle wörtlich zu verstehen, betrachte sich als ultimativ – jenseits seiner Grenzen gebe es kein gutes Leben und kein Recht auf irgendwas.
Eine wichtige Referenz für Di Cesare stellt Hannah Arendts 1943 publizierter Artikel "Wir Flüchtlinge" dar, in welchem die Autorin im Hinblick auf das Nachdenken über Migration zudem eine Wegscheide erkennt. Arendt gab den Staaten- und Heimatlosen, die während der Nazi-Herrschaft keinen Platz mehr für sich in der Welt zu finden schienen, eine Stimme – und reflektierte auf den Zusammenhang zwischen Denken und Handeln.
Denken, so Arendt, entfremde den, der nachdenkt, von der Welt. Denkende seien Fremde, seien als solche per se von der Welt entfremdet. Aber heißt das auch, dass Denken nicht in Politik umgesetzt werden kann, Theorie nicht in Praxis? Anders als Arendts Lehrer Heidegger, dessen Schrift "Was heißt Denken?" die Denkerin beeinflusst hat und der diesen Knoten ungelöst lässt, sieht sie im Urteil die entscheidende Konjunktion zwischen Denken und Handeln, Theorie und Praxis. Der Denker ist der Zuschauer – folgert Di Cesare und fasst ihren Gedankengang so zusammen:
"Was wäre aus der Französischen Revolution geworden, wenn es nur Akteure, aber keine Zuschauer gegeben hätte?"
Der Zuschauer wird zu einem Bürger, der sich selbst in einen Fremden zu verwandeln vermag – darin liegt die Pointe. Der italienischen Philosophin geht es also, kurz gesagt, darum, vom Ufer aus zu denken, statt von "innen". Der Migrant, schreibt sie, sei auf das Ufer angewiesen, vom dem aus sich ihm die rettende Hand entgegenstrecke.

Das Wesen der Staatsbürgerschaft

Es geht folglich in ihrer Philosophie der Migration um eine Politik der Gastfreundschaft. Als Zuschauer der tagtäglichen Bilder, die von den Nachrichtenkanälen der Fernsehsender durchgeschleust werden, können wir uns in die Fremden hineinversetzen, die die Nähe "unserer" Ufer suchen. 2015 gab es weltweit laut dem International Migration Report der UNO 244 Millionen Migrantinnen und Migranten.
"Alles begann mit dem Ersten Weltkrieg, als die großen Imperien zerfielen, die in ihren Inneren viele verschiedene Nationen zusammengehalten hatten: die Österreichisch-Ungarische Monarchie, das Russische Kaiserreich sowie das Osmanische Reich. Die demografische und territoriale Ordnung Europas wurde davon erschüttert; aus den Friedensverträgen ging sodann eine neue Ordnung hervor, die aus Nationalstaaten bestand, denen es an Homogenität mangelte und die sich daher umso unerbittlicher zu behaupten hatten. Gewaltige Menschenmassen wurden in Bewegung gesetzt und wechselten binnen kurzer Zeit den Ort: 1,5 Millionen Weißrussen, 1 Million Griechen, 700.000 Armenier, 500.000 Bulgaren, Hundertausende Ungarn, Rumänen und Deutsche. Das vorhergesehene Problem waren jedoch die sogenannten ‚nationalen Minderheiten‘, die in dieser neuen Ordnung keinen Platz mehr finden konnten. Die minorities treaties (die Gesetze des Minderheitenschutzes) hätten sie schützen sollen, erwiesen sich jedoch als wirkungslos. Es war das Warnsignal eines Problems, das sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte noch verschärfen sollte, als der Spanische Bürgerkrieg und der Nationalsozialismus in Deutschland ihren Teil dazu beitrugen, die Reihen der Flüchtlinge weiter anwachsen zu lassen."
Staatsbürgerschaft ist ein Kind der Nation, welcher Begriff sich wiederum vom Lateinischen natio ableitet, wo es so viel bedeutet wie: Volk, Sippschaft, Geburt. Nation und Natur haben denselben Wortstamm, nämlich nasci, geboren werden. Deshalb bezieht sich Nation in der Regel auf den Flecken Erde, wo man geboren ist.
Staatsbürgerschaft als Begriff trägt zur Konstruktion nationaler wie supranationaler Identitätsfiktionen entschieden bei. David Leslie Miller, britischer Professor für politische Theorie, schreibt in seinem 2016 publizierten und deutlich konservativeren Essay "Fremde in unserer Mitte. Politische Philosophie der Einwanderung", dass ...
"... in früheren Zeiten Einwanderer sich selbst überlassen blieben, solange sie kein illegales oder abweichendes Verhalten an den Tag legten. Was sie von ihrer neuen Gesellschaft hielten und ihr gegenüber empfanden, war nicht sonderlich von Interesse. Der demokratische Staat von heute kann keine derart passive Perspektive einnehmen; er will und muss von den Einwanderern verlangen, dass sie gute und aufrechte Bürger werden."

Wir und sie

Aber warum muss der Staat das verlangen? Weil, so erläutert wiederum Di Cesare, für den modernen Staat das Recht auf Selbstbestimmung zentral sei: die Souveränität:
"Selbstbestimmung ist nichts anderes als die modernere und pragmatischere Variante der von Rousseau und Kant vertretenen ‚Selbstgesetzgebung‘, die sich auf das Souveränitätsprinzip gründet." Mit anderen Worten: Der Souverän ist der Eigentümer, denn das Recht auf Besitz, so Rousseau, "... ist das heiligste aller Bürgerrechte".
Dazugehören oder nicht – das also ist demnach in einer Welt, deren Staaten sich allesamt als Großgrundbesitzer gerieren, zu der entscheidenden Frage geworden, an der das eigene Überleben hängt. Erst in zweiter Linie gehe es um Daseinsvorsorge, um Zukunftssicherheit, um politische Mitbestimmung und um vieles mehr. Nach der Französischen Revolution gestand das französische Volk als neuer Souverän dem Ausländer das Menschenrecht zu, Bürger der Ersten Republik zu werden, sofern er seinen festen Wohnsitz in Frankreich nahm oder eine Französin heiratete. Für Di Cesare geht es darum, dieses Menschenrecht zurückzuerobern und zu universalisieren.
Dem Staat und seiner Souveränität, seinen Besitzansprüchen, stehen Migrant und Migrantin diametral gegenüber. Auf Gastfreundschaft kann dieser nicht rechnen, auch wenn in der griechisch-lateinischen Antike, dem Vorläufer Europas, die Gastfreundschaft als heilig und unantastbar galt. Was aber schon damals nicht gelebte Theorie unter Eliten war, bleibt auch für das gegenwärtige Europa leider nur ein uneingelöstes Versprechen. Donatella Di Cesare hat für die moralische Verfassung Europas klare Worte:
"Die Feindseligkeit hat Europa in ihren Klammergriff gezwungen. In den Geschichtsbüchern, die nicht dem hegemonialen Narrativ folgen und die nicht nur denen eine Stimme geben wollen, die im Inneren geschützt und abgeschirmt waren, wird man davon erzählen müssen, dass die Heimat der Menschenrechte, die den heimatlosen Aufnahme hätte bieten müssen, denen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien, von Verfolgung in Eritrea, vor Übergriffen im Sudan, vor Bomben in Afghanistan geflohen waren, denen, die versucht hatten, Hunger, Verwüstung und Tod zu entkommen – dass dieses Europa ihnen Asyl und Gastfreundschaft verweigerte. Mehr noch: Der potentielle Gast wurde a priori als Feind stigmatisiert."

Die Renaissance der Mauern

Mauern beherrschten die menschliche Geschichte – von der chinesischen Mauer über den römischen Limes, der Maginot-Linie, dem Atlantikwall bis zu jener Mauer, die Berlin und Deutschland teilte. Die Mauer sei jenes Instrument, mit dem sich eine Macht ein Innen und ein Außen geben könne, ein wir und ein sie. Nach dem Fall der Berliner Mauer sei indes nicht das Ende der Mauern angebrochen, vielmehr begann ein neues Zeitalter der Mauern. Donatella Di Cesare führt aus:
"Die bereits existierenden wurden nicht beseitigt, sondern noch verstärkt. Es handelt sich zum Großteil um ‚konfliktgeladene Grenzen‘: die Mauer zwischen den beiden koreanischen Staaten, die ‚Grüne Linie‘, welche die Insel Zypern in einen griechischen und einen türkischen Teil entzweischneidet, der Sandwall in der Westsahara, der von Marokko in mehreren Anläufen und Bauphasen errichtet und 1987 fertiggestellt wurde und sich von Gräben und über 6000 Landminen gesichert über 2730 Kilometer erstreckt, die Mauern zwischen Indien und Pakistan. [...] Die eigentliche Neuerung stellen jedoch die Mauern gegen die ‚illegale Einwanderung‘ dar."
In der Errichtung von Mauern – hier bezieht sich Donatella Di Cesare auf die kluge Psychologie der US-amerikanischen Politologin Wendy Brown - könne nur ein Emblem dafür gesehen werden, dass die Souveränität einen Niedergang erlebe, der, um vertuscht zu werden, der Theatralisierung bedürfe - eben des spektakulären Baus einer Mauer, zum Beispiel zwischen den USA und Mexiko.
Die von den Migrantenströmen ausgelöste Krise der gegenwärtigen Welt ist folgerichtig eine Krise der Souveränität, das heißt, eine Krise des "heiligsten aller Bürgerrechte": des Besitztums. Nicht unbedingt des individuellen Besitztums und der individuellen Souveränität, aber in jedem Fall der Souveränität jenes Konstruktes, das sich Staat nennt und das behauptet, das Gebiet, welches er mit seinen Grenzen umschließt, zu "besitzen". Zwar stünde der Migrant dem Staat als Nicht-Zugehöriger gegenüber, nicht jedoch dem Bürger, betrachtete man Migranten und Migrantinnen als ansässige Fremde, nicht als welche, die fehl am Platz seien. Fehl am Platz könne der Mensch auf der Erde nirgends sein, argumentiert Di Caesare.

Zur Miete wohnen

An dieser Stelle orientiert sie sich als Heidegger-Expertin an einem Essay, mit welchem ihr Inspirator und langjähriger Denkgegenstand das Wohnen in die Philosophie eingeführt hat: "Bauen, Wohnen, Denken" aus dem Jahr 1951. Wohnen versteht Di Cesare nicht als eine Tätigkeit, die den Ort besitzen will, an dem sie wohnt, sondern die anerkennt, ...
"... dass ihm andere immer schon vorausgegangen sind, indem er (der Bewohner) eingesteht, dass er nicht ‚von diesem Ort‘ ist und umgekehrt, dass er dessen Besitz nicht für sich beanspruchen kann. Er zeugt damit von der Möglichkeit eines anderen Wohnens, das nicht nur von räumlich-zeitlicher Vorläufigkeit geprägt ist und damit nicht nur eine Migration darstellt, da es sich nicht auf den Übergang von der Sesshaftigkeit zum Umherirren reduzieren lässt. Der Fremde ist ansässig, wohnt aber so, dass er von der Erde getrennt bleibt."
Im Bilde gesprochen: Statt über Grund und Boden zu "verfügen", sollten wir auf der Erde besser zur Miete wohnen. Und das gilt zumal für den Staat, dem das Gebiet, auf dem er sich ausgebreitet hat, nicht gehört. Auch für die Luft, die wir verbrauchen, für die Bodenschätze, das Wasser usw. sollten wir besser und schon aus ökologischen Gründen Miete bezahlen, statt zu halluzinieren, dass uns all das gehörte und zu unserer besonderen Verfügung stünde. Bei Heidegger lesen wir: "Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, das heißt als die Wohnenden sind."
Die Philosophie der Migration der römischen Philosophin Donatella die Cesare ist ein gut lesbarer und in der vielgestaltigen Materie versierter Essay, der zentrale Kategorien des staatsrechtlichen Diskurses in Frage stellt: Territorium, Grenze, Staat. Di Cesare macht in ihrem Buch dabei auch vor der eigenen Profession nicht Halt, wirft sie der Philosophie doch vor, die Frage nach dem Migranten nie wirklich gestellt, und wenn, dann nur befremdend desinteressiert und theoretisch abgehandelt zu haben: in abstrakten moralischen Rechenbeispielen. Ein selbsterklärendes Beispiel dieser Haltung, die sich nicht die Hände schmutzig machen und gegen die Bedeutung dessen, was immer auch verhandelt wird, immunisieren will, finden wir in der Preisfrage der Deutschen Gesellschaft für analytische Philosophie aus dem Jahr 2015 – also aus dem Jahr der großen Flüchtlingsbewegung: Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?
Diese sogenannte "Preisfrage" unterzieht Di Cesare einer vernichtenden Analyse: "Abgesehen von den nur schlecht begründeten und zum Teil haarsträubenden begrifflichen Unterscheidungen verfolgt diese patriotische Kasuistik letzten Ende das Anliegen, die politische Diskriminierung der Migranten moralisch zu legitimieren."
Des Urteils enthält sich Donatella Di Cesare in ihrem Buch wahrlich nicht – klug, beherzt und kämpferisch wirbt sie dafür, den Skandal zu erkennen, von dem ihr Thema geprägt ist: Ihre Philosophie der Migration gewährt Migranten und Migrantinnen auch in der Philosophie selbst endlich Bürger- und Wohnrecht.
Dem an den Rand gedrängten Migranten, jenem zeitgenössischen homo sacer, der überall fehl am Platz ist und dem zu wohnen nirgends die Erlaubnis erteilt wird, setzt sie die Figur des ansässigen Fremden entgegen – eine Figur, die unsere eingefahrenen Denkmuster zu sprengen imstande ist und die uns in Erinnerung ruft, was Europa eigentlich schon in der Antike für einen zivilen Umgang unter Menschen versprochen, aber selten eingehalten hat: Gastfreundschaft. Erst sie erlaubt es dem Menschen, dass er in einem ausgezeichneten Sinn die Erde bewohnt – indem er sie als Gast gastfreundlich mit anderen teilt.
Donatella Di Cesare: "Philosophie der Migration", Aus dem Italienischen von Daniel Creutz, Matthes & Seitz, Berlin, 343 Seiten, 26,00 Euro