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Menschliche Katastrophen

Der junge Autor Finn-Ole Heinrich berichtet in der zentralen Erzählung seines Bandes "Gestern war auch schon ein Tag" vom Studenten Paul, der sich in die sterbende Martha verliebt - und mit ihr von einem Zufluchtsort träumt.

Von Ralph Gerstenberg | 11.03.2010
    Martha wird bald sterben. Ihr Körper ist gezeichnet von Krankheit und Drogen. Auch der Student Paul, der in der Straßenbahn über die schlafende junge Frau stolpert und sie einfach mit nach Hause nimmt, kann sehen, dass Martha bereits vom Tod gezeichnet ist. Dennoch verliebt er sich in sie. Er verlässt seine von Diplomarbeitsdisziplin strukturierte Welt, um mit Martha die letzten Wochen ihres Lebens zu verbringen. Über Marthas Herkunft wird Paul wenig erfahren. Wenn er mit ihr zusammen ist, betrachtet er sie "mit der Klarheit der zukünftigen Erinnerung". Ausgerechnet Friesland, wo Paul seine Kindheit und Jugend verbracht hat, wird für Martha zum Fluchtpunkt und Traumraum. An den Ort, dessen Enge Paul entflohen ist und der auf Martha die Faszination des Unbekannten ausübt, fantasieren sich die beiden, wenn sie über ihre große Reise sprechen, von der sie wissen, dass sie nie stattfinden wird.

    "Wo die Erzählung spielt, das weiß man nicht so genau, aber es ist auf jeden Fall eine große Stadt mit einem Überschuss an Möglichkeiten. Und Friesland ist das genaue Gegenteil. Paul beschreibt das an einigen Stellen auch, dass es eine große Enge ist, diese dörfliche Überwachung und der muffige Hof seines Vaters und diese Langeweile, die es da gibt. Und Martha ist in diesem wilden Tumult einer Großstadt offensichtlich groß geworden mit zu vielen Möglichkeiten und daran letztendlich auch zerbrochen. Und plötzlich kann Paul dieser Übersichtlichkeit was abgewinnen und fantasiert dann ja auch davon, Martha zu entführen und zu entreißen und sie dorthin mitzunehmen und sie da gesund zu machen, zu pflegen. Das ist so, wie man es sich im Kino vorstellen muss. Man spinnt einen großen Film auf. Und wenn der Film vorbei ist, dann flackert das letzte Licht über die Leinwand. Man rollt die Leinwand zusammen und was bleibt, ist eigentlich nichts."

    Finn-Ole Heinrich kommt wie der Erzähler seiner Geschichte "Martha" aus Friesland. In der zentralen und umfangreichsten Erzählung seines Bandes "Gestern war auch schon ein Tag" fällt der einzige Ortsname des Buches: Cuxhaven – die Stadt, in der der 27-jährige Finn-Ole Heinrich aufgewachsen ist. Auch er hat den Ort seiner Kindheit verlassen, um woanders zu studieren: Filmregie in Hannover. Zeitgleich war er Stadtschreiber in Erfurt, nun lebt er als Filmemacher und Schriftsteller in Hamburg. Das Lokalkolorit ist in seinen Geschichten nicht so wichtig. Sie spielen in der Stadt, auf dem Land, in Baucontainern oder im Fußballstadion. Entscheidend sind die Milieus, die Atmosphäre und die Beziehungen, in denen seine Figuren leben. Um den richtigen Ton für seine Texte zu treffen, die in diesem Band allesamt aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, recherchiert Heinrich die genauen Lebensumstände seiner Figuren. Ihr Innenleben erschließt er sich mit großer sprachlicher Sensibilität, manchmal auch in einer Art Rollenprosa. In der Erzählung "Machst Du bitte mit, Henning" schildert er die Welt aus der Sicht eines Jungen, der in einem Heim für psychisch gestörte Kinder untergebracht ist.

    "Ich baue einen Panzer heute und kein Lebkuchenhaus, logischerweise. Man macht immer Sachen, damit die anderen nicht drauf kommen. Sie wollen den Kindern in den Kopf gucken in Haus Hirte Heim für gestörte Kinder. Darum geht es und deshalb muss man alles machen, was keinen Sinn macht, um die Betreuer zu verarschen. So ist das Ganze Leben hier, man macht was, damit keiner wissen kann, was man wirklich machen würde, wenn einem keiner zugucken würde bei allem. Ich baue also einen Panzer aus Lebkuchenplatten, ich klebe zwei aufeinander und stecke einen Buntstift rein und sage: 'Fertig, Panzer!', damit sie denken, Henning denkt, ein Panzer ist ein Haus, Henning denkt, man kann in einem Panzer wohnen und Krieg spielen und alles kaputt machen, Henning spielt zu viele Computerspiele, der ist ein wirklich gestörtes Kinde. Frau Heinsohn klatscht einmal ... und sagt 'Henning ist der Erste', und Herr Kornberger nickt und guckt aus dem Fenster und gähnt und dann sagte er: 'Da hat sich aber einer richtig Mühe gegeben.' Scheißwitz, finde ich, Herrn Kornberger sollte man auch mal richtig eine verpassen."

    Der Humor in Finn-Ole Heinrichs Erzählungen weicht meist dem Entsetzen. So spielt der Heiminsasse Henning nicht nur mit den Erwartungen seiner Betreuer, sondern quält und missbraucht einen kleineren Jungen, der ihm hilflos ausgeliefert ist. In einer anderen Geschichte versucht eine Frau, deren Bein amputiert wurde, ihren Partner mit Witzen von der schrecklichen Tatsache ihres zerstörten Körpers und den absehbaren Folgen für ihre Beziehung abzulenken. Tod, Vergänglichkeit und Gewalt sind Themen, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Finn-Ole Heinrich gelingt das Kunststück, von extremen Situationen oft ganz beiläufig zu erzählen und die Wucht der Ereignisse wirken zu lassen.
    "Ich bemühe mich immer sehr darum, keine Sprachspielereien einzubauen, die nicht notwendig sind. Es geht natürlich um Präzision in der Beobachtung und auch in der Konstruktion der Geschichten, aber ich möchte möglichst eine Sprache finden, die erstens dem Erzähler angemessen ist und eine, die auch gut nachvollziehbar ist, die sich gut lesen und konsumieren lässt, die nicht ablenkt von dem, was eigentlich wesentlich ist an der Geschichte, also die Situationen, die wirklich unter die Haut gehen hoffentlich. Insofern ist das ein poethologisches Prinzip, dass ich versuche, genau zu sein, aber mich nicht in Sprache zu verlieren. Das kann auch bedeuten, wenn man den entsprechenden Erzähler hat, dass sie mal sehr einfach klingt oder sogar ein bisschen falsch oder so wie man eine Geschichte in einer Kneipe erzählen würde."
    Vielleicht war der Zivildienst in einem Pflegeheim für Finn-Ole Heinrich so etwas wie seine informelle Ausbildung zum Schriftsteller gewesen. Dort musste er einem fast vollständig gelähmten Patienten acht Stunden täglich die Tageszeitung und Romane vorlesen. Heinrichs Texte beweisen jedenfalls ein starkes Rhythmusgefühl und viel Sinn für soziale Genauigkeit. Er begnügt sich nicht damit, seine Geschichten mit vagen Befindlichkeiten zu füllen. Ihm geht es um menschliche Katastrophen, die einen nicht kalt lassen. Die Erzählungen seines Bandes "Gestern war auch schon ein Tag" sind ein Beispiel für einen realitätsnahen, dringlichen Prosastil, den man nicht in Schreibschulen lernen kann. Eine Geschichte über Demenz hat es nicht in das Buch geschafft, weil Finn-Ole Heinrich das Gefühl hatte, noch nicht genügend darüber zu wissen. Zur Recherche wird er demnächst wohl wieder in einem Pflegeheim arbeiten.


    Finn-Ole Heinrichs Erzählband "Gestern war auch schon ein Tag" ist im Mairisch Verlag erschienen, 156 Seiten kosten 16,90 Euro.
    Ebenfalls im Mairisch Verlag ist ein Hörbuch mit dem Titel "Auf meine Kappe" erschienen, für das Finn-Ole Heinrich auch einige Erzählungen aus dem besprochenen Band eingelesen hat.