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Mentalitätsgeschichte
Leipziger - Helden der friedlichen Revolution

Im Oktober 1989, einen Monat bevor Günther Schabowski die Grenze öffnen ließ, demonstrierten in Leipzig so viele Menschen gegen die SED und für Demokratie, wie noch nie in der DDR. Ein Buch würdigt das Engagement der Leipziger, deren besonderen Widerspruchsgeist der Autor Rainer Eckert bis zurück ins 19. Jahrhundert nachweisen möchte.

Von Grit Eggerichs | 01.12.2014
    Mehr als 200000 Demonstranten fordern am 30.10.1989 vor dem Haupbahnhof in Leipzig Reformen und Veränderungen in der politischen Situation in Ost-Deutschland.
    Die Menschen forderten politische Veränderungen. (picture alliance / dpa - Martti Kainulainen)
    Warum waren es gerade die Leipziger, die im Herbst 1989 mit ihren Montagsdemos in die Geschichte eingegangen sind? Warum waren es nicht die Bürgerrechtler aus Erfurt oder Rostock? Eine interessante Frage. Und ein Buch mit dem Titel "Opposition, Widerstand und Revolution. Widerständiges Verhalten in Leipzig im 19. und 20. Jahrhundert" verspricht Antworten.
    "Leipzig ist eine erstaunliche Stadt. Ihr Verdienst für das Zustandekommen der Friedlichen Revolution 1989 scheint so selbstverständlich zu sein, dass über dem regelmäßigen Nennen des Verdienstes die genauen historischen Leistungen dahinter verblassen."
    Schreibt im Vorwort Lutz Rathenow, der sächsische Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Und damit ist der Sinn des Buches auch schon klar umrissen: Es würdigt die historische Leistung der Leipziger 1989 - und zwar in möglichst vielen Details. Die mentalitätsgeschichtliche Frage, was es war, das die Leipziger zu Helden der friedlichen Revolution machte, tritt dabei in den Hintergrund. Die eineinhalb Jahrhunderte vor der Gründung der DDR sind rasch erzählt.
    "Im Vormärz gab es in Leipzig einen starken bürgerlichen Liberalismus, und die Stadt war eine Hochburg der demokratischen Bewegung, insbesondere des Jungen Deutschland."
    Von 1848 geht die Reise weiter zu den zahlreichen Arbeitervereinen des 19. Jahrhunderts und zur SPD - die Ferdinand Lassalle und Wilhelm Liebknecht mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in Leipzig gründeten. Die bürgerliche Frauenbewegung mit Louise Otto-Peters und Henriette Goldschmidt forderte in dieser Zeit die volle Gleichberechtigung der Frauen. Auch sie geht in die Traditionslinie Leipziger Widerständigkeit ein. Eckert erinnert auch daran, dass der Oberbürgermeister der Stadt, Carl Goerdeler, sich 1933 weigerte, die Hakenkreuzflagge auf dem Rathaus zu hissen - später gehörte er zu den Organisatoren des Attentats auf Hitler.
    "Eine besondere Rolle spielten in den Jahren zwischen 1937 und 1939 die oppositionellen Leipziger Meuten von Jugendlichen, die sich bewusst gegen die nationalsozialistische Hitlerjugend stellten."
    Die Leipziger Meuten, eine liberale Jugendbewegung - ähnlich den Edelweißpiraten in Köln - und weiterer Nachweis des rebellischen Wesens der Leipziger. Mit dem Ende des 2. Weltkriegs ist der Autor auf Seite 34 des Buches bei seinem Schwerpunktthema angekommen: dem Leipziger Widerstand gegen die kommunistische Diktatur. Schon in den späten 40er-Jahren greift die sowjetische Militäradministration hart durch - nicht nur gegen Kriegsverbrecher und Beteiligte an der Schoah - sondern gegen alle echten oder vermeintlichen Gegner des Kommunismus. Diese Grundlinie politischer Repression bleibt nach Gründung der DDR stets dieselbe: SED und Stasi reagieren massiv auf jede registrierte Abweichung vom sozialistischen Kurs. Da konnte selbst eine Frisur oder ein Musikstil zum wasserdichten Indiz für die Konterrevolution werden. 1965 zum Beispiel, nach einer Tauwetterphase in der Kulturpolitik, da wurde es der SED zu bunt. Und der Rat der Stadt Leipzig verbot auf einen Schlag 49 von 51 Beatgruppen der Stadt. Die Fans mochten das nicht widerspruchslos hinnehmen - und organisierten einen Protestmarsch.
    "Nach offiziellen Berichten versammelten sich auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz schließlich circa 2.500 Personen, von denen jedoch nur 500 bis 800 zu den jugendlichen Beat-Demonstranten gehörten. Dreimal so hoch war die Zahl der Volkspolizisten, Geheimpolizeiangehörigen, Partei- und FDJ-Funktionären, die die Protestierenden aufforderten, den Platz zu verlassen."
    Die meisten Demonstranten waren Schüler und Lehrlinge - Minderjährige mit langer Matte, Parka und Jeans. Die Reaktion der Staatsmacht kann man von heute aus betrachtet nur hysterisch nennen. Klaus Renft war der Gründer der Beatband "Butlers" - die gerade Spielverbot erhalten hatte - und zwar "unwiderruflich", wie ihm mitgeteilt wurde. Renft war bei der Demo anwesend und erinnerte sich später:
    "Plötzlich kam ein Panzer-Spähwagen mit Hundertschaften, mit Hunden und aufgepflanzten Bajonetten. Da wurde die ganze Stadt vom Hauptbahnhof bis zum Neuen Rathaus eingekesselt. Was dann in dem Kessel geschah, hab ich von außen beobachtet. Die Leute wurden in die Messehauspassagen reingetrieben, und dann kamen LKWs, und da wurden die Leute auf die LKWs geschmissen und, wie ich dann erfahren habe, ins Arbeitslager, in die Braunkohle geschafft."
    Der Beat verschwand in der Nische - und besiegte den Kommunismus von dort aus dann doch noch, schreibt Eckert. Weil er das Lebensgefühl einer ganzen Generation prägte. "Die Braunkohle" in Gestalt des Kohlekraftwerks Espenhain lag direkt vor den Toren Leipzigs. Dort mussten nicht nur renitente Jugendliche schuften - der dazugehörige Tagebau verschlang im Lauf der Jahrzehnte Äcker und Dörfer und dehnte sich immer weiter aus. Einer der wesentlichen Gründe, sagt Eckert, warum der Leipziger Protest sich in der Spätphase der DDR auf Umweltthemen fokussierte. Der Autor schildert akribisch, wie sich die Umweltinitiativen schließlich unter dem Dach der Kirche mit den Menschenrechtsgruppen und den Antimilitaristen zusammenfanden und jeden Montag Friedensgebete in der Nikolaikirche abhielten. Ideologie spielte dabei keine Rolle, so Eckert.
    "Es ging in diesen utopiefreien Revolutionen, zumindest im Lauf ihrer Entfaltung, nicht um gesellschaftliche Utopien, sondern um Zivilgesellschaft und die Werte der offenen Gesellschaft des Westens."
    So "offen" waren die Leipziger Oppositionellen, dass sie sogar Ausreisewillige in ihren Reihen akzeptierten. Anders als die Bürgerrechtler in Ost-Berlin. Bürger mit laufendem Ausreiseantrag galten dort als Egoisten und Materialisten - nicht mehr interessiert am Ringen um die Reform des Sozialismus. "Wir bleiben hier!" und "Wir wollen raus!" Auf Leipziger Demos koexistierten beide Sprechchöre.
    Die Friedliche Revolution ist jetzt 25 Jahre her - für Historiker ein guter Abstand, um die großen Linien zu ziehen und langfristige Entwicklungen zu beschreiben. Rainer Eckert hat die DDR-Opposition in Leipzig akribisch genau beschrieben - das macht sein Buch zu einem guten Nachschlagewerk und zu einer Fundgrube für alle Leipziger Zeitzeugen.
    Eine wirkliche Erklärung für die behauptete Leipziger Widerständigkeit vom 19. Jahrhundert bis in die 1980er-Jahre bleibt der Autor schuldig. Ein aufmerksames Lektorat war der Text dem Verlag anscheinend nicht wert. Die zahlreichen Sach- und Grammatikfehler münden am Ende in der Bemerkung, Deutschland sei nun schon über zwei Dutzend Jahrzehnte wiedervereint.
    Rainer Eckert: "Opposition, Widerstand und Revolution. Widerständiges Verhalten in Leipzig im 19. und 20. Jahrhundert"
    Mitteldeutscher Verlag, 411 Seiten, 24,95 Euro.