Merce Cunningham vor 100 Jahren geboren

Revolutionär der Tanzkunst

Der Choreograf Merce Cunningham sitzt im La Fenice Theater in Venedig auf einem Stuhl, im Hintergrund ist der Theatersaal mit rot bezogenen Stühlen und goldfarbenem Stuck zu sehen.
Der Choreograf Merce Cunningham in Venedig im Jahr 1995 © Imago/ Leemage/ Marcello Mencarini
Von Vanessa Loewel · 16.04.2019
Kaum jemand hat den Tanz im 20. Jahrhundert so geprägt wie er: der Choreograph und Tänzer Merce Cunningham. Fast 200 Werke hat der US-Amerikaner geschaffen, sein letztes mit dem Titel "Nearly Ninety" feierte 2009 an seinem 90. Geburtstag Premiere.
In bunten Ganzkörperanzügen schreiten, fliehen, drehen sich 13 Tänzerinnen und Tänzer quer durch den Raum. Ein Schritt wird im nächsten Moment zum Fall, eine anmutige Ballettbewegung zum Alltagstrott: Überraschende Bewegungsabfolgen zeichnen die Choreographie CRWDSPCR aus, deren Titel sich auf einen Computerbefehl bezieht. Das Stück choreographierte Merce Cunningham 1993 mit Hilfe eines Computerprogramms. In den frühen 90er Jahren, mit über 70, hatte er den Computer für sich und seine Arbeit entdeckt.
In einem Interview von 1999 sagte er: "Mir ermöglicht die Technik etwas zu sehen, wofür meine Augen nicht scharf genug sind. Die verschiedenen Technologien erweitern meine Möglichkeiten – und meine Perspektive, die Art und Weise, wie ich über Tanz denke, und was ich damit schaffen kann." Der Choreograph interessierte sich für alles, was ihn aus eingefahrenen Denk- und Bewegungsmustern riss. In den 50er Jahren arbeitete er mit Zufallstechniken: Er würfelte, um über Bewegungsabfolgen einer Choreographie zu entscheiden. In den 60er und 70er Jahren experimentierte er mit Film- und Videotechnik. Nicht aus purer Technikbegeisterung, sondern aus Leidenschaft für den Tanz und seine Möglichkeiten. "Tanzen ist für mich so wichtig wie atmen."

Martha Graham holte ihn nach New York

Merce Cunningham wurde am 16. April 1919 in der amerikanischen Kleinstadt Centralia im Bundesstaat Washington geboren. Als Kind schon lernte er Stepptanz. An der Kunsthochschule in Seattle entdeckte ihn die große Choreographin Martha Graham. Sie holte ihn 1939 nach New York. Sechs Jahre tanzte Cunningham als Solist in ihrer Kompanie, auch wenn er mit ihrem expressionistischen Stil wenig anfangen konnte. Anfang der 1940er Jahre begann er, eigene Stücke zu präsentieren, die der Komponist und Musiker John Cage am Klavier begleitete.
Cunningham und Cage verband eine fast 50-jährige Lebens- und Arbeitspartnerschaft. 1953 gründeten sie die "Merce Cunningham Dance Company" in New York, mit John Cage als musikalischem Direktor.
Tänzerinnen am Bayerischen Staatsballett bei der Aufführung von Werken von Merce Cunningham
Tänzerinnen am Bayerischen Staatsballett bei der Aufführung von Werken von Merce Cunningham© Copyright Wilfried Hösl
Cunningham befreite den Tanz von einer Erzählung, einem Thema, einer Dramaturgie, der Zentralperspektive. Seine Stücke folgten nicht einmal mehr einem Rhythmus. Die Kompositionen John Cages, und in späteren Jahren auch anderer Musiker, blieben ohne Bezug zur Choreographie.

Erste Tourneen im VW-Bus

Wütende Kommentare aus dem Publikum und schlagende Türen begleiteten jahrelang Cunninghams Tanzabende. Als die Kompagnie gemeinsam mit John Cage 1960 in Berlin auftrat, kommentierte der Kritiker im Radio: "Zwischenrufe: 'Kriegen Sie dafür bezahlt? Offenbarung!' Nur einer nahm es ernst: 'Wohin führen sie uns?', rief er. 'Das kann doch nur das Ende aller Kunst sein! Der pure Wahnsinn.'"
Merce Cunningham steht auf dem Platz vor dem Ludwigsburger Schloss, hinter und neben ihm sein Ensemble in dunklen, engen Kostümen in Tanzposen.
Merce Cunningham posiert mit seinem Ensemble vor dem Ludwigsburger Schloss.© dpa picture alliance/ dpa-Fotoreport/ Norbert Fösterling
Auf seine ersten Tourneen ging Cunningham mit seiner Kompanie noch im VW-Bus, mit Picknick am Straßenrand: Dabei waren die Musiker John Cage und David Tudor, fünf Tänzer und der Künstler Robert Rauschenberg, der jahrelang das Bühnenbild entwarf. Spätestens die Welttournee von 1964 verschaffte der Kompanie international große Aufmerksamkeit. Einer ihrer größten Erfolge war das Stück "Rainforest", für das Andy Warhol 1968 mit Helium gefüllte Luftkissen entwarf.

Auftritte in Museen und an öffentlichen Plätzen

Große Theater und Opernhäuser luden Merce Cunningham ein. Als einer der ersten tanzte er mit seiner Kompanie auch in Museen oder auf öffentlichen Plätzen wie dem Markusplatz in Venedig. Als er 1999 in einem Interview gefragt wurde, wie er es schafft, sich immer wieder neu zu erfinden, antwortete er: "Sollten wir das nicht alle tun? Es scheint mir viel interessanter, als sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Lieber schaue ich mir an, was da für großartige Möglichkeiten vor uns liegen."
Fast 200 Werke hat Merce Cunningham geschaffen – sein letztes mit dem Titel "Nearly Ninety" feierte an seinem 90. Geburtstag Premiere. Zwei Monate später starb er. Danach ging seine Kompanie noch einmal auf Welttournee, um sich dann aufzulösen, so wie es Cunningham verfügt hatte. Nichts bleibt, alles ist Bewegung – das hatte ihn der Tanz gelehrt.
Mehr zum Thema