Dienstag, 23. April 2024

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Mercedes-Benz. Aus den Briefen an Hrabal

Man sollte sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, wie Augustinus in seinen "Confessiones" das Problem der Zeit behandelt hat. Auch heute, im Zeitalter von Quantenphysik und Raumfahrt, hat niemand dieses Problem tiefer durchdrungen als er. Es läuft darauf hinaus, dass eigentlich nichts existiert außer Erinnerung und Zukunft. Denn die Gegenwart zerfällt in Sekunden, in Augenblicke. Der Anfang unseres Gespräches ist schon wieder Vergangenheit. Die Zukunft hingegen - besteht aus Träumen. Sie existiert nicht wirklich, sondern allenfalls virtuell. Das also, was wirklich existiert, ist die Vergangenheit. Und damit ist die universale Aufgabe der Literatur beschrieben.

Martin Sander | 22.05.2003
    Mit Augustinus, dem Philosophen der christlichen Antike, nimmt der polnische Schriftsteller Pawel Huelle die Literatur vor der Gegenwart in Schutz. Genauer gesagt: seine Literatur. Huelle, der 1957 in Danzig geboren wurde, hat in einem teils realistischen, teils phantastischen Gestus immer wieder von der Vergangenheit, (vor allem von der deutsch-polnischen Geschichte Danzigs) erzählt. Am Anfang stand der Roman Weiser Davidek , der 1987 erschien, ein polnischer Bestseller, der alsbald auch international für Aufmerksamkeit sorgte. Im Jahre 2000 wurden Huelles Danziger Erzählungen unter dem Titel Silberregen auf deutsch veröffentlicht. Der Blick in die Vergangenheit, die nicht selten nostalgische Entdeckungsfreude, war in den achtziger Jahren, der Spätzeit des kommunistischen Regimes, unter Polens Autoren weit verbreitet. Allerdings hat sich die polnische Literatur in den neunziger Jahren gewandelt. Viele, vor allem jüngere Autoren fühlten sich von der Allmacht der Historie überfordert. Nicht wenige Kritiker forderten die Schreibenden unverblümt dazu auf, sich den gesellschaftlichen Konflikten der allerneuesten Gegenwart zuzuwenden, was viele Autorinnen und Autoren auch taten. Währenddessen ist Pawel Huelle sich und seiner Faszination für das Vergangene treugeblieben. Davon zeugt jedenfalls sein 2001 in Polen erschienener und nun auch in deutscher Übersetzung vorgelegter Roman "Mercedes-Benz".

    In Mercedes-Benz besucht ein dem Autor Huelle unverkennbar nahestehender Ich-Erzähler, ein jovialer, redseliger, im Alltag aber eher unbeholfener Schriftsteller die Fahrschule. Während er sich an der Seite von Fräulein Ciwle, seiner attraktiven jungen Fahrlehrerin, durch das Verkehrschaos der einstmals freien Hansestadt Danzig wühlt, spinnt er seinen Roman zusammen. Seine Geschichten sind Mosaiksteine einer untergegangenen Epoche. Es geht um das Leben seiner Großeltern irgendwo im Südosten der polnischen Zwischenkriegsrepublik. Und es geht immer wieder um das Statussymbol bürgerlichen Lebens jener Zeit - das Automobil.

    Wissen Sie, als meine Großmutter Maria 1925 mit einem Citroen fahren lernte, gab es einen ähnlichen Fall, nur dass dieser Citroen auf einem Bahnübergang stehen blieb und von rechts, also da, wo der Fahrlehrer, Herr Czarzasty, saß, schon der Eilzug Wilna - Baranowicze - Lemberg hinter der Kurve hervorkam; aber Herr Charzasty erfaßte die Situation blitzschnell und sagte: 'Fräulein Maria, wir springen sofort raus, oder wir kommen um' - also sprangen sie", fuhr ich fort, "und dieser Eilzug machte, obwohl er bremste, dass die Funken unter den Rädern hervorsprühten, das schöne Auto platt, und so standen sie neben dem Bahnübergang am Feld, meine Großmutter Maria und Fahrlehrer Czarzasty, und betrachteten die großen, immer größeren Augen des Lokomotivführers, der in diesem Haufen von Blech, Nickel, Chrom, Plüsch, Skai und zersplittertem Glas irgendwie keinen zerquetschten Kopf, keine abgetrennten Beine, keine Fahrermütze und keinen einzigen Tropfen Blut entdecken konnte und erst, als er den Blick etwas schweifen ließ, sah, wie meine Großmutter und der Fahrlehrer ihm freundlich zuwinkten, ja, das war eine wunderschöne Szene ... am Fuße der Ostkarpaten.

    Anstelle des Citroen taucht irgendwann ein Mercedes-Benz auf, und dieser viertürige 170er in Olivgrün steht in Huelle nostalgisch-komischen Porträt einer untergegangenen Zeit für mancherlei. Vor allem kennzeichnet er die Sorglosigkeit, mit der das polnische Bürgertum sein Leben zelebriert, ein Bürgertum, das schon wenige Jahre darauf von Verfolgung, Deportation und Massenmord getroffen wird. Mit dem "Benz" jagen die Großeltern an freien Tagen einem Heißluftballon hinterher. Diese Art des Autorennens gilt ihnen als gleichsam "demokratische" Alternative zur Fuchsjagd, die auch in der polnischen Republik zwischen den Weltkriegen dem Hochadel vorbehalten bleibt. In "Mercedes-Benz" erfährt der Leser, wie Polen zugrunde geht - unter dem Vernichtungswahn von Hitler und Stalin. Das Auto wird im September 1939 in der Nähe des bis dahin polnischen, nunmehr aber sowjetischen Lemberg konfisziert - darin sitzt nun, wie man vermutet, ein kommunistischer Kommissar namens Chruschtschow, während seine Soldateska rundherum damit beschäftigt ist, die edlen Wein- und Wodkavorräte im Eiltempo zu verzehren. Nahtlos gleiten Huelles Erzählungen aus der Familienchronik, mit der er seine Fahrlehrerin umwirbt, in den Danziger Alltag der neunziger Jahre über. Dort ist der Platz von Fräulein Ciwle nebst ein paar mal liebenswerten, mal kauzig, mal grotesk gezeichneten Gestalten. Dort lebt und schreibt der irgendwie einsame und beinahe gegenwartsscheue Erzähler. Doch der Roman birgt noch eine weitere Ebene. Der Schriftsteller macht nicht nur die Fahrlehrerin mit seiner Familiengeschichte vertraut. Zugleich reflektiert er das "Erzählverhältnis" zu Fräulein Ciwle durch einen Bericht an sein literarisches Vorbild. Huelle adressiert "Mercedes Benz" als Brief an den Geist des verstorbenen Bohumil Hrabal. Das wirkt phantastisch, aber nicht unnatürlich. Hrabal, der tschechische Meister der Tragikomik, verunglückte 1997 tödlich bei einem Sturz aus dem Fenster eines Prager Krankenhauses. Die Nachricht von seinem Tod erreicht den Danziger Autor und Erzähler in einem Danziger Bierlokal:

    Das war jener fatale Tag im Februar 1997, als die polnische Tagesschau zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte ihrer Aufgabe gerecht wurde und nicht CNN oder andere kommerzielle Sender nachahmte und als erste Nachricht die von Ihrem Flug aus dem fünften Stockwerk des Krankenhauses auf der Bulovka brachte, von Ihrem Sprung in den Abgrund, von Ihrem Tod, lieber Herr Bohumil: Plötzlich ließ diese Nachricht alle Gespräche verstummen - "beim Taubenfüttern lehnte er sich aus dem Fenster der orthopädischen Abteilung und fiel aus dem fünften Stockwerk auf den Hof" - das klang wie eine Sentenz, und wir begriffen, dass erst jetzt eine Epoche zuende gegangen war, mit diesem Flug von Ihnen, mit dieser Koda, dieser Pointe, diesem ungeheuren Bogen, den sie mit Ihrem Leben geschlagen hatten, und mit diesen Büchern, die es uns wie keine anderen möglich gemacht hatten, die schlimmsten Jahre zu überstehen; sofort bestellten wir Bier, und die gewöhnliche Unterhaltung verwandelte sich in eine Trauerfeier, lieber Herr Bohumil: In einer fremden Stadt, tausend Kilometer nördlich von Prag, warfen ein paar Typen mittleren Alters einander Fragmente Ihrer Bücher zu.

    Huelles Roman mündet in diese Totenfeier, in das Finale eines Romans, der von einem erhaben-komischen Grundton getragen wird. Nicht immer ist dieser Ton frei von Pathos, für manche mag er ans Lächerliche grenzen - wenn Huelle sein "autotechnisches Golgatha" erlebt, wenn er die Menschen jenseits von Geschlecht, Politik und Herkunft durch "die Kommunion des Wortes" verbinden will oder wenn eine Berührung durch "die zarten Finger der Fahrlehrerin" wie "ein Hauch des Heiligen Geistes" auf ihn wirkt. Gleichwohl gelingt es Huelle, einige, wie er selbst im Blick auf den von ihm verehrten Bohumil Hrabal sagt, "wundervolle Seiten der Zivilisation" aus dem "Mülleimer der Geschichte" zu fischen. "Mercedes-Benz" ist ein originell konstruierter, ein lesenswerter Roman.