Freitag, 29. März 2024

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Merkel: Koalition wird weitere Mindestlohn-Regelungen prüfen

Bundeskanzlerin Angela Merkel schließt Mindestlohn-Regelungen für weitere Wirtschaftszweige nicht aus. Branchen, die Lohnuntergrenzen über eine Aufnahme in das Entsendegesetz anstrebten, könnten dies bis kommenden März beantragen, sagte CDU-Vorsitzende. Die Große Koalition werde das dann prüfen. Voraussetzung sei aber eine Einigung der Tarifpartner in dieser Frage.

Moderation: Sabine Adler | 02.12.2007
    Vor wenigen Tagen hat Angela Merkel den zweiten Jahrestag ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin begangen. Im "Interview der Woche" zieht sie eine Zwischenbilanz.

    Sabine Adler: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, würden Sie sagen, dass Sie gerade in diesem Moment die beste Zeit in Ihrem Leben erleben?

    Angela Merkel: Jeder denkt vielleicht, dass er die beste Zeit noch vor sich hat, aber ich bin mit der jetzigen Zeit sehr zufrieden.

    Adler: Ist das eigentlich noch steigerungsfähig, nach fast einem Jahr G8-Präsidentschaft, dem halben Jahr EU-Ratspräsidentschaft? Was kann da noch kommen?

    Merkel: Das Amt der Bundeskanzlerin als solches ist, glaube ich, ein spannendes Amt, ein Land führen zu dürfen und Politik gestalten zu können. Da sind natürlich die hinzukommenden internationalen Aufgaben auch sehr interessant, verschaffen Deutschland auch ein Stück Spielraum, mehr als in anderen Jahren, internationale Politik mitzubestimmen. Aber das Amt als Bundeskanzlerin als solches ist wirklich sehr, sehr spannend.

    Adler: Sie schwimmen gerade auf einer Welle des Erfolgs. Neider sagen, auch Kritiker sagen, das hätte auch damit zu tun, dass Sie sich Ideen anderer aneignen, die vielleicht nicht auf Ihrem eigenen Gebiet gewachsen sind. Was sagen Sie dazu - Stichwort zum Beispiel Ursula von der Leyen - ihre Familienpolitik?

    CDU nicht auf den Wirtschaftsflügel reduzieren
    Merkel: Ich hab ja in meiner persönlichen politischen Sozialisation begonnen als Frauen- und Jugendministerin, war danach Umweltministerin und bin dann erst Generalistin geworden als Generalsekretärin und Parteivorsitzende, Oppositionsführerin, und insofern sind mir gerade Themen wie Klimaschutz, wie Familienpolitik, wie Frauenpolitik sozusagen, ich will nicht sagen auf den Leib geschrieben, aber sie waren Teil meines Lebens. Und ich glaube, dass eine Volkspartei, wie die CDU und wie die CSU es sind, Parteien sein müssen, die das gesamte Spektrum der Themen abdecken, die natürlich dann auch immer wieder Flügel haben. Aber es wäre ganz falsch, die CDU zum Beispiel auf den Wirtschaftsflügel zu reduzieren. Der ist wichtig, aber Volkspartei werden wir erst dadurch, dass uns Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Beispiel auch wählen. Und da die Mehrzahl der Menschen in unserer Gesellschaft Frauen sind, wäre es nun auch sträflich, auf diese Belange als Volkspartei nicht zu achten.

    Adler: Nun hat sich die CDU unter Ihnen als Generalsekretärin, als Vorsitzende in den letzten Jahren - in den letzten zehn Jahren, kann man sagen - so sehr gewandelt, dass sie viel wählbarer geworden ist zum Beispiel für moderne Frauen, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen wollen. Oder aber auch für Menschen, denen ökologische Aspekte sehr wichtig sind. Wenn Sie jetzt in Hannover den Parteitag abhalten, wird dann eigentlich nur noch sozusagen aufgeschrieben, was an Wandel schon vollzogen ist?

    Merkel: Die Gesellschaft hat sich ja vor allen Dingen in den letzten 10, 20 Jahren dramatisch gewandelt. Mit dem Ende des Kalten Krieges, mit der deutschen Einheit ist die Globalisierung in unser Augenfeld gerückt. Seitdem wissen wir, dass wir einem viel stärkeren Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, seitdem müssen wir uns auseinandersetzen damit, dass wir ein großes demografisches Problem haben. Im Altersaufbau unserer Gesellschaft – da ist Anfang der 90er Jahre von Kurt Biedenkopf zum Beispiel darauf hingewiesen worden, aber es war nichts, was sozusagen die Bevölkerung interessiert hat. Heute spüren wir das. Und eine Volkspartei wie die CDU muss auf einen solchen Wandel reagieren, ohne das, was sich bewährt hat, aufzugeben. Das heißt also, wir werden auf dem Parteitag in Hannover durch die Diskussion des Grundsatzprogramms noch einmal sehr deutlich machen: Wo sind unsere Wurzeln und was können wir aus dem, was Konrad Adenauer und Ludwig Erhard ja damals als Wandel von Deutschland durchgesetzt haben, was können wir daraus lernen für den Wandel, dem wir heute ausgesetzt sind? Und unsere Grundwerte bleiben Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Das christliche Menschenbild ist eine Konstante, aber die Herausforderungen, vor denen wir heute am Anfang des 21. Jahrhunderts stehen, sind ganz andere.

    Adler: Gemessen am SPD-Parteitag wird der CDU-Parteitag aller Voraussicht nach nicht so kontrovers werden, nicht so spannend werden – spannend im Sinne von "Wir gehen mit einem doch sehr überraschenden Ergebnis aus dem Parteitag heraus" - als die Erwartung zuvor, vielleicht zum Beginn des Parteitages, war. Wo werden Kontroversen erwartet, die tatsächlich die Partei möglicherweise auch nochmal ein bisschen aufrütteln und wach machen?

    2700 Anträge zum Grundsatzprogramm
    Merkel: Also, erstens: Der SPD-Parteitag war ein Wahlparteitag. Die haben es an sich, dass sie immer auch eine starke Beachtung finden: Wer bekommt welches Ergebnis, wie ordnen sich die Konstellationen? Zweitens hat die SPD ja auch häufige Wechsel in den Führungspersönlichkeiten gehabt, das heißt, dagegen haben wir ja einen relativ konstanten Verlauf. Ich glaube, dass wir trotzdem bei 2700 Anträgen zum Grundsatzprogramm schon ein paar Diskussionen führen werden. Ein Thema, das auf CDU-Parteitagen immer mit Leidenschaft diskutiert wird, das ist die Familienpolitik. Hier geht es darum, dass wir seit Mitte der 80er Jahre uns klar zur Wahlfreiheit bekennen, und trotzdem gibt es immer wieder die Sorge, ob die verschiedenen Entscheidungen von Frauen und Männern, Beruf und Familie zu vereinbaren oder auch einen Teil des Lebens zu Hause sich für die Kinder und für das Ehrenamt einzusetzen, ob das gegeneinander gestellte Entwürfe sind, ob einer besser oder schlechter bewertet wird, wie wir unsere gesellschaftlichen Ressourcen auch in welche Form des Familienlebens hineingeben - Stichwort Betreuungsgeld, außerhäusliche Betreuung, Bildung, Zugang zur Bildung. Da erwarte ich leidenschaftliche Debatten. Leidenschaftliche Debatten gibt es immer, auch über die Schulpolitik. Das ist eine Länderangelegenheit, trotzdem sehen wir, dass viele junge Leute heute nicht in der Lage sind, einen Ausbildungsplatz auszufüllen mit dem, was sie als Schulbildung haben. 80.000 Schulabgänger, die von den Industrie- und Handelskammern als nicht ausbildungsfähig eingestuft werden, das beunruhigt uns natürlich.

    Ein Thema, was auch eine Rolle sicherlich spielen wird, ist immer wieder die Frage der Außenpolitik: Wie richten wir uns hier aus? Wobei ich da keine besonders kontroversen Diskussionen erwarte. Aber das Thema Menschenrechte steht jetzt ja auch im Raum und wirtschaftliche Interessen. Ich plädiere dafür, dass das nicht gegeneinander ausgespielt wird, sondern dass das zusammengehen muss, weil wir unsere Werte nicht teilen können. Also, ein paar Debatten werden schon zu erwarten sein. Ich finde das auch gut, denn nur so kommen wir ja weiter.

    Adler: Am selben Tag des Beginns des Parteitages wird in Russland gewählt, finden die Duma-Wahlen statt. Mit welchem Gefühl schauen Sie nach Moskau?

    Merkel: Ja, wir haben natürlich beobachtet, wie dort Bürgerrechtler auch in ihrer Möglichkeit, sich zu artikulieren, eingeschränkt worden sind. Ich bedaure es auch, dass die OSZE-Beobachter jetzt nicht dort an den Wahlen teilnehmen. Es gibt eine Reihe von Beobachtern. Und ich erhoffe mir natürlich vor allen Dingen auch eine unabhängige Presseberichterstattung über diese Wahlen. Und dann werden wir mal das Ergebnis abwarten. Aber es ist natürlich so, dass die Abläufe von Wahlen in Deutschland sich von denen in Russland schon noch erkennbar unterscheiden.

    Adler: Muss der Weg, den Russland derzeit geht, auch im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl im März nächsten Jahres, muss das Besorgnis auslösen In Deutschland? Kann man irgendetwas tun, um eine demokratische Entwicklung zu befördern?

    "Wir brauchen gute Verhältnisse mit Russland"
    Merkel: Ich glaube, dass wir das beständige Gespräch suchen sollten mit der russischen Führung. Ich habe ja selber viele, viele Diskussionen mit dem Präsidenten Putin auch immer wieder gehabt. Und vor allen Dingen habe ich auch immer wieder darauf hingewiesen, dass man keine Sorge davor haben sollte, das ist ja unsere deutsche Erfahrung auch, Menschenrechtspolitik zu betreiben, auch freie, unterschiedliche Parteien zuzulassen. Wir werden hier sicherlich noch eine Menge argumentieren müssen. Ich bin auch nicht der Meinung, dass man den deutschen Weg eins zu eins auf Russland übertragen kann, aber von der Richtung her würde ich mir schon wünschen, dass Russland einen Weg geht, der natürlich auch die Offenheit zu verschiedenen Meinungen zulässt. Ansonsten haben wir eine strategische Partnerschaft mit Russland. Wir brauchen gute Verhältnisse mit Russland, um auch außenpolitische Herausforderungen zu lösen wie zum Beispiel die Frage des Irans, des Atomprogramm des Irans. Wir brauchen eine gute Kooperation, wo immer möglich mit Russland in der Frage des westlichen Balkans. Wir haben hier Meinungsunterschiedlichkeiten bezüglich der Zukunft des Kosovo. Und all diese Fragen zeigen: Wir sind aufeinander angewiesen in dieser Welt, aber das darf nicht das kritische Wort über bestimmte Dinge, die wir anders sehen als der Präsident, unterbinden.

    Wenn man sich die Amtszeit von dem Präsidenten Putin anschaut, dann ist für den normalen russischen Bürger natürlich auch ein hohes Maß an Lebensstabilität wieder gekommen. Russland zahlt wieder pünktlich Renten, es gibt die Löhne, und ich glaube auch, die internationale Politik Russlands hat auch dazu beigetragen, dass Russland wieder eine Rolle spielt in der Welt und aus einer Ecke, in der es war, auch wieder ein Stück herausgetreten ist.

    Adler: Viel Kritik, viel Streit gibt es innerhalb der Koalition in Bezug auf Ihren Dalai-Lama–Empfang im Bundeskanzleramt. War es ein Fehler, diesen Besuch nicht in Peking anzukündigen?

    Merkel: Nein, also es war erst einmal richtig, dass ich empfange, wen ich glaube, empfangen zu müssen und empfangen möchte. Es ist inzwischen sehr viel auch zu diesem Thema, glaube ich, gesagt worden. Die Bundesrepublik und die Bundesregierung und ich ganz persönlich stehen zu der Ein-China-Politik, da gibt es überhaupt keine Frage. Der Dalai Lama möchte eine kulturelle Unabhängigkeit, das bringt er auch immer wieder zum Ausdruck, und deshalb ist das auch keinerlei Fragestellung an die Ein-China-Politik. Wir wollen freundschaftliche partnerschaftliche Kontakte, und in einer Freundschaft kann es immer mal vorkommen, dass man auch über ein Thema unterschiedlicher Meinung ist. Und insgesamt möchte ich, dass wir den Partner China auch weiter so betrachten, denn Deutschland hat ein Interesse an guten Beziehungen zu China.

    Adler: Haben Sie aus diesem Streit möglicherweise auch die Schlussfolgerung gezogen, dass sich Profilierung parteipolitischer Art über Außenpolitik nicht so eignet?

    Merkel: Ja, ich habe das immer wieder deutlich gemacht. Ich glaube, Deutschland muss seine Interessen - und gerade die Bundesregierung - auch gemeinschaftlich vertreten. Alles andere wird unsere Interessen schwächen, und ich bin der festen Überzeugung: Wir können eine werteorientierte Politik mit einer wirtschaftsorientierten Politik zusammenbringen, und diesen Weg werde ich auch mit dem Außenminister gehen.

    Adler: Außenpolitik könnte beim Parteitag in Hannover bis Dienstag noch eine Rolle spielen - in punkto Türkeibeitritt zur Europäischen Union. Da könnte es durchaus ja nochmal zu Kontroversen kommen. Welche Entwicklung könnte der Parteitag bringen in dieser Beziehung, könnte es da nochmal eine "Drehung" geben?

    Russlands Präsident Wladimir Putin und Bundeskanzlerin Angela Merkel spazieren in Wiesbaden
    Russlands Präsident Putin und Merkel. (AP)
    Bundeskanzlerin Angela Merkel verabschiedet im Bundeskanzleramt in Berlin den Dalai Lama.
    Merkel und der Dalai Lama. (AP)
    Privilegierte Partnerschaft mit der Türkei
    Merkel: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass wir jetzt ja beschlossen haben, den Antrag, den wir im letzten Jahr auf unserem vorigen Parteitag schon einmal gefasst haben, der sich eindeutig zu einer privilegierten Partnerschaft bekennt, noch einmal ins Grundsatzprogramm aufzunehmen, dass diese Entscheidung richtig war. Es ist immer die Frage, was nehmen Sie in einem 70-Seiten-Grundsatzprogramm an Detailiertheit mit hinein und was nicht. Ansonsten ist die Auffassung der Christlich Demokratischen Union genau so wie der CSU ganz klar: Wir wollen eine enge freundschaftliche Bindung der Türkei an die Europäische Union, wir glauben, dass das Mittel der privilegierten Partnerschaft das Richtige ist.

    Adler: Sie gehen aus einer Position der Stärke heraus in den Parteitag. Wird das sozusagen nur noch eine laue Pflichtnummer für Sie werden?

    Merkel: Parteitage sind immer auch Höhepunkte im Leben einer Partei. Und natürlich können wir nach zwei Jahren der Großen Koalition doch auch ein Stück stolz sein auf das, was wir geschafft haben – bei Wirtschaftswachstum, bei den Arbeitsmarktzahlen, beim Absenken der Arbeitslosigkeit. Dies werden wir natürlich auch in Hannover würdigen. Darauf ist die CDU stolz, aber wir werden uns natürlich auch nicht auf irgendwelchen Lorbeeren ausruhen, sondern wir führen diesen Parteitag durch in einem Geist, dass wir wissen: Der Wettbewerb auf der Welt ist stark. Wir müssen uns anstrengen, wir müssen auf Bildung setzen, auf Teilhabechancen. Und insofern wird das schon ein Arbeitsparteitag sein. Außerdem stehen vor uns drei wichtige Landtagswahlen - in Hessen, in Niedersachsen, in Hamburg. Und dieser Parteitag wird natürlich auch so etwas wie der erste Aufgalopp sein, und die gesamte Partei wird unsere Wahlkämpfer natürlich aus vollem Herzen unterstützen.

    Adler: Die SPD profitiert ja bei Weitem nicht so wie die Union von der großen Koalition, von den Erfolgen, die Sie ja auch zu recht genannt haben. Müssen Sie aus dieser Position, und auch um des lieben Friedens Willen, in der Koalition nicht wünschen, dass die SPD zumindest eine der drei Landtagswahlen gewinnt?

    Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan begrüßt Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ankara.
    Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan begrüßt Bundeskanzlerin Merkel in Ankara. (AP)
    "Wo die CDU regiert, da geht es den Menschen besser"
    Merkel: Nein, das tue ich natürlich nicht, denn ich bin CDU-Vorsitzende und der festen Überzeugung: Wo die CDU regiert, da geht es den Menschen besser. Und die zu wählenden Ministerpräsidenten Christian Wulff, Roland Koch und der Bürgermeister Ole von Beust sind natürlich wichtige Führungspersönlichkeiten bei uns, die wir aus vollem Herzen unterstützen. Ich glaube nicht, dass das auch die Arbeit der Großen Koalition jetzt beeinflusst, dass man in irgendeiner Weise bei Wahlen in Ländern aufeinander Rücksicht nehmen muss, sondern wir haben hier auf der Bundesebene unsere Aufgabe, und so wie wir bei den Bundestagswahlen 2009 jeweils für unsere Parteien werben werden, so geschieht das jetzt auf der Landesebene zu einem anderen Zeitpunkt. Dafür hat jeder, der Politik professionell betreibt, Verständnis. Und ansonsten haben wir die Aufgabe, hier für das Land und für die Menschen die richtige Politik zu machen.

    Adler: Wichtiges Thema in dem Wahlkampf, das können wir jetzt schon absehen, ist das Thema, wo in dieser Woche gerade ein Durchbruch erzielt worden ist: der Postmindestlohn. Er wird dennoch den Wahlkampf weiter beherrschen. Rechnen Sie damit, dass es jetzt eine Diskussion gibt, die Guido Westerwelle, der FDP-Chef, zum Beispiel bezeichnet hat mit DDR-Verhältnissen bei der Lohnuntergrenze, also sprich eine Diskussion: Muss, soll der Staat regeln, wo die Untergrenze für Mindestlohn ist?

    Kein gesetzlicher Mindestlohn
    Merkel: Wir sind gegen flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne. Ich finde den Vergleich mit der DDR nun auch wirklich etwas abwegig. Die Frage ist, welche Rolle haben die Tarifpartner und wie weit kann durch Aufnahme in das Entsendegesetz der Tarifpartner sozusagen auch für sich einen bestimmten Mindeststandard definieren? Bei der Post ist die Situation natürlich eine besondere, weil wir hier einen sehr großen Anbieter haben, der praktisch jetzt langsam in die Freiheit entlassen wird, und auf der anderen Seite neue Bewerber, die um ihre Marktanteile kämpfen. Der Postbereich ist ein Bereich, der sehr lohnintensiv ist, also es gibt wenig Investitionen in Maschinen und sehr hohe Lohnanteile. Deshalb spielt hier natürlich die Frage des Lohnes eine Rolle, und ich will noch einmal daran erinnern, dass im Postgesetz, als wir damals die Post privatisiert haben, bereits darauf hingewiesen wurde, dass der Wettbewerb so organisiert werden soll, dass ähnliche oder vergleichbare Arbeitsbedingungen für alle Anbieter auch gewährleistet sein müssen. Aus diesem Grund heraus haben wir jetzt gesagt: Wenn die überwiegende Zahl der Anbieter für Briefdienstleistungen, also die, die überwiegend Briefe austragen, wenn die jetzt in diesem Tarifvertrag erfasst sind, dann sind die 50 Prozent Reichweite des Tarifvertrages gegeben, und dann werden wir uns der Aufnahme in das Entsendegesetz nicht widersetzen. Wir haben sehr hartnäckig verhandelt, weil in den Anfängen versucht wurde, auch diejenigen, die nur ein- zweimal einen Brief austragen, also in geringem Maße, auch mit da reinzunehmen. Das wäre vollkommen falsch gewesen. Und ich glaube, wir haben jetzt eine vertretbare Lösung gefunden.

    Adler: Sie haben gesagt, Sie haben sehr hartnäckig verhandelt. Unter dem Strich stellt sich das so da, als wäre dieser ganze Streit gegangen um ein Wort, nämlich "überwiegend". War es das wert, war es vor allem das Resultat wert, am Ende einen Mindestlohn von 8 Euro beziehungsweise von 9,80 Euro dastehen zu haben?

    Merkel: Ja, es war natürlich die Sache wert, weil die Voraussetzung, damit jemand im Entsendegesetz aufgenommen werden kann, ist, dass wir einen Tarifvertrag vor uns haben, von dem mindestens 50 Prozent der Beschäftigten erfasst sind. Sonst kann ja jeder kommen und hat vielleicht nur fünf Prozent der Beschäftigten, macht einen Tarifvertrag und sagt: Den möchte ich jetzt bitte allgemeinverbindlich erklärt haben. Und deshalb ist das sozusagen der Geist des Tarifgesetzes, den wir hier durchgesetzt haben. Und in dem Moment, wo es um die geht, die überwiegend Briefdienstleistungen verrichten, sind wir an dieser 50-Prozent-Schwelle jetzt angekommen. Vorher waren die Tarifverträge nach unserer Meinung in dieser Frage nicht richtig. Und das meine ich mit "hartnäckig verhandelt".

    Adler: Jetzt stellt sich die Diskussion so dar, dass für jede weitere Branche - Wachdienste ebenfalls sehr personalintensiv, Zeitarbeit, Leiharbeit, Gaststättengewerbe, Einzelhandel -, dass für jede dieser Branchen erstens viel Personal gebraucht wird, meistens die Mitarbeiter etwas qualifizierter vielleicht sogar noch sind, und begonnen wird, über Mindestlohn zu reden ab einer Bezahlungsstufe von wahrscheinlich zehn Euro.

    Merkel: Nein, das ist ja nicht richtig. Wir haben bei den Gebäudereinigern zum Beispiel für allgemeinverbindlich geringere Stundenlöhne gestellt. Das heißt, das wird sich von Branche zu Branche unterscheiden. Hier bei der Post ist es so, dass die Post selber höhere Löhne zahlt als das, was jetzt als Mindestlohn vereinbart wurde. Und ich habe ja schon auf die Philosophie des Postgesetzes hingewiesen, wo damals schon bei der Privatisierung gesagt wurde, die Arbeitsbedingungen sollen vergleichbar sein. Und aus diesem Grunde heraus ist das ein ganz spezieller Fall. In der Baubranche haben wir viele Tätigkeiten, die liegen auch um die zehn Euro, aber im Gaststättengewerbe haben wir auch Tarifverträge, die liegen deutlich darunter. Im Gaststättengewerbe ist zum Beispiel von Nordrhein-Westfalen - zum Teil wird das ja auch regional gemacht jetzt - der Tarifvertrag dort für allgemeinverbindlich erklärt worden durch den Arbeitsminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Also, wir haben hier eine sehr unterschiedliche Tarifsituation, und die Koalition hat Folgendes gesagt: Die Branchen, die im März zu uns kommen und sagen, wir wollen eine Aufnahme in das Entsendegesetz, die werden wir prüfen. Und insofern ist das jetzt also Sache der Tarifpartner, sich an die Politik zu wenden, so wie die Gebäudereiniger das zum Beispiel gemacht haben. Und die Voraussetzung muss aber sein, dass diese Tarifverträge nicht kleine Tarifverträge sind, die nur wenige Menschen umfassen, sondern dass die jeweils über 50 Prozent der Beschäftigten erfassen.

    Adler: Frau Merkel, was ist so gut daran, sich jetzt von Branche zu Branche treiben zu lassen?

    Merkel: Na, wir treiben nicht, sondern wir haben eine Situation, in der wir wollen, die CDU, die CSU, dass die Tarifautonomie, dass die Tarifpartner gestärkt werden. Wir wollen nicht, dass der Staat die Löhne festsetzt, sondern wir wollen, dass die Tarifpartner für Beschäftigte, und zwar jeweils für mehr als 50 Prozent der Beschäftigten, sich überlegen, welchen Einstiegslohn wollen wir? Das gibt es ja in vielen Bereichen schon. Und da, wo der Eindruck entsteht, dass internationale Konkurrenz dazukommen könnte, dass andere Anbieter deutlich da drunter sind, da wollen wir das Instrument, dass wir das für allgemeinverbindlich, also für alle geltend, erklären können. Das ist aber ein fundamentaler Unterschied zu der Frage, ob der Staat festsetzt, wie die Löhne im Einzelnen sein sollen. Und dann sehen wir mit Sorge, das muss ich auch sagen, dass es ganze Bereiche gibt, in denen werden überhaupt keine Tarifverträge mehr abgeschlossen. Auf der anderen Seite muss man aufpassen, und das ist ja die Gefahr von staatlich festgesetzten Mindestlöhnen, dass nicht Arbeitsplätze verloren gehen, die ansonsten dann in andere Länder abwandern. Das ist nicht das, was wir wollen.

    Adler: Wie können Sie verhindern, dass Sie im Wahlkampf wieder als Union als Kraft wahrgenommen werden, die gegen Gerechtigkeit im Land ist, gegen Verteilungsgerechtigkeit, sich gegen Mindestlöhne letzten Endes stellt?

    Merkel: Wir sind dafür, dass wir Arbeitsplätze schaffen. Und in unserem Wahlkampf geht es als erstes Mal darum, dass das sozial ist, was Arbeit schafft. Und damit haben wir auch ziemlich viel Erfolg jetzt gehabt, denn die Millionen Menschen, die heute mehr in Arbeit sind, die vielen, die weniger Angst um ihren Arbeitsplatz haben müssen, das sind doch die eigentlichen Gewinner des Aufschwungs. Und ich glaube, dass die Menschen ein sehr feines Gespür dafür haben, dass man durch eine falsche Politik auch Arbeitsplätze in Gefahr bringen kann. Und alle politischen Maßnahmen müssen daran abgecheckt werden, ob sie der Schaffung von mehr Arbeitsplätzen dienen oder nicht.

    Adler: In der Politik haben wir etwas gesehen im Zuge dieser Gerechtigkeitsdebatte, die in den letzten Monaten geführt worden ist, dass der Linksruck der SPD, von den Grünen - von der Linkspartei nicht, die stand schon da - doch ziemlich deutlich ausgefallen ist. Die Union sagt, sie bleibt in der Mitte. Ein bisschen sozialdemokratischer sind Sie aber trotzdem auch schon geworden…

    Merkel: Ehrlich gesagt, kann ich damit unheimlich wenig anfangen. Ich habe eben schon gesagt, für uns ist wichtig, den Wohlstand in Deutschland zu entwickeln, um möglichst vielen Menschen Arbeit zu geben. Das Unsozialste, was wir hatten, das war, als wir über fünf Millionen Arbeitslose hatten. Und jeder Mensch, der einen Arbeitsplatz mehr gefunden hat, trägt bei zu einer Stabilisierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Davon profitieren zum Schluss auch die Rentner, wenn die Gesundheitsbeiträge nicht steigen, wenn wir mehr Leistungen für Pflege anbieten können. Und das sind doch die Dinge, die letztlich zählen, wenn wir weniger Schulden machen, weil die Steuereinnahmen vernünftig laufen. Und deshalb ist manchmal eine Verkürzung der Gerechtigkeitsdebatte in der Luft, die ich absolut ablehne.

    Gerechtigkeit gegenüber Menschen ist, ihnen Chancen an der Teilhabe zu geben für das Leben in der Gesellschaft. Und diese Debatte führt die Union, und sie führt sie selbstbewusst und mit ihrem eigenen Koordinatensystem. Und da gucke ich nicht jeden Tag, wo ist der eine links und der andere rechts von mir, das sind, glaube ich, sowieso sehr überkommene Theorien. Wir sind die Volkspartei der Mitte. Unsere ganze Geschichte geht dahin, Grenzen zu überbrücken, Gräben zu überbrücken – jung und alt, Arbeitgeber, Arbeitnehmer. Das war der Erfolg der CDU, und das muss er auch in Zukunft sein.

    Adler: Politik hat sich ja auch dahingehend verändert, dass Politiker eigentlich mehr auftreten wie Manager, weniger als Vertreter von Ideologien. Die Politik ist doch ganz stark entideologisiert worden. Bringt das nicht möglicherweise auch ein Problem für das Demokratieverständnis beziehungsweise auch diese Freudigkeit, sich der einen oder anderen Idee anzuschließen als Wähler?

    "Bei den Gedanken der Menschen sein"
    Merkel: Also, der Erfolg der Demokratie besteht zum Teil ja darin, dass Menschen doch sehr viel selbstbewusster geworden sind, längst nicht mehr in jahrzehntelangen Familientraditionen Parteien auswählen, sondern sich selber ihre Überzeugung bilden. Das können Sie negativ so darstellen, dass Sie sagen: Die Zahl der Stammwähler sinkt. Sie können es aber auch positiv als Volkspartei herausstellen und sagen: Ich kann viel mehr Menschen erreichen. Früher sind Sie in bestimmte Regionen in Deutschland gegangen und haben gesagt: Hier kriegt die CDU kein Bein auf die Erde, dort kriegt die SPD kein Bein auf die Erde, weil die Großmutter schon so gewählt hat und der Großvater, und auch die Kinder werden das tun. Ich finde, es ist ein unglaublicher Entwicklungsprozess unserer Gesellschaft, dass Menschen heute selber und selbstbewusster entscheiden können und sich ihre Meinung bilden können. Darauf muss Politik natürlich auch reagieren, wir müssen noch mehr und noch enger bei den Gedanken der Menschen sein.

    Wir beeinflussen zum Teil natürlich Meinungsbildung, aber in einer Demokratie ist doch das Schöne, dass auch die Meinung der Menschen von den Politikern aufgenommen werden muss. Und insofern bin ich nicht auf einem Weg, wo ich darüber traurig bin oder jammere, sondern wo ich sage: Das ist eine unglaublich spannende Zeit, in der sich vieles verändert, in der Deutschland Chancen hat, aber auch Chancen vergeben kann. Und gleichzeitig haben wir ein festes Fundament - ich habe von unseren Grundwerten gesprochen, von unserem Bild von Menschen -, aus dem heraus wir auch immer wieder Kraft schöpfen können, die Dinge so zu gestalten. Aber wir haben heute ganz andere Herausforderungen.

    Adler: Am Ende des Jahres für Deutschland der G8-Präsidentschaft steht die Klimakonferenz in Bali. Die Opposition hat Ihnen in der Haushaltswoche vorgeworfen, Sie seien eine Ankündigungskanzlerin. Was würden Sie im Hinblick auf Bali, im Hinblick auf die Klimaschutzziele sagen, dass das mehr als Ankündigungspolitik ist, die Sie betreiben?

    Klimaschutz gemeinsam vorantreiben
    Merkel: Also, ich hab das ja auch fast schon mit einer gewissen Ironie mir angehört. Ich muss ganz ehrlich sagen: Rot-grün war sieben Jahre im Amt, Herr Trittin hatte viel Zeit, Klimapolitik zu gestalten. Wir könnten heute schon ein Kyoto-Nachfolgeabkommen haben, wenn Deutschland sich durchgesetzt hätte. Und insofern kann ich nur sagen, wir sind in diesem Jahr vorangekommen. Und ich war auch mal in der Opposition und ich habe mir dort meistens, auch wenn es manchmal schwer fällt, vorgenommen, dass das, was zu loben ist, auch wirklich gelobt wird, dann bleibt immer noch genügend zu kritisieren. Und deshalb finde ich: Es hat am Anfang dieses Jahres kein Mensch geglaubt, dass wir gerade auch auf dem G8-Treffen und in der Europäischen Union so weit gekommen sind bezüglich des Klimaschutzes. Da haben natürlich auch der Internationale Klimarat und die gesamten bedrohlichen Berichte dazu beigetragen. Das Thema ist in die Herzen und Köpfe der Menschen hineingekommen. und jetzt sollten wir das, was wir gemeinsam zu lösen haben - und da gibt es in Deutschland viel Übereinstimmung - auch gemeinsam voranbringen. Und ich glaube, da sind die deutschen Interessen am besten vertreten.

    Adler: Und jetzt zum Schluss sagen Sie uns noch, was das Schönste daran ist, Kanzlerin zu sein?

    Merkel: Gestalten zu können, Entscheidungen vorzubereiten, verschiedene Meinungen zu hören – und zum Schluss auch ein bisschen die Richtung zu geben, wie marschieren wir voran? In der Opposition können Sie viele Theorien entwickeln, aber Sie haben nicht die Mehrheit sie durchzusetzen. Und als Bundeskanzlerin sind die Dinge so, dass man doch vieles von dem, was man sich wünscht, auch zur Realität machen kann.

    Adler: Frau Bundeskanzlerin, ich danke Ihnen für das Gespräch.