Dienstag, 16. April 2024

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Merkel zum britischen Referendum
"Keine Rosinenpickerei" für Großbritannien

In einer Regierungserklärung hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Schlussfolgerungen aus der Entscheidung der britischen Bevölkerung, aus der EU auszutreten, vorgestellt. Großbritannien könne nicht erwarten, dass alle Verpflichtungen entfallen, Privilegien aber weiterhin bestehen würden.

28.06.2016
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält am 28.06.2016 in Berlin im Bundestag eine Regierungserklärung nach dem Brexit-Votum der Briten zu einem EU-Austritt.
    Bundestags-Sondersitzung nach Brexit-Votum der Briten. (picture alliance/dpa - Kai Nietfeld)
    Merkel betonte ihr großes Bedauern über den Ausgang des Referendums und sagte, die Bedeutung dessen könne gar nicht hoch genug ermessen werden - weder für die britische Bevölkerung noch für die EU. Jeder Vorschlag, der die EU der 27 aus der Krise helfen könne sei willkommen. Jeder Vorschlag, der die Fliehkräfte stärke, werde Europa weiter spalten und "hätte unabsehbare Folgen für uns alle". Merkel werde alles tun, um dies zu verhindern.
    Heute, am fünften Tag nach dem Referendum, sei man sich im Europäischen Rat und darüber hinaus klarer darüber, was zu tun sei. In ihrer Erklärung als deutsche Bundeskanzlerin benannte sie sechs Aspekte:
    1. Die EU der 27 übrigen Mitglieder müsse sich als willens und fähig erweisen, gemeinsam Entscheidungen zu treffen.
    Merkel: Großbritannien muss erst Artikel 50 auslösen, bevor Verhandlungen beginnen
    2. Großbritannien müsse erklären, wie es sein Verhältnis zur EU gestalten will. Merkel betonte, dass es über die Rahmenbedingungen "nicht das geringste Missverständnis" geben sollte. Nach Artikel 50 müsse Großbritannien den Europäischen Rat zuerst unterrichten, dass es seine Mitgliedschaft beenden will. "Danach werden die anderen Mitgliedsstaaten die Leitlinien für die Verhandlungen festlegen. Nicht vorher können die Verhandlungen beginnen, weder formell noch informell." Man nehme zur Kenntnis, dass Großbritannien den Antrag noch nicht stellen will, aber Großbritannien müsse dann auch zur Kenntnis nehmen, dass es keine Verhandlungen geben wird, bevor der Antrag gestellt wird. Sie sagte: "Ich kann unseren britischen Freunden raten, sich nichts vorzumachen bei den nötigen Entscheidungen, die gefällt werden müssen."
    3. In den Austrittsverhandlungen müssten formale und zukünftige Beziehungen zu bestimmen sein. Sowohl Großbritannien als auch Deutschland hätten ein Interesse daran, die Beziehungen freundschaftlich zu gestalten. Sie betonte unter anderem die wirtschaftlichen Verflechtungen, die gemeinsamen Werte und die Partnerschaft in der NATO. Trotzdem würden beide die Verhandlungen im eigenen Interesse führen. Sie sagte: "Die Verhandlungen mit einem künftigen Drittstaat dürfen nicht dazu führen, die Errungenschaften der EU der 27 in Frage zu stellen."
    Wenn Verpflichtungen entfallen, bleiben auch Privilegien nicht
    4. Die Verhandlungen dürften nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden. Es müsse und werde einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der Europäischen Union sein wolle oder nicht. Man könne nicht erwarten, dass alle Verpflichtungen entfallen, die Privilegien aber weiterhin bestehen würden. Wer freien Zugang zum Binnenmarkt wolle, müsse auch Zuwanderung akzeptieren, sagte Merkel mit Verweis auf Norwegen.
    5. Es gehe nicht um die Frage nach mehr oder weniger Europa, sondern nach einem erfolgreicheren Europa mit Teilhabe der Bürger, die sich mit der EU identifizieren und die durch sie ein besseres Leben führten. Die EU müsse sich jetzt einsetzen, das Wohlstandsversprechen einzulösen und die Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und -Verlierern zu schließen.
    Besinnen auf Ursprünge der EU
    6. Die Schlussfolgerungen aus dem Referendum müssten mit historischem Bewusstsein gezogen werden. Die EU sei einst als Friedensidee entstanden. Sie sagte: "Wir sehen, dass die Welt eine Welt in Unruhe ist, wir spüren die Auswirkungen von Konflikten und Kriegen in Europa, die Menschen aus ihrer Heimat vertrieben haben." Die Verantwortung für Flüchtlinge aus Syrien und Irak dürfte man keine Sekunde aus den Augen verlieren.
    Deutschland habe ein besonders Interesse daran, dass die Einigung gelinge und trage gemeinsam mit Frankreich eine historische Verantwortung, so die Kanzlerin. Heute und morgen bestehe mit die Gelegenheit, die Angelegenheit mit den anderen Staats- und Regierungschefs zu vertiefen - sowohl mit als auch ohne den britischen Premier David Cameron.
    Werte bleiben auch ohne Großbritannien bestehen
    Merkel sagte: "Wir können stolz sein auf unsere gemeinsamen europäischen Werte: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und auf unser einzigartiges Gesellschaftsmodell, um das uns viele weltweit beneiden." Diese historischen Errungenschaften blieben auch ohne die Mitgliedschaft Großbritanniens bestehen.
    Anschließend begann eine Bundestagsdebatte zum Referendum in Großbritannien.