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Mesut Özil
"Die Magie des Spiels"

Der Fußball-Nationalspieler Mesut Özil steht seit Monaten in der Kritik, weil er sich mit dem umstrittenen türkischen Präsidenten Erdoğan hatte fotografieren lassen. "Wer verstehen will, wie Özil zur Türkei steht, muss seine Autobiografie lesen", sagt unser Rezensent.

Von Stephan Detjen | 16.07.2018
    dpatopbilder - 13.05.2018, Großbritannien, London. Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident der Türkei, hält zusammen mit Fußballspieler Mesut Özil vom englischen Premier League Verein FC Arsenal, ein Trikot von Özil. Der türkische Präsident Erdogan ist zu Besuch in London. (zu dpa-Meldung: «Foto mit Erdogan: Özil und Gündogan sorgen für Wirbel» vom 14.05.2018) Foto: Uncredited/Pool Presdential Press Service/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
    Ein heikler Termin: Mesut Özil und der türkische Staatspräsident (Uncredited/Pool Presdential Press Service/AP/dpa)
    Eigentlich lese ich keine Fußballbücher. Ich hätte Mesut Özils Autobiografie "Die Magie des Spiels" nie zur Hand genommen, hätte ich nicht nach Büchern gesucht, mit denen ich meinen achtjährigen Sohn zum Lesen verführen wollte. Die Rechnung ging auf. Das erste Kapitel habe ich ihm noch vorgelesen. Dann nahm er mir das Buch aus der Hand und las es in ein paar Tagen selbst zu Ende.
    Ihm ging es natürlich um den wundersamen Aufstieg des Jungen aus dem Kohlenpott, um Schalke, die Champions-League-Schlachten von Real Madrid und um den Blick hinter die Kulissen der Weltmeistertruppe von 2014. Ich hatte allerdings schon nach den ersten Seiten verstanden, dass dies nicht nur ein Fußballbuch ist. Als mein Sohn mit Özil fertig war, holte ich mir das Buch aus dem Kinderzimmer zurück, denn diese Autobiografie vermittelt nicht nur einen spannenden Einblick in die Welt des Profifußballs.
    Die Geschichte einer türkischen Gastarbeiterfamilie
    Es ist ein Buch zum politischen und gesellschaftlichen Thema unserer Zeit: eine Geschichte aus der Mitte der Einwanderungsgesellschaft und ihrer Konfliktzonen. Es geht um die Suche nach einer Identität zwischen Familientraditionen, verschiedenen Kulturen und den widersprüchlichen Erwartungen mächtiger Akteure in Politik, Sportverbänden und Medien.
    Die Geschichte der Familie Özil ist die einer türkischen Gastarbeiterfamilie, wie es sie hundertausendfach in Deutschland gibt. "Die Deutschen wollten meine Großväter haben", erinnert Özil seine Leser. Die Eltern sind bereits zweite Einwanderergeneration. Seine Mutter putzt bis in den späten Abend in einer Schule, der Vater schuftet mal in Fabriken, mal macht er sich mit einem Kiosk selbständig. Einen einzigen Vorwurf macht Özil seinen Eltern: dass in der Familie nicht Deutsch gesprochen wurde.
    Für jüngere Migrantengenerationen hat er einen Rat: "Nutzt die Chance, die jeweilige Sprache zu lernen. Achtet auf Euer Umfeld. Lebt nicht isoliert und aneinander vorbei. Und vor allem: lest!"
    Mesut Özil ist knapp 17, als das damals noch geltende deutsche Staatsbürgerschaftsrecht ihn vor eine schwierige Entscheidung stellt: Der talentierte Jung-Fußballer muss wählen, in welcher Nationalmannschaft er künftig spielen will. Weil es die doppelte Staatsbürgerschaft noch nicht gibt, bedeutet eine Entscheidung für die deutsche Mannschaft die Aufgabe der türkischen Staatsbürgerschaft.
    Demütigende Prozedur
    Özil bekommt Ratschläge aus der Familie. "Deine Wurzeln sind in der Türkei", sagt die Mutter und will, dass er sich für die türkische Mannschaft entscheidet. "Mesut ist in Deutschland geboren und zur Schule gegangen. Er hat für deutsche Vereine gespielt. Also muss er auch für Deutschland spielen", meint der Vater. Der Onkel appelliert an Heimatgefühle, die der Neffe nicht nachvollziehen kann. Die Schwester findet die Trikots der türkischen Mannschaft schicker. Das ist das alltägliche Spannungsfeld, in dem migrantische Identitäten geprägt werden.
    Mesut Özil entscheidet sich für die deutsche Mannschaft und gibt in einer demütigenden Prozedur im Düsseldorfer Generalkonsulat die türkische Staatsbürgerschaft ab. Von türkischen Medien und Fußballfunktionären wird er als Vaterlandsverräter attackiert. "Ohne Verschulden wurde ich zum deutsch-türkischen Streitobjekt erklärt", erinnert sich Özil.
    Daran hat sich bis heute nichts geändert. Mesut Özil steht unter permanenter Beobachtung und es scheint, als werde jede Geste zum Beweismittel der Ankläger auf der einen oder anderen Seite.
    Schäbiges Spiel der Medien
    Das erste Tor für die deutsche A-Nationalmannschaft schießt Özil im Oktober 2010 ausgerechnet in einem EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei in Berlin. Das Spiel wurde von den Medien bereits im Vorfeld zu einem Test für den Stand der Integration von Türken in Deutschland stilisiert. Özil weiß das. Nach dem Treffer jubelt er bewusst nicht: "Weil mein Herz deutsch schlägt. Und weil mein Herz türkisch schlägt", zitiert der Fußballer aus der Familienbiografie der deutsch-türkische Fernsehmoderatorin Nazan Eckes.
    Özil schreibt: "Man kann durchaus Teil zweier Kulturen sein. Man kann durchaus auch auf zwei Kulturen stolz sein. Ein Herz kann sowohl türkisch als auch deutsch schlagen. Man kann deutsch denken und türkisch fühlen. So funktioniert Integration. Mit gegenseitigem Respekt, wie bei einer starken Fußballmannschaft:"
    Wer diese Zeilen heute liest, braucht keine Erklärung mehr, wo in diesem Sommer die Schwächen der deutschen Fußballmannschaft und ihres Verbandes zu suchen sind. Wegen eines Fotos mit dem türkischen Staatspräsidenten wurde Mesut Özil von führenden Fußballfunktionären zum Sündenbock einer sportlichen Niederlage gemacht.
    Kein DFB-Offizieller nahm ihn in Schutz, als rechte Nationalisten und Populisten Özil auch dieses Mal wieder wüst attackierten, weil er die deutsche Nationalhymne nicht mitsang. Und auch die Medien haben das schäbige Spiel mitgespielt: Özil müsse sich erklären, müsse sagen, wo er stehe und wem seine Loyalitäten gälten, war zu lesen.
    Ignorante Aufmerksamkeitsökonomie
    In diesen Tagen nach dem Ausscheiden Deutschlands aus der Fußball-WM wollte ich einem Freund Özils Buch zum Geburtstag schenken. In drei der größten Buchläden Berlins erklärten mir die Verkäufer, man habe die Restbestände des Buches gerade zum Verlag zurückgeschickt. Özils Autobiografie aus dem letzten Jahr habe sich nicht mehr verkauft.
    Was für eine Absurdität: Die Öffentlichkeit, die von einem Menschen Erklärung für sein Tun und Denken verlangt, ignoriert das Buch, in dem er genau dies erklärt. Die Geschichte Mesut Özils hat in den letzten Wochen eine Fortsetzung erfahren. In ihr finden sich auch die Symptome einer ignoranten Aufmerksamkeitsökonomie.
    Mesut Özil: "Die Magie des Spiels. Und was du brauchst, um deine Träume zu verwirklichen", mit Co-Autor Kai Psotta
    Bastei Lübbe, 350 Seiten, 10 Euro.