Dienstag, 23. April 2024

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Metamorphose der Band Anathema
Ohne Geschrei zum Erfolg

Angefangen haben Anathema mit schwermütigen Doom-Klängen, E-Gitarren, Streichinstrumenten und Growls, diesen gutturalen Schreien des Heavy Metal. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sie sich stark in Richtung Prog- und Postrock mit elektronischen Klängen und zu einem eigenem Sound bewegt: erfolgreich!

Von Kai Löffler | 25.02.2018
    Fünf Männer und eine Frau stehen auf einer Bühne und blicken in die Kamera.
    Gegründet in den 1990ern: die Alternative Rock-Band Anathema. (Caroline Traitler)
    Musik: "Untouchable Part 1"
    Vincent Cavanagh: "Wir waren gerade mit der Schule fertig, waren 15 oder 16 Jahre alt..."
    Gitarrist und Sänger Vincent Cavanagh
    "...und irgendwann, ich glaube kurz vor Weihnachten, haben wir mit dem Casssettenrecorder unseres alten Sängers rumgespielt. Wir hatten uns immer mal wieder aufgenommen, erst nur aus Spaß, aber daraus wurden dann kleine Demo-Tapes. Wir haben alle so getan, als hätten wir diese Seitenprojekte. Darren und John hatten eins, Jamie und ich hatten eins, Danny hatte eins; und dann haben wir uns alle zusammengetan zu einer "Supergroup" - auch wenn niemand wusste, wer wir waren. Und es war eigentlich alles nur ein Witz. Wir haben Gag-Songs gesungen, im Stil von Monty Python, und für uns war das zum Totlachen witzig."
    Facettenreich
    Die Musik von Anathema hat heute nicht mehr viel mit Monty Python zu tun. Ihre zwei prägnanten Stimmen, neben Vincent Cavanagh die von Sängerin Lee Douglas, zeigen viel Gefühl für Stimmungen und Melodien. Gerne werden Anathema dem Prog zugeordnet, ihre Musik hat Züge von Post Rock, von Dream Pop und schlägt manchmal leise Töne an, die man sonst eher mit Singer/Songwritern verbindet. Die Musik stammte lange Zeit vor allem von Gitarrist Daniel Cavanagh, auf den letzten Alben schreibt zunehmend auch der Rest der Band mit. Das Liverpooler Sextett hat einen weiten musikalischen Weg hinter sich
    "Ein paar Monate später hat eine Freundin von uns Geburtstag gefeiert, sie wurde 16, und hatte schon eine Band gebucht. Und wir haben gefragt: "Können wir vielleicht auch spielen?" Und sie sagte, "okay, habt ihr denn überhaupt eine Band?" "Haben wir eine Band? Natürlich haben wir eine Band. Schon seit mindestens zwei Monaten!" Wir hatten natürlich nichts, wir hatten keine Songs, gar nichts. Aber wir wollten unbedingt live spielen. Also haben wir die nächsten paar Wochen geprobt und dann einen Gig gespielt. Und bei unserem dritten Auftritt hatten wir auch einen Namen."
    Das war im Jahr 1990. Der klangvolle Name der Band: Pagan Angel
    Musik: "Eternal Rise of the Sun"
    "Wir waren die Vorband von Paradise Lost im "Planet X" in Liverpool. Damals waren wir immer noch Kinder, und wir haben einfach an die Tür des Planet X geklopft - ein legendärer und wirklich cooler Punk Club - und haben Doreen, die Besitzerin, gefragt. "Ist schon jemand als Vorband für Paradise Lost gebucht? Wir sind große Fans und würden gerne spielen". Und sie mochte uns einfach, vielleicht auch deshalb, weil wir zwar nicht mal alt genug waren, um zu trinken, aber einfach an ihre Tür geklopft und verlangt haben, mit unserer Lieblingsband zu spielen. Sie ließ uns also spielen, und wir waren eigentlich nicht mal alt genug, um den Laden zu betreten, geschweige denn da zu spielen. Und gar nicht so lange danach, vielleicht ein Jahr oder so, hatten wir einen Plattenvertrag."
    Knapp 20 Jahre später haben Anathema elf Studioalben aufgenommen, zwei Alben mit neu arrangierten alten Songs, außerdem eine Handvoll EPs und Live-Alben.
    "Das ist also alles sehr, sehr schnell passiert. Richtige Zeit, richtiger Ort. Und gerade bildete sich eine neue Szene, aus Doom Bands wie Paradise Lost und Cathedral. Und das haben wir aufgegriffen und daraus unser eigenes Ding gemacht, mit ein bisschen Klassik-Einfluss. Paradise Lost kam ein bisschen mehr aus der Gothic-Ecke und Cathedrals waren einfach echter Oldschool-Doom, mit ein bisschen Blues, a la Black Sabbath. Wir mochten vor allem Filmmusik und Danny war ein riesiger Beethoven-Fan, er sagt immer "Beethoven war schuld". Wir hatten also am Anfang etwas... gehobene Ambitionen."
    Musik: "Eternal Rise of the Sun"
    Vom Gitarrist zum Sänger
    Im Jahr 1995, zwischen dem ersten Album "Serenades" und dem zweiten "The Silent Enigma", entschied sich die Band, Sänger Darren White zu entlassen - wegen musikalischer Differenzen. Anstatt einen neuen "externen" Sänger in die Band zu holen, blieb der Posten diesmal "in der Familie" - Vincent Cavanagh, bis dahin nur Rhythmus-Gitarrist, sollte den Gesang übernehmen.
    Musik: "Restless Oblivion"
    "Das war nicht meine Entscheidung, ich hatte keine Wahl. Und ich würde mal behaupten, wäre zu dem Zeitpunkt jemand anderes da gewesen, hätte er mit Sicherheit den Job bekommen. Wir waren im Studio und haben versucht, eine Platte fertig zu bekommen und da musste schnell eine Entscheidung fallen. Mein Bruder Danny und unser alter Bassist Duncan hatten einfach das Vertrauen, dass ich das kann. Ich hab auch vermutet, dass ich wahrscheinlich irgendwie singen kann, also einigermaßen das emulieren, was unser alter Sänger Darren gemacht hat. Aber das Problem war das Selbstbewusstsein, als Sänger hatte ich überhaupt keins. Warum auch? Ich wollte ja nie Sänger werden, ich wollte kein Frontmann sein, der das Publikum unterhält, in Anführungszeichen. Ich war schüchtern und zurückgezogen und damit zufrieden, der Rhythmus-Gitarrist zu sein."
    Musik: "Restless Oblivion"
    "Aber am Ende, nach ein paar Jahren, hab ich gemerkt, dass ich tatsächlich singen konnte. Vor allem, als die Band dann aufgehört hat, die Instrumente runterzustimmen - unsere ersten Platten waren nämlich ganz doomig auf das tiefe H runtergestimmt, also fünf Halbtöne tiefer. Die machen viel aus, vor allem für den Gesang. Als wir also hochgestimmt haben, hab ich gemerkt, dass meine Stimme in der Lage gut klingt und dass ich wirklich singen kann. Und seitdem versuche ich, meine eigene Stimme zu finden."
    Mehrfach veränderter Musikstil
    Die eigene Stimme zu finden, ist auch für Anathema als Band Programm: Seit dem ersten Album haben die Briten ihren Stil mehrfach radikal verändert. Was anfangs Doom war, wurde zu Gothic und Punk-angehauchtem Rock und später zu atmosphärischem Rock mit Anleihen bei Pink Floyd. Anathema selbst würden ihre Alben im Plattenladen allerdings weder bei Doom noch bei Prog einsortieren, sondern bei Alternative Rock.
    "Da wo Radiohead stehen, und Coldplay und Muse und Elbow. Ich glaube, wir haben einen ähnlichen Sound wie diese Bands. Der einzige Unterschied ist, dass wir ab und an unsere Gitarrenverzerrer anschalten, aber das tun einige dieser Bands ja auch. Wir sind wie eine Alternative Rock Band, die manchmal etwas heavy klingt, aber außerdem spielen wir mit Elektronik, Klassik, Folk, Jazz... Klavier, Akustikgitarren, eine Sängerin, Streicher, Bläser, Beats. Ich glaube, Alternative Rock ist ein Oberbegriff, der das alles abdeckt, ohne sich zu sehr auf ein Genre festzulegen. Prog Rock ist dagegen seit den Siebzigern ein etabliertes Genre, und ich glaube wir haben viel mehr mit Radiohead gemein als zum Beispiel mit King Crimson, Yes oder Genesis."
    Musik: "Deep"
    Ein wichtiger Zwischenschritt in dieser Entwicklung war das Album "A Fine Day To Exit" aus dem Jahr 2001. Von Fans wird es gerne mal vergessen, sicher auch deshalb, weil in vergangenen Jahren seine Songs nur selten in den Setlisten von Anathemas Konzerten aufgetaucht sind.
    "'A Fine Day to Exit' ist ein Album, das für sich steht. Mit Alternative 4, dem vierten, hat die Band einen riesigen stilistischen Sprung gemacht. Dann kam "Judgement", was etwas rockiger klang, und danach hatten wir die Wahl: Bleiben wir bei unserer Formel, klingen wir noch rockiger, besinnen wir uns auf unsere Wurzeln oder versuchen wir, etwas völlig anderes und neues zu machen? Und ich glaube "A Fine Day to Exit" war genau das. Das Album beschreibt perfekt das, worum es unserer Band geht: Nach vorne schauen, neues probieren. Ich glaube, jedes unserer Alben klingt anders als sein Vorgänger, und "A Fine Day to Exit" ist einfach etwas komplett eigenes."
    Musik: "Pressure"
    "Ich bin wirklich stolz auf das Album"
    Im vergangenen Jahr haben Anathema wieder angefangen, Musik von "A Fine Day to Exit" live zu spielen. Ein Grund ist das aktuelle Album "The Optimist", ein Konzeptabum, das nicht nur im Sound Anklänge an "Fine Day To Exit" hat. Es gibt auch eine deutliche thematische Verbindung, sagt Cavanagh.
    "Wir haben uns also entschieden, "A Fine Day to Exit" und "The Optimist" miteinander zu verbinden, aus mehreren Gründen. Einer davon ist, dass "A Fine Day to Exit" gerne mal übersehen wird. Gleichzeitig ist die Geschichte unfertig geblieben, hatte noch kein Ende. Wir wollten also diese Geschichte wieder aufgreifen und gucken, wie wir sie mit "The Optimist" weitererzählen. Ich bin wirklich stolz auf das Album und ich glaube, wenn man nach dem Anathema Lieblingsalbum fragt, würde sich der Hipster für "A Fine Day to Exit" entscheiden."
    Musik: "Springfield"
    Seit Ende der 90er ist Vincent Cavanaghs Stimme nicht mehr die einzige, die den Sound von Anathema prägt. Seit Anathema ihre Doom-Wurzeln hinter sich gelassen haben, tritt Lee Douglas, die Schwester von Schlagzeuger John Douglas, immer mal wieder vors Mikrofon. Sie singt auf den letzten sieben Alben und ist inzwischen offizielles Bandmitglied.
    Eine Frau steht auf einer Bühne und singt in ein Mikrofon
    Lee Douglas bei einem Konzert in Italien (Alberto Gandolfo)
    Musik: "Endless Ways"
    "Wir haben ein bisschen gebraucht, um sie zu überzeugen. Das erste Mal hat sie 1999 für uns gesungen, auf dem Judgement-Album, und erst sieben oder acht Jahre später war sie bereit, endlich der Band beizutreten. Aber seitdem fühlt sie sich sehr wohl. Und auch bei ihr hatte es mit Selbstbewusstsein zu tun. Sie war schon immer ein größeres Naturtalent als ich, aber genau wie mir fehlte ihr das Selbstbewusstsein für die Bühne, sie war ein bisschen schüchtern. Aber jetzt ist sie mit jedem Song mehr und mehr in ihrem Element. Sie ist ein riesiger Teil des Anathema-Sounds, gerade in letzter Zeit."
    Musik: "Everything"
    "Vor drei Jahren haben wir eine Tour namens "Resonance" gemacht und Musik aus unserer kompletten Karriere gespielt, zusammen mit unserem alten Bassisten Duncan und unserem alten Sänger Darren."
    Musik: "Lovelorn Rhypsody"
    "Wir haben Songs vom ersten Album gespielt, die wirklich heavy sind, und natürlich waren auch im Publikum viele Metal-Fans. Aber ansonsten, und vor allem nach dem neuen Album, sieht man immer weniger Metalfans im Publikum. Oder sie sehen einfach anders aus, keine Ahnung. Für mich sieht das einfach nach einem Alternative Rock-Publikum aus, mit ein paar Prog-Fans dazwischen, und natürlich einer Handvoll Metal-Heads. Den meisten Leuten kann man nicht ansehen, was für Musik sie hören - und das ist doch eigentlich ganz cool."
    Anathema als Familienprojekt
    Anathema - ursprünglich Pagan Angel - hat als Projekt von drei Brüdern angefangen. Und auch heute besteht die Band vor allem aus zwei Familien: Die Cavanaghs, Daniel, Vincent und Bassist Jamie Cavanagh, der dritte Bruder, der die Band noch vor dem ersten Album verlassen hatte und 2002 zurückkehrte, außerdem John Douglas und seine Schwester Lee. Das einzige nicht-Familien-Bandmitglied ist der Multiinstrumentalist Daniel Cardoso, der mal Keyboards, mal Schlagzeug spielt. Anathema ist gleichzeitig Band und Familienunternehmen - und das war nicht immer einfach, sagt Vincent Cavanagh.
    "Ich glaube, als junger Mensch, gerade als Jugendlicher hat man noch viel zu lernen, über sich selbst, wie man mit Menschen umgeht, gerade mit der Familie. Aber wenn man älter wird, versteht man, warum die Familie zuerst kommen muss. So sehe ich das jetzt. Wenn man also versteht, dass man zuerst Brüder und Schwestern hat und dann erst Band-Kollegen, dann kommt man klar. Man kann nicht nur über die Band reden, wenn man mit den anderen nur auf dieser Ebene interagiert, fühlt sich das falsch an. Man fragt sich dann, warum verbringen wir überhaupt Zeit zusammen, liegt das nur an der Band? Und natürlich gibt es immer mal wieder Phasen, wo man sich nicht so viel zu sagen hat, und dann gibt es immer die Band, die einen zusammenhält. Aber um ehrlich zu sein, die Familie sollte immer zuerst kommen. Das darf man nicht vergessen."
    Ohne echten Hit
    Es überrascht nicht, dass Anathema nie einen echten Hit hatten - am wenigsten die Band selbst. Trotzdem gibt es einen Song, der aus ihren Konzerten schwer wegzudenken ist; meistens spielt die Band ihn am Ende, manchmal sogar zweimal. Das "Freebird", "Smoke on the Water" oder "Born to Be Wild" von Anathema ist: "Fragile Dreams".
    Musik: "Fragile Dreams"
    "Es ist einfach aufgebauter Song, die Stophe ist ruhig mit cleaner Gitarre, der Refrain ist heavy, viel Lead-Gitarre, gut zum Mitsingen geeignet... es ist eigentlich ein ziemlich klassischer Rocksong, einprägsam und nach "Schema F". Das ist auch der Grund, warum unsere Musik sonst nicht so klingt. Fragile Dreams folgt einer Formel, und genau das wollten wir eigentlich immer vermeiden."
    Musik: "Fragile Dreams"
    Anathema wollen sich nicht festlegen lassen. Nachdem das Album "We're Here Because We're Here" und der Nachfolger "Weather Systems" sehr ähnlich klangen hat die Band auf Distand Satellites, erschienen 2014, wieder am Sound gebastelt und ein neues Element eingeführt, das, zumindest für die Fans der ersten Stunde, radikal klingt. Electronica:
    Musik: "Distant Satellites"
    Der Versuch ist es wert
    "2009 haben wir eine Reihe von akustischen Konzerten gespielt, und haben dafür unsere Songs ein bisschen umarrangiert, für akustische Gitarren und Looper, zusammen mit dem Cellisten David Wesling. Und die Konzerte liefen so gut, dass wir uns gesagt haben, nehmen wir das doch auf. Wir sind immer offen für die Idee, dass ein Song mehr als eine Identität haben kann. Es kann die Albumversion geben und eine beliebige Anzahl anderer Versionen, entweder von einem selbst, oder als Cover von jemand anderem. Manchmal funktioniert das gut, manchmal nicht so, aber es ist den Versuch immer wert."
    Musik: "Everwake"
    "Es gibt den Mythos, dass wir unseren Sound so sehr verändert haben, weil wir unsere alten Alben nicht mehr mögen. Und das stimmt einfach nicht. Wir haben uns als Menschen entwickelt und das schlägt sich in unserer Musik nieder. Aber das heißt nicht, dass wir die Sachen aus unserer Anfangszeit nicht mehr mögen. Es ist so wie wenn man sich ein altes Fotoalbum ansieht, wir haben viele schöne Erinnerungen an diese Zeit - und vor allem auch an die Musik. Es ist ein Teil deines Lebens, Teil deiner Lebensgeschichte. Und warum sollten wir das leugnen. Im Gegenteil, wir wollen es ehren und die Leute daran erinnern, dass wir die Musik lieben und sie nochmal neu klingen lassen wollen. Deshalb haben wir die Chance ergriffen."
    Neues Ziel: Filmmusik
    Anathema haben einiges erreicht; ihr aktuelles Album "The Optimist" wurde bei den "Progressive Music Awards" Album des Jahres. Nicht schlecht für eine Band, die sich selbst mit dem Label "Prog" gar nicht so wohlfühlt. Trotz vieler Stilwechsel ist ihre Musik sich im Kern treu geblieben. Anathema hatten von Anfang an einen Hang zum Dramatischen, viel Traurigkeit, die in der Musik mitschwingt. Gerade in den letzten Jahren haben sie sich ihre eigene Nische geschaffen, zwischen Prog und Alternative Rock, und ihre treue Fangemeinde füllt zuverlässig die Konzerthallen. Als Headliner im "Olympia" in Paris zu spielen ist eine unerfüllte Ambition, aber nicht die einzige. Anathema klingen auf Alben wie "Falling Deeper" und "Weather Systems" sehr nach atmosphärischer Filmmusik - und genau da will die Band hin.
    Musik: "Can't Let Go"