Dienstag, 19. März 2024

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MeToo-Debatte
"Subtiler Sexismus ist das Vorfeld für echten Sexismus"

Die MeToo-Debatte habe nicht nur eine neue gesteigerte Empfindsamkeit für Sexismus geschaffen, sagte die "Zeit"-Journalistin Iris Radisch im Dlf - sondern sorgt auch für Diskussionen über die Grenzen und die Normalität von Erotik im Alltag. Das sei zu begrüßen - denn wenn man nicht wachsam sei, sehe man die Alarmsignale nicht.

Iris Radisch im Gespräch mit Sandra Schulz | 13.04.2018
    MeToo-Demonstration gegen sexualisierte Gewalt und sexistische Übergriffe am 28.10.2017 in Berlin Neukölln
    MeToo-Demonstration gegen sexualisierte Gewalt und sexistische Übergriffe in Berlin (imago / Bildgehege)
    Sandra Schulz: Wir wollen den Fall Dieter Wedel noch mal zum Ausgangspunkt nehmen, um über die Debatte zu sprechen, die seit einem halben Jahr läuft unter dem Kürzel #MeToo: Die Debatte um Sexismus, sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch, die Debatte über Fälle, in denen Männer Grenzen überschritten haben, einfach weil sie es konnten. Iris Radisch ist am Telefon, Feuilleton-Chefin der "Zeit", also der Wochenzeitung, die über den Fall Wedel im Januar zuerst berichtet hat. Stand jetzt, April 2018, was lernen wir aus dem Fall Wedel?
    Iris Radisch: Na ja. Ich lerne vor allen Dingen aus dem Fall Wedel, dass er eine wunderbare wichtige Debatte angestoßen hat, dass man sofort verstanden hat, dass das hier kein Einzelfall ist, obwohl es der bisher prominenteste und auch ein ganz singulärer Fall ist. Aber wir haben doch sehr schnell verstanden, dass er ein Symptom ist und dass er uns noch mal zurückblicken lässt auf die 80er-, 90er- und auch noch auf die 00er-Jahre, in denen es – das haben wir ja auch gerade gehört – noch eine andere Normalität gab, in der so was nicht hinterfragt wurde. Diese, ich würde wirklich auch sagen, Vergangenheitsbewältigung, die uns dann natürlich auch den Blick für die Gegenwart schärft, die ist ganz wichtig.
    "In den 00er-Jahre wurde der Sexismus weniger"
    Schulz: Das heißt, das was wir von Thomas Kleist gerade gehört haben, dass das Einschätzungen waren, dass es die Privatsache der Betroffenen war, diese Einschätzungen, zu denen heute keiner mehr kommen würde, das sehen Sie schon auch so?
    Radisch: Ich habe das ja zum Teil selber noch erlebt, zumindest die 90er-Jahre in der deutschen Medienlandschaft. Ich habe natürlich nie selber einen Missbrauch. Was heißt natürlich! Ich habe nie selber einen Missbrauchsfall erlebt. Aber ich habe doch erlebt, dass dieses Augenzwinkernde einfach noch da war, dass man gesagt hat, ja Mensch, das ist doch unser Sowieso und so weiter, dass man dieses ganze Platzhirsch-Gebaren, die Selbstüberschätzung vieler Journalisten einfach hingenommen hat; und das war natürlich das Vorfeld. Das war das Klima, in dem dann solche Fälle wie der Wedel-Fall möglich geworden sind, und das habe ich durchaus erlebt. Das hing ja auch damit zusammen, dass auch in den 90er-Jahren doch sehr, sehr wenige Frauen in verantwortlichen Positionen waren, die da ein Gegengewicht hätten setzen können. Die gab es wirklich in den 90er-Jahren noch nicht; das kommt ja erst seit den 00er-Jahren. Für mich sind die 00er-Jahre eigentlich so eine Wende, wo ich schon sagen würde, dass Sexismus immer weniger geworden ist und dass wir doch jetzt langsam eine ganz andere Kultur in der Medienlandschaft haben.
    Schulz: Noch einmal ganz kurz der Blick in die Vergangenheit, weil Sie das ja auch im Herbst schon, als die Debatte gerade ins Rollen kam, sehr eindrücklich geschildert haben, in der "Zeit", über die Zustände bei der "Zeit" selbst, über den früheren stellvertretenden Chefredakteur, der bis Mitte der 80er-Jahre da war und für den Sie, wenn ich es richtig gesehen habe, quasi einfach zu spät dran waren, der junge Redakteurinnen mit dem Satz begrüßt hat: "Ach schade, dass ich zu alt bin, mit Ihnen zu schlafen."
    Radisch: Das hat er mir gesagt, in der Tat.
    "Platzhirsche konnten sich im Machtgefälle der 90er wunderbar entwickeln"
    Schulz: Ach so! Okay, dann waren Sie nicht zu spät?
    Radisch: Nee, nee, nee, nee! Es war aber wirklich so und das war auch leider bekannt, dass es wirklich keine Praktikantin gab, die von ihm nicht in irgendeiner Weise belästigt wurde. Es ist auch später öffentlich geworden und natürlich hat man auch versucht, mit ihm zu reden. Aber ich sagte ja schon, es gab eigentlich doch immer so dieses Augenzwinkernde: Ach naja, der ist eben so. Und was man nicht verstanden hat ist, dass das, wie wir ja schon sagten, keine Frage von individuellen Dispositionen ist, was sicherlich auch eine Rolle spielt, aber dass es etwas Systemisches hatte, dass es wirklich darum ging, dass es ein grundsätzliches Machtgefälle zwischen Männern und Frauen war, was so gigantisch war bis Ende der 90er-Jahre, dass solche Platzhirsche sich darin wunderbar entwickeln konnten. Dieses Systemische ist so wichtig, in dieser ganzen Debatte immer wieder im Auge zu behalten, weil der #MeToo-Debatte ja sonst auch immer wieder vorgeworfen wird, sie hätte so viele hysterische Anteile. Aber ich denke, wenn man es sieht als ein Symptom und sieht auch als eine Aufforderung, wirklich die Kultur, die Unternehmenskultur sich kritisch anzugucken, dann ist es natürlich eine total begrüßenswerte Debatte, die ganz wichtig ist und die uns jetzt, glaube ich, auch wirklich einen Schritt weitergebracht hat.
    "Den Normalitätsbegriff immer wieder infrage stellen"
    Schulz: … und die jetzt ins Gegenteil kippt? Das frage ich Sie, Iris Radisch, nach dem Wutartikel von Jens Jessen in der "Zeit" in der vergangenen Woche, als er geschrieben hat von einem totalitären Feminismus.
    Radisch: Ja! Jens Jessen, mein geschätzter Kollege, sieht die hysterischen Anteile der Debatte mit großer Sorge. Er hat auch Angst, dass das, was eigentlich - und da benutzt er natürlich, finde ich, ein bisschen sorglos den Normalitätsbegriff – normal ist, nämlich einen vernünftigen und gleichberechtigten Umgang miteinander, dass das schon hysterisiert wird. Und ich finde, dass er nicht sieht, dass man den Normalitätsbegriff immer wieder infrage stellen muss. Das lernen wir ja gerade aus der Betrachtung der Vergangenheit, dass auch damals etwas als normal galt, was wir heute als überhaupt nicht mehr normal empfinden. Insofern muss man, finde ich, immer wieder sich fragen, ist das, was gerade gilt, was gerade der Standard ist, ist das normal. Diese Frage möchte er nicht stellen. Er findet, das sind einfach individuelle Straftaten. Es gibt da so ein paar Idioten, die selbstverständlich über die Stränge geschlagen haben, aber an und für sich sei doch alles in Ordnung. Und dieses an und für sich kann ich so nicht unterschrieben. Ich finde, dass man immer wieder neu jeden Standard, der gerade gilt, hinterfragen muss.
    Neue gesteigerte Empfindsamkeit sorgt für neue Aushandlungsprozesse
    Schulz: Wobei Jens Jessen jetzt auch alles andere als allein ist mit seiner Position. Es gab ja aus Frankreich die Stimme von Catherine Deneuve, da gab es Dutzende Unterzeichner eines Briefes, eines Schreibens, das gewarnt hat vor einer Kampagne der Denunziation. Was ist denn Ihr Gegenargument auf den Vorwurf, den ja unter anderem auch Jens Jessen erhebt, dass im Moment - bei dem Stand, der Debatte, den wir haben, im Grunde jeder Mann kurzerhand erledigt werden kann dadurch, dass Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn erhoben werden?
    Radisch: Das möchte ich nicht kleinreden. Selbstverständlich gibt es immer die Möglichkeit, dass es Denunziationen, dass es anonyme Anschuldigungen gibt, dass man subtilen Sexismus beklagt, der aber in Wahrheit vielleicht wirklich ganz harmlos ist und zu unserer ganz normalen erotischen Kultur natürlich auch gehören soll. Aber da wir ja jetzt nicht mehr so ganz genau wissen, was normal ist und was eine Übertretung ist, finde ich es richtig, dass wir es immer wieder diskutieren. Sich auf den Standpunkt zu stellen, wir wissen doch, was eine normale Erotik ist und was auch im Alltag und im Arbeitsalltag eine normale Erotik sein könnte, ich finde, das wissen wir überhaupt nicht. Und diese Verunsicherung, sich immer wieder zu fragen, was ist normal, was ist eine Übertretung, das immer wieder neu auszuhandeln, das gehört nun mal zu dieser jetzt neuen gesteigerten Empfindsamkeit mit dazu. Wir können uns da einfach nicht hinsetzen und sagen, wir wissen doch, was richtig und was falsch ist. Wir sehen, dass man es früher überhaupt nicht gewusst hat, und was macht uns so sicher, dass wir es heute wissen. Subtiler Sexismus ist nun mal das Vorfeld, in dem sich dann echter Sexismus vorbereitet, und wenn man da überhaupt nicht wachsam ist, dann sieht man die Alarmsignale nicht, die so ein Klima unter Umständen schaffen.
    "Flirten in Koordinaten eines Machtgefälles ist etwas anderes"
    Schulz: An das Kriterium müssen wir uns jetzt natürlich noch ganz kurz heranarbeiten. Die Frage ist ja – das ist auch die Frage von Deneuve, Flirten sei kein Delikt, das könne nicht verboten sein. Kann man die Grenze ziehen, die jetzt immer wieder vorgeschlagen wurde, dass die Grenze da überschritten ist, wo wir eine Machtkonstellation, ein Über-Unterordnungsgefüge haben?
    Radisch: Ja, ganz genau. Flirten, wie intensiv auch immer, ist natürlich wunderbar. Aber wenn es im Rahmen und in den Koordinaten eines extremen Machtgefälles und vielleicht auch altersgefälles geschieht, dann ist es natürlich etwas anderes, als wenn es zwischen zwei gleichwertigen und gleichberechtigten Partnern stattfindet. Gerade in einem Arbeitsverhältnis, wo es mit Abhängigen geschieht, Schauspielerinnen oder in den Medien jungen Praktikantinnen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, wenn da intensiv geflirtet wird, ist das einfach etwas anderes. Deswegen noch mal: Man muss immer das ganze System betrachten und kann sich nie nur von einem Augenblick leiten lassen, wo man sagt, der ist doch ganz harmlos, der darf sie doch mal dies und das. Dieses Machtgefälle, was es ja immer noch gibt, was es bis heute gibt, was ja noch lange nicht wirklich ausgeräumt ist, das spielt eine ganz große Rolle, und Erotik in einem Machtgefälle ist eine problematische Sache.
    Schulz: … könnte übrigens ja dann auch künftig mal in umgekehrten Rollen vorkommen, oder ist vielleicht auch schon vorgekommen.
    Radisch: Ja, genau!
    Schulz: Die "Zeit"-Feuilleton-Chefin Iris Radisch heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank!
    Radisch: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.