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Michael Ondaatje: "Kriegslicht"
Im Wesen einer Agentengeschichte

Mit "Der englische Patient" wurde der Schriftsteller Michael Ondaatje zu einem Weltstar. Sein neuer Roman "Kriegslicht" ist ein atmosphärisch starkes Buch, das auch von den unausgesprochenen Traumata eines Krieges erzählt, der mit seinem offiziellen Ende noch lange nicht zu vorüber war.

Von Christoph Schröder  | 20.08.2018
    Der Schriftsteller Michael Ondaatje bei der Verleihung des "Golden Man Booker"-Preises, den er für seinen Roman "Der englische Patient" erhalten hat. Der Golden Man Booker Prize wurde zum 50. Jubiläum des alljährlich verliehenen "Man Booker"-Preises vergeben.
    Der Schriftsteller Michael Ondaatje bei der Verleihung des "Golden Man Booker"-Preises, den er für seinen Roman "Der englische Patient" erhalten hat. (picture alliance / Photoshot / Justin Ng)
    "Wenn er kommt, wird er wie ein Engländer aussehen." Diesen Satz hat Rose in ihr Tagebuch geschrieben, und er bewahrheitete sich fast. Abgesehen davon, dass es eine Frau sein würde, die eines Tages kommen und sie umbringen würde. Ihr Sohn Nathaniel, der Ich-Erzähler des Romans, findet das Tagebuch nach ihrem Tod und beginnt, das undurchsichtige, für ihn verschlossene Leben der Mutter zu rekonstruieren. Und sein eigenes Leben dazu in ein Verhältnis zu setzen.
    Es ist eine seltsame, befremdliche Geschichte, die Michael Ondaatje erzählt. Sie hat etwas Bodenloses, etwas Schwebendes. Nicht zuletzt deshalb, weil Ondaatje, besonders im ersten Teil seines Romans, eine Sprache gefunden hat, an der jegliche Gewissheiten abperlen und die die aufgewühlte Stimmungslage seiner Figuren auf das Präziseste trifft.
    Ungeheuerlich ist im Grunde schon, wie alles anfängt: Unmittelbar nach Kriegsende, im Sommer 1945, erklären die Eltern des zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alten Nathaniel und seiner zwei Jahre älteren Schwester Rachel, dass sie die Kinder in London in der Obhut eines Bekannten zurücklassen würden. Sie, die Eltern, würden nach Asien gehen, wo der Vater die Leitung der Zentrale eines großen Konzerns übernehmen würde.
    Die Kinder nehmen das hin wie ein Naturereignis. Also reisen die Eltern ab und ein Mann, den die Kinder aufgrund seiner scheuen Bewegungen nur den Falter nennen, übernimmt die Verantwortung für sie. Auch wenn es zunächst nicht diesen Eindruck macht.
    Eine quasi vogelwilde Existenz
    Der gealterte Nathaniel, das ist die Erzählsituation des Romans, reflektiert Jahre später, was dieser Einschnitt für ihn bedeutet haben könnte:
    "So begannen wir ein neues Leben. Damals glaubte ich es nicht so recht. Und ich frage mich immer noch, ob die Zeit danach mein Leben beeinträchtigte oder mit Energie auflud. In jenen Jahren kamen mir die Gewohnheiten und Zwänge des familiären Lebens abhanden, und als Folge davon verhielt ich mich später unentschlossen, als hätte ich zu schnell meine Freiheiten verausgabt."
    Der erste Teil des Romans, in dem Nathaniel und Rachel eine quasi vogelwilde Existenz in einer von den Kriegsnachwehen geprägten Stadt führen, ist der weitaus stärkste. Obwohl und gerade weil man zunächst nicht so recht versteht, worauf die Abfolge von Szenen, die Michael Ondaatje arrangiert, überhaupt hinauswill. Doch irgendwann wird klar, dass eben diese Zusammenhangslosigkeit, diese halbanarchische Atmosphäre, die hier erzeugt wird, eine Spiegelung des Bewusstseinszustandes der Protagonisten ist.
    Alles scheint möglich, nichts ist verboten, auch weil der Falter wenig Wert legt auf erzieherische Maßnahmen und regelmäßige Schulbesuche. Es ist eine Poetik des Diffusen, die Ondaatje in Literatur fasst; ein Zustand zwischen Desorientierung und Freiheit, in den die elternlosen Jugendlichen hineingeworfen werden und der auch die Struktur des Textes selbst bestimmt.
    Halb- bis illegale Geschäfte
    Die Eltern werden nicht vermisst. Die klassische Ordnung wird durch einen Raum an Möglichkeiten ersetzt. Ein Mann, der nur der Boxer genannt wird und der in geschäftlicher Verbindung zum Falter zu stehen scheint, wird zur eigentlichen Bezugsperson der Geschwister. Der Boxer macht eindeutig halb- bis illegale Geschäfte und bindet Nathaniel wie selbstverständlich darin ein.
    In nächtlichen Fahrten über die Themse transportieren sie in einem Muschelboot Güter von einem abseitigen Ort zum anderen. Die Passagen, in denen Ondaatje diese entrückte Londoner Fluss- und Schattenwelt der Außenbezirke schildert, sind von einer großen suggestiven Kraft:
    "Ein kalter Wind fächerte das Wasser, von allen Seiten zerrten eisige Böen an uns. Ich ging davon aus, dass keine Gefahr drohte, wenn wir mit ihm zusammen waren. Ich hatte von Booten keine Ahnung, aber von Anfang an liebte ich die Gerüche, die so ganz anders waren als an Land, das Öl auf dem Wasser, Auspuffgase, die vom Heck her spuckten, und mit der Zeit liebte ich auch die tausendundein Geräusche des Flusses um uns her, die uns verstummen ließen, als befänden wir uns auf einmal in einem ruhigen Universum inmitten dieser rasch vorbeiziehenden Welt."
    Menschen tauchen auf und verschwinden wieder. Frauen, auf die der Boxer eine große Anziehungskraft ausübt, kommen und gehen. Nathaniel glaubt sich mehrfach von einem Mann verfolgt; einmal kommt es in einem Aufzug zu einer Art Überfall, dem er entkommen kann. Und in einem Hotel, in dem er als Aushilfe arbeitet, lernt Nathaniel die junge Agnes kennen, eine Auszubildende, mit der Nathaniel eine erotische Beziehung eingeht.
    Schwunghafter Schmuggel mit Windhunden
    In den Nächten treffen sich die beiden in verlassenen Londoner Wohnungen und lieben sich auf dem Fußboden. Und weil der Boxer zu dieser Zeit einen schwunghaften Schmuggel mit Windhunden begonnen hat, mit denen er bei Wettgeschäften viel Geld verdienen will, kommt es eines Nachts zu einer Szene, die sich auch dem gealterten Nathaniel noch ins Gedächtnis gebrannt hat:
    "Das Licht von Autoscheinwerfern fiel durch ein Fenster, und ich sah Agnes, nackt bis zur Taille, mit einem Hund über der Hüfte, während sie ihn einen Treppenabsatz tiefer trug – mit dem Hund, der sich vor Treppen fürchtete: ein heiliger Augenblick in meinem Leben, den ich zusammen mit den wenigen Erinnerungen aus dieser Zeit festgehalten habe, nicht ganz registriert und etikettiert."
    Eines Tages ist Rose, die Mutter, plötzlich wieder da. Nur sie. Vom Vater ist keine Rede mehr. Und was sich zuvor allenfalls angedeutet hat, wird nun zur Gewissheit: Dass man als Leser die ganze Zeit einer Agentengeschichte gefolgt ist. Dass die Mutter während des Krieges und auch nach dem Krieg für den Britischen Geheimdienst gearbeitet hat, zunächst als Funkerin an der Küste, später in einer anderen, äußerst heiklen Mission. Und es wird deutlich, dass jedes Detail, jede Beobachtung, die Nathaniel in der elternlosen Zeit gemacht hat, von Bedeutung war.
    Auch erzählstrategisch ist "Kriegslicht" ein bemerkenswertes Buch, weil Ondaatje im Nachhinein die zunächst nur mit atmosphärischer Bedeutung aufgeladenen Details in handlungsrelevante Elemente verwandelt. Jede Figur, die zuvor scheinbar zufällig im Orbit von Nathaniel und Rachel gekreist ist, entpuppt sich als Teil eines Netzwerks, das über die beiden Kinder wachen sollte.
    Nach der Rückkehr eine Leerstelle
    Ondaatje setzt ein Puzzle aus Erinnerungen zusammen, die aber stets in ihrer Konsistenz hinterfragt werden. Hilfreich sind dabei die Akten, die der gealterte Nathaniel sich später als Mitarbeiter des Außenministeriums heimlich besorgt und anhand derer er die Agententätigkeit seiner Mutter zu rekonstruieren versucht. Denn Rose, die Mutter, bleibt auch nach ihrer Rückkehr eine Leerstelle. Während Rachel sich von ihr abwendet, zieht der 18jährige Nathaniel mit ihr zurück nach Suffolk, in ihr Elternhaus. Doch Aufklärung darf er von ihr trotzdem nicht erwarten.
    "Wir gingen unter den kalten dunklen Bäumen. Sie wollte nicht umkehren, und eine Weile gingen wir so weiter, jeder für sich, kaum ein paar Worte wechselnd. So musste sie den Leuten vorgekommen sein, mit denen sie zusammenarbeitete, dachte ich, während ihrer lautlosen Kriege, inmitten dieser namenlosen Kämpfe.´
    "Kriegslicht" ist auch ein Roman, der von unausgesprochenen Kriegstraumata handelt. Sowohl Nathaniel und Rachel als auch Rose machen die Erfahrung, dass der Zweite Weltkrieg mit seinem offiziellen Ende noch nicht beendet war. Rose war nach ihrem Abschied von den Kindern in Italien und auf dem Balkan tätig, um dort den Kampf gegen Partisanentruppen zu führen. Sie hat sich die Hände schmutzig gemacht. Und sie hat die Rächer erwartet.
    "Kriegslicht" ist kein Agententhriller. Doch es liegt im Wesen einer Agentengeschichte, dass das, was im Dunkeln liegt, spannender ist als das, was später im Licht der Aufklärung erscheint. Dementsprechend liegt es in der Natur der Sache, dass Ondaatje im zweiten Teil die Fäden etwas gezwungen wieder zusammenführen muss, wenn er nicht ins Raunen geraten will.
    Dieser Plausibilitätszwang nimmt dem Roman etwas von der hohen Eleganz des Anfangs. Das ändert aber nichts daran, dass "Kriegslicht" gerade in der ersten Hälfte ein originelles und faszinierendes Buch von ungewöhnlicher Schönheit ist.
    Michael Ondaatje: "Kriegslicht"
    Aus dem Englischen von Anna Leube. Carl Hanser Verlag, 320 Seiten, 24 Euro