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Michael Rutschky
Das Alltägliche in den Blickpunkt rücken

Meister der Beobachtung, soziologischer Feldforscher und Alltagsmythenerkunder: Michael Rutschky hat in den letzten Jahrzehnten seine ganz eigene Stilart des Essays entwickelt. Sein neuestes Werk heißt "Mitgeschrieben" und kommt in ungewöhnlicher Form daher. Als Tagebuch - zugleich ist es aber mehr als das.

Von Ulrich Rüdenauer | 31.08.2015
    Publizist Michael Rutschky
    Publizist Michael Rutschky (Foto: Michael Rutschky)
    Rainald Goetz sagte einmal über seinen Internet-Blog "Abfall für alle", der sich mit den Dingen des Alltags und der Medien beschäftigte und später als Buch erschienen ist, es handele sich dabei um ein sehr persönliches Buch, aber nicht um ein privates. Vielleicht ließe sich das über literarische Tagebücher von Rang ganz generell sagen: Die persönliche Perspektive auf die Welt ist eben etwas ganz anderes als das Ausplaudern privater Peinlichkeiten, worauf Promi-Biografien oder Boulevard-Talkshows abonniert sind.
    Vom Tagebuch zum Lebensroman
    Die Form des literarischen Tagebuchs jedenfalls ist wesentlich komplizierter als es zunächst den Anschein haben mag; das Authentische transformiert sich schon allein durch den Prozess der schriftlichen Fixierung in etwas das Authentische unmerklich Verwandelnde. Unter der Hand findet eine Fiktionalisierung statt. Aus dem Tagebuch wird ein Lebensroman, der im besten Falle Zweifel und Fragwürdigkeiten zulässt und sich großer Checker-Gesten enthält.
    "Das ist ja die große Gefahr von Tagebüchern, dass man sich einbildet, man habe einen Überblick, den man in Wirklichkeit nicht hat",
    sagt Michael Rutschky zu seinen Tagebuchaufzeichnungen aus den frühen 80er-Jahren, die gerade unter dem Titel "Mitgeschrieben" erschienen sind.
    "Wenn man sich alleine damit beschäftigen würde, das, was in den letzten Wochen in der Zeitung gestanden hat, ins Tagebuch einzutragen, dann wäre die EU zerfallen und Griechenland wäre Pleite und Merkel wäre zurückgetreten und Sigmar Gabriel hätte Selbstmord begangen. Und ich weiß nicht was. Das ist eigentlich die große Gefahr des Tagebuchschreibens, der Narzissmus des Autors, der sich einbildet, er blickt durch."
    Michael Rutschkys Aufzeichnungen entgehen dieser Gefahr. Es sind Snapshots, Moment- und Nahaufnahmen, manchmal aus dem Augenwinkel wahrgenommene Szenen, in denen etwas zu kristallisieren scheint. Die dem Buch zugrunde liegende poetologische Prämisse geht zurück auf einen Besuch Rutschkys im Zentrum für Kinderpsychoanalyse, das Anna Freud in London betrieb:
    "(...) da gab es die Regel für Praktikanten, wenn sie im Kindergarten sich aufhielten und beobachteten: to write a card. Eine Karte schreiben, wenn ihnen was aufgefallen war. Also, nicht alles aufschreiben, was man gesehen hat, sondern nur das aufschreiben, was einem aufgefallen war. Und nach diesem Prinzip hab ich dann irgendwann angefangen, in den 80er-Jahren, Tagebuch zu führen. Das Buch fängt genau an der Stelle an, wo ich mit dem Tagebuch anfange. Und daran habe ich mich dann streng zu halten versucht."
    Das Gewöhnliche in den Blickpunkt rücken
    "Die Sensationen des Gewöhnlichen" heißt das Buch im Untertitel – diese Charakterisierung der Aufzeichnungen ist einer Schweizer Zeitschrift entlehnt, für die Rutschky von 1985 bis 1997 gearbeitet hat. Dass nach den von Theorie bestimmten und exaltierteren 70er-Jahren plötzlich das Alltägliche in den Mittelpunkt rückte, das Gewöhnliche und Abseitige und am Rand Liegende ins Auge gefasst wurde, erstaunt nicht so sehr.
    Die großen Weltdeutungsinstrumente waren stumpf geworden, viele Protagonisten der Linken hatten sich in ideologischen Kämpfen aufgerieben, Kohl war an der Regierung, und statt Marx las man jetzt Luhmann. Man musste sich neue Nischen suchen, andere Blicke auf die Welt werfen, die nicht mehr so leicht zu fassen war. Auch der Essayist Michael Rutschky fand in der kleinen Form ein ideales Medium, Erzählung und Reflexion, Subjektivismus und soziologische Beobachtung zu verbinden. Seine jetzt erschienenen Notizen leben von der literarischen Spiegelung der eigenen Lebenswirklichkeit. Ein Tagebuch ganz eigener Machart, in dem kein Ich seine Empfindungen mitteilt, sondern – wie schon in früheren Büchern – eine Figur namens R. auftritt:
    "Icherzähler ist immer gefährlich und vor allem natürlich bei einem Tagebuch: 'Liebes Tagebuch, die Welt ist schlecht, nur du verstehst mich.' So haben wir ja alle mal angefangen, und da muss man wirklich sehr aufpassen, und deshalb kriegt man den Autor des Tagebuchs auch besser in den Griff, wenn man ihn in die dritte Person versetzt, man kriegt sich dann deutlicher zu sehen, man kann beim Polieren noch das eine oder andere Wort hinzufügen, und dann wird es alles sehr viel klarer und deutlicher, als wenn man es in Form einer Konfession oder eines Geständnisses von sich gibt."
    Polieren ist das richtige Stichwort: An den Tagebüchern Rutschkys wurde gewissenhaft gearbeitet und gefeilt. Aus mehr als 600 Seiten sind 430 geworden. Man blättert nicht so sehr durch ein Erinnerungsbuch, sondern die Lektüre erscheint romanhaft. Figuren tauchen immer wieder auf, Motive sind genau gesetzt, es waltet eine gewisse Dramaturgie.
    "Und das ist natürlich eine Zeitreise in dieses München der frühen 80er-Jahre, aus dem ich ja dann 84 geflohen bin, weil ich irgendwie entdeckte, das ist wirklich nicht das richtige Milieu für mich."
    Bilder im Kopf
    Denkt man an das München der 80er-Jahre, hat man automatisch Helmut Dietl-Szenen im Kopf. Die gibt es bei Rutschky nicht unbedingt.
    "Nein, ich hab mich ja in diesen Kreisen nicht rumgetrieben. ( ... ) Obwohl es schon sehr merkwürdig war. Ich war bei sehr unterschiedlichen Zeitschriften beschäftigt: dem 'Merkur' einerseits, 'Transatlantik' von Enzensberger und Salvatore andererseits.
    Und das Komische war, die Parties, die man da feierte, waren irgendwie immer dieselben. Und es kamen auch ungefähr immer dieselben Leute. Und wenn Dietl dabei gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich die entsprechenden Bilder machen können. Also, von betrunkenen Großkopferten und aggressiven Flirts und solchen Sachen. Ungefähr getroffen hat's schon.
    Aber ich bin ja kein katholischer Bayer, sondern ein protestantischer Preuße, und deshalb ist mir das wahrscheinlich gar nicht so aufgefallen, was sich da alles in den Ecken so abspielte.
    Auslöser des selbstbeobachtenden Schreibens
    Die erwähnte Zeitschrift "Transatlantik" beansprucht zu Beginn des Buches breiten Raum. Sie war womöglich der Auslöser dafür, dieses Tagebuch zu führen – die Redaktionsarbeit erzeugte einen gewissen Leidensdruck, der sich in den Aufzeichnungen Luft macht. Man erfährt durch Rutschkys Wahrnehmung des Redaktionsalltags sehr viel über verschleierte und ganz offene Machtbeziehungen im Literaturbetrieb: Wer wen wie anredet, die Hand gibt, zum Essen einlädt oder nicht – das sind alles feine Distinktionsversuche. Die Unzufriedenheit mit diesen Strukturen ist aber mindestens ebenso groß wie die Freude, als Beobachter daran teilzuhaben.
    Die frühen 80er-Jahre nennt Rutschky heute seine "Angestelltenjahre": die Zeitschrift als Entree in den Betrieb. Viele Bekanntschaften entstehen, Kontakte, die dem freien Autor später nützlich sind. Aber freilich auch missglückte Annäherungsversuche. Mit Hans Magnus Enzensberger etwa ist Rutschky nie warm geworden.
    "Man hatte das Gefühl, wenn man mit Enzensberger sprach, er war eigentlich daran gewöhnt, mit Journalisten zu reden, die ihm ein Mikrofon unter die Nase hielten. Und so hatte man eigentlich immer das Gefühl eines leicht offiziösen Tons, in dem er mit einem verkehrte.
    (...) also, wir kamen überhaupt nicht miteinander zurecht, ohne dass das jetzt zu großen Schreiereien oder Streitereien oder sowas führte, das kann auch gut sein, dass das an mir lag, weil ich mich einfach, nachdem ich merkte, ich kriege keinen Kontakt, zurückzog und selber das imaginäre Mikrofon in die Hand nahm, wenn ich mit ihm zu tun hatte."
    Bestimmt das Redaktionsgeschehen und das Gebaren der Mitarbeiter den ersten Teil des Buches, so treten nachher, als Rutschky der Transatlantik den Rücken kehrt, andere Dinge ins Blickfeld: Man findet in "Mitgeschrieben" wunderbare kleine Beobachtungen des Nebensächlichen; manchmal fühlt man sich an Wilhelm Genazinos Flaneure erinnert, manchmal an Ernst Augustins Studien am Nacktbadestrand, wenn Rutschky mit seiner Frau Kathrin durch den Englischen Garten spaziert und Überlegungen zur Freizügigkeit, zu den Körpern und Posen der Münchener anstellt. Reisen nach London oder in die nähere Umgebung werden unternommen. Immer wieder sind Träume in die Aufzeichnungen eingestreut.
    "(...) zu meinen merkwürdigen literarischen Vorbildern gehört einerseits Walter Benjamin, von dem es auch sehr viele Traumaufzeichnungen gibt, immer unkommentierte Traumaufzeichnungen.
    Obwohl ich mich nun viel mit Psychoanalyse beschäftigt habe, habe ich darauf verzichtet, die Träume in dem Buch zu deuten. Und ein anderer Autor, der mich – ich muss es leider gestehen - einmal sehr beeindruckt hat, obwohl er zugleich immer auch abscheulich war, ist Ernst Jünger. Und Ernst Jünger ist ja auch ein großer Meister in der Schilderung eigener Träume, die eben auch immer so opak im Text stehen, ohne dass man so richtig Klarheit darüber gewinnt, was sie zu bedeuten haben. Es ist sozusagen nicht Poesie, die es jetzt erfordern würde, es als poetischen Text zu deuten, und es ist auf der anderen Seite aber auch nicht Reportage. Und diese Zwischenform, dass etwas anderes redet als ich, das ist schon sehr reizvoll, wenn man sich daran übt, sowas aufzuschreiben."
    Neben der Beziehung zu seiner Frau Katharina Rutschky, die intellektuell innig und sehr symbiotisch erscheint, ist eine andere Beziehung in diesen frühen 80er-Jahren von Bedeutung. Rutschky lernt damals den jungen Rainald Goetz kennen – der in München Medizin studierte, bereits in Geschichte promoviert hatte und erste Schreibversuche unternahm.
    "Um in den Betrieb reinzukommen, in die Literatur, Zeitschriften, Medien, braucht man jemanden, der von innen die Tür aufmacht. Und Rainald Goetz war zwar schon im Kursbuch vertreten, er war mit dem Kursbuch-Herausgeber Harald Wieser befreundet, aber bemühte sich eben andererseits um Kontakte. Und als ich beim Merkur anfing, musste ihm irgendjemand gesagt haben, unterhalte dich doch mal mit dem Rutschky, der ist vielleicht interessant für dich.
    Und so sind wir dann aufeinandergestoßen, und er hat auch im Merkur publiziert, und wir haben uns dann eng befreundet, und er war eigentlich eine Hauptperson der Münchener Jahre."
    Rutschky scheint Goetz fast adoptiert zu haben, und tatsächlich sagt Katharina Rutschky einmal den schönen Satz über den jungen Wilden, der bei Autofahrten gerne auf der Rückbank schlief: "In Wirklichkeit ist er eben doch noch ein Kind."
    Die Aufzeichnungen Rutschkys sind eine wichtige Quelle für ein Porträt des Künstlers Goetz als junger Mann.
    Das Tagebuch zeigt nicht nur in den Goetz-Passagen die Meisterschaft Rutschkys, auf kleinem Raum Geschichten und Zeitgeschichte zu erzählen. Im Lauf des Textes werden die Schilderungen – vielleicht auch, weil Rutschky die Redaktionsfron hinter sich gelassen hat – offener, länger, freier.
    "Das war ja der Sinn der Sache, dass ich wieder mehr Freiheiten eben auch in puncto Arbeit hatte. Und das hat sicherlich zugenommen. Andererseits war es auch sehr anstrengend, wenn man nicht daran gewöhnt ist, selbstständig zu sein, und das Ganze kulminiert ja dann in einem Herzinfarkt. Und das war irgendwie auch der plausible Abschluss des Buches, denn an sich hätte ich es natürlich fortsetzen können, es läuft ja weiter mit den Aufzeichnungen."
    Fortsetzung erwünscht
    Just in dem Moment, als die Rutschkys ins geliebte Berlin zurückkehren, hüpft das Herz ein bisschen zu wild. Der Herzinfarkt ist das romaneske Ende dieses bemerkenswerten Tagebuchs, aber nicht des Lebensromans. Man wünscht sich unbedingt eine Fortsetzung.
    Michael Rutschky: "Mitgeschrieben. Die Sensationen des Gewöhnlichen", Berenberg Verlag, Berlin 2015, 25,00 Euro.