Dienstag, 16. April 2024

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Michael Zeller: BruderTod
Nachempfundene Erfahrungen eines Kindes

Der Wuppertaler Autor Michael Zeller gehört zu jenen Schriftstellern, die zwar regelmäßig publizieren und für ihre Bücher auch oft ausgezeichnet werden, dem breiten Publikum aber dennoch wenig bekannt sind. Nun hat Zeller, der im vergangenen Herbst 70 geworden ist, sein persönlichstes Buch geschrieben: BruderTod - die Rekonstruktion einer tragischen eigenen Familiengeschichte.

Von Marta Kijowska | 19.08.2015
    Blick von der Elisabethenkirche auf den mittelalterlichen Marktplatz in Wroclaw (ehemals Breslau) in Polen,
    Michael Zeller verließ 1957 Breslau. (picture-alliance / dpa)
    Es ist Januar 1957. Michael Zeller ist gerade zwölf Jahre alt geworden. Er, seine Mutter und seine zwei älteren Brüder, Wolf und Hellmut, wohnen seit kurzem in Bad Homburg, in einer neuen Stadtrandsiedlung. Sie sind hierhergezogen aus der fränkischen Kleinstadt Miltenberg, wo sie ein tristes Flüchtlingsdasein geführt hatten. Denn dorthin waren sie 1945 aus Breslau geflohen, wo Michaels Vater letzter Regierungspräsident von Niederschlesien gewesen war.
    Nun gilt er als verschollen, und seine Frau und die drei Söhne, die all die Jahre auf ihn gewartet haben, wollen ein neues Leben beginnen. Das kleine, noch nicht ganz fertige Haus in Bad Homburg kann sich zwar mit der Prachtvilla in der Breslauer Akazienallee nicht messen, dennoch sind sie voller Hoffnung, hier auf Dauer bleiben zu können. Sie richten ihr neues Zuhause ein, lernen die noch wenigen Nachbarn kennen. Alles scheint sich langsam zu normalisieren – bis zu dem Abend des 31. Januar, an dem Michael und seine Mutter von einer Einkaufstour zurückkommen.
    "Als wir um die Ecke bogen und in die dichte Schwärze der letzten Straße hineingingen, leuchtete am Ende das Haus. Unser Haus. Es strahlte im Licht. So hatte ich es in den paar Wochen, seit wir hier wohnten , noch nie erlebt. Mutter war sofort alarmiert. Rannte los. Ich ihr nach, aber ohne jeden Ehrgeiz, schneller zu sein als sie. Die Haustür offen. Jedes Fenster hell. Dieses ganze Licht überall."
    Mit diesen Sätzen beginnt Michael Zellers Buch BruderTod, eine exakte und beklemmende Bestandsaufnahme jener Umstände, die zu dem Selbstmord seines fünf Jahre älteren Bruders Hellmut geführt haben. Der Autor hat fast 60 Jahre gebraucht, um dafür die richtige Form und die passenden Worte zu finden. Und um diesen Suizid endlich zu begreifen oder zumindest – wie er selbst sagt – dafür reif zu werden, dessen mögliche Gründe mit aller Schonungslosigkeit zu benennen.
    "Ja, Reife – das ist das Wort, das passt. Dahinter steckt natürlich ein Lebensprozess, ein Älterwerden und ein Größeren-Abstand-Gewinnen. Aber auf der anderen Seite kam mir das Geschehen aus der Kindheit, aus der frühen Jugend immer näher, und deshalb habe ich auch versucht, auf einem kleinen Raum ein Kaleidoskop der 50er-Jahre zu geben, wie es von Kindern erlebt worden ist. Das ist ja wichtig, dass die Perspektive dieses Buches hauptsächlich eine kindliche ist. Ich wollte also nicht mit meinem Erwachsenenwissen nachkarten, sondern ich habe versucht, die Erfahrung eines Kindes so nachzuempfinden, wie ich und Hellmut, Hellmut und ich, das seiner Zeit erlebt haben. "
    Dennoch kann man nur bedingt von gemeinsamen Erfahrungen der beiden Brüder sprechen. An das sorglose, komfortable Leben in Breslau konnte sich nur Hellmut erinnern – für Michael Zeller bedeutete dieser Name nichts weiter als einen fremd geblieben Geburtsort. Und genauso verhielt es sich mit dem Vater, den er zwar, wie der Rest der Familie, liebevoll "Papi" nannte, dabei aber weder Sehnsucht noch Stolz empfand.
    "Während meiner gesamten Schulzeit, bis zum Abitur 1965 im hessischen Bad Homburg, war im Klassenbuch unter der Rubrik Beruf des Vaters selbstverständlich Regierungspräsident eingetragen. Meinen Mitschülern war das egal. Doch für mich war der Titel eine genauso ominöse Größe wie das prächtige Haus in Breslau, das wir bewohnt hatten, hieß es. Für Wolf und Hellmut aber sah das anders aus. In ihrer Phantasie lebten und arbeiteten eigene frühere Erfahrungen und Bilder und Gerüche weiter, von denen ich unberührt war und ausgeschlossen."
    War also die Gewissheit, den geliebten Vater für immer verloren zu haben, und die Trennung von der vertrauten, im Laufe der Jahre immer stärker idealisierten Breslauer Umgebung der Grund für Hellmuts Selbstmord? Das mit Ja zu beantworten, wäre nach Zellers Ansicht eine zu weit gehende Vereinfachung.
    "Es hat nach seinem Tod natürlich das eine oder andere Gerücht gegeben. Aber wir haben nie einen plausiblen Grund finden können, an dem man sagen könnte, ja, das war es. Es ist ein Bündel von Gründen. Für mich ist entscheidend der Bruch, der Weggang von Miltenberg nach Bad Homburg, diese unwirkliche, höchst unwirkliche Gegend, und dann auch das Bewusstsein: Hier kommt der Papi nicht hin, der kennt die Adresse gar nicht – so denken Kinder. Und da hat er gewusst: So, das ist jetzt mein Leben. Es gibt kein Breslau mehr, es gibt keinen Papi mehr, es gibt kein schönes Leben mehr, sondern hier, in dieser Kleinbürgerbutze wirst du die nächsten Jahre leben – mit völlig fremden Menschen, Mitschülern, die er nicht kannte. Und, das war es. Er war kerngesund, da war nicht nichts. Man hat gesagt, vielleicht hat er einem Mädchen ein Kind gemacht. Davon war gar nicht die Rede, das war ein kindlicher Junge. Deshalb habe ich es auch im Untertitel 'Ein Kinderleben' genannt."
    Mit der Geschichte seiner Familie hat sich Zeller schon mehrmals befasst, wenn auch nie in direkter Form. Die deutlichsten autobiographischen Züge trug sein Roman "Café Europa", dessen Fragment er in sein neues Buch einfließen lässt. Mit gutem Grund: Der Roman handelt von einem deutschen Schriftsteller, der nach Krakau und dann nach Breslau fährt, von wo seine Familie kurz nach seiner Geburt hatte fliehen müssen – wie einst die von Michael Zeller. Nur fiel dem Letzteren, der eine solche Reise tatsächlich unternommen hatte, erst viel später ein, dass er bei dieser ersten Wiederbegegnung mit Breslau an seinen Bruder gar nicht dachte.
    "Bis in welche Tiefe meiner Person muss ich berührt worden sein, dass mir Hellmut und sein Sterben vollkommen aus dem Sinn fallen konnten? Und ich ihn damit verriet? Ja, es war Verrat. Denn das Haus in der Breslauer Akazienallee mit diesem Garten war sein Haus gewesen. Keiner hat es so besessen wie er. Ihn hat es schließlich das Leben gekostet."
    Auch mit dem unbekannten Vater setzte sich Zeller damals, während seiner Breslau-Reise, kaum auseinander. Um so mehr tut er es jetzt, in seinem neuen Buch. Das Urteil über Dr. Hans Zeller, der zwar keine Begeisterung für den Nationalismus empfand, im Laufe seiner Karriere aber dennoch enger Mitarbeiter von Joseph Goebbels und schließlich Regierungspräsident von Niederschlesien wurde, überlässt er allerdings dem Leser. Es sei ohnehin nicht einfach gewesen, so Zeller, diese Informationen zusammenzutragen. Also habe er alles, worauf er im Laufe der Jahre gestoßen sei, immer gleich aufgeschrieben. Das gelte übrigens für das ganze Buch.
    Das Ergebnis ist wirklich beeindruckend: BruderTod besticht allein dadurch, dass die Fülle der Fakten und der ständige Wechsel der Zeitebenen eine besondere Dichte erzeugen. Hinzu kommt aber, dass es eine ganz eigene Form hat, die sich jeder Genre-Zuordnung entzieht: Es setzt sich nämlich durchgehend aus kurzen Fragmenten zusammen, die oft wie Teile eines Prosagedichts wirken und gleichzeitig so ungekünstelt sind, als wären es nur Notizbuch-Eintragungen.
    "Das wollte ich mir auch versagen, ich wollte kein Kunstbuch schreiben, ich wollte das nicht literarisieren, dazu war mir der Stoff zu schade, ehrlich gesagt. Ich wollte nach der Wahrheit suchen und nicht irgendeine schöne literarische Fiktion haben. Insofern ist das Buch auch unliterarisch, und ich bin natürlich dankbar - und das höre ich hin und wieder -, dass es gerade deshalb vielleicht als ein literarisches Buch gelesen wird."
    Mit BruderTod hat der Wuppertaler Autor wohl sein persönlichstes Buch geschrieben. Nicht zuletzt deswegen, weil er dabei, wie er selbst sagt, manche Zusammenhänge richtig begriffen und so einige Kindheitserinnerungen korrigiert hat. Doch da gibt es noch etwas anderes: Unter anderen Umständen hätte Michael Zeller möglicherweise einen anderen Beruf gewählt. Seit Hellmuts Tod hielt sich aber der Mythos fest, er sei der literarisch Begabte gewesen, er wäre ein Schriftsteller geworden. Da er aber gestorben war, musste es ein anderer aus der Familie tun. Zum Beispiel sein jüngerer Bruder.
    "Ich will nicht ganz ausschließen, dass dieser Mythos vielleicht ein Wunschgebilde meiner eigenen Phantasie sein könnte. Selbst wenn so wäre: Entscheidend ist und bleibt, dass Hellmut mein stummer Begleiter ist, seit ich schreibe. Ich schreibe für ihn. An seiner Stelle."
    Michael Zeller: "BruderTod. Ein Kinderleben."
    Universitätsverlag Brockmeyer, Bochum 2014. 142 Seiten, 14,90 Euro.