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Michel Foucault
Das Christentum als Religion der Beichte

Der französische Philosoph Michel Foucault hat sich sein Leben lang mit der Frage nach den Ursprüngen des abendländischen Subjekts beschäftigt. In seinen Vorlesungen über die "Regierung der Lebenden" von 1980 ging er dabei auf die frühen christlichen Beichtzeremonien ein - mit Erkenntnissen auch für den heutigen Menschen.

Von Ruthard Stäblein | 22.06.2015
    Der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Foucault
    Der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Foucault (dpa / picture alliance)
    Wie kann man ein Studienjahr lang Vorlesungen halten über entlegene Texte von Kirchenvätern aus dem 3. und 4. Jahrhundert nach Christus? - Wo es um komplizierte Taufverfahren und Bußrituale geht, die heute keiner mehr versteht oder gar einhält! – Und das am renommiertesten Institut, das die französische Wissenschaft hervorgebracht hat. Am Collège de France. Und das vor einem Publikum, das aus aller Welt nach Paris pilgert, um diese Stimme zu hören. Man nimmt in Kauf, nur einen Platz auf den Stufen zu ergattern, gar in einen zweiten Saal verwiesen zu werden, wo die Stimme des Meisters übertragen wird. Also, man kann über die Kirchenväter reden und zwei Säle füllen, wenn man Michel Foucault heißt, und erklären kann, dass man sich dabei an einem Ursprungsort befindet: Wo und wie ist das entstanden, was wir heute Ich nennen: Foucault resümiert den Wendepunkt auf seinem Forschungsweg, der ihn 1980 zu seiner Vorlesungsreihe über "Die Regierung der Lebenden" geführt hat:
    “Ich würde nicht sagen, dass ich ein großer Denker unserer Epoche bin. Was mich seit 15 bis 20 Jahren beschäftigt hat, kommt jetzt an die Oberfläche. Ich war mit meiner Taucherglocke ganz unten im Ozean. Ja, ja, ganz unten. Ich komme mir vor wie jemand, der untergetaucht wäre, der sich in seiner Taucherglocke, zwischen Sand und Felsen befand, und jetzt also wird der Grund des Meeres hoch gespült, und ich befinde mich beinahe an der Oberfläche des Wassers."
    Die große Frage, mit der sich Michel Foucault sein Leben lang beschäftigt, ist die Frage nach den Ursprüngen des modernen, abendländischen Subjekts. Wie sind wir zu dem geworden, was wir heute sind. Foucaults erste These: Die moderne Vernunft hat einen Geburtsfehler. Sie beginnt mit dem Ausschluss des Anderen der Vernunft, der Unvernunft, des Wahnsinns. Das System von Vernunft und Wahnsinn ist im 17. / 18. Jahrhundert entstanden. Die Wahnsinnigen laufen nicht mehr im Dorf herum, sondern werden weggesperrt. Was man mit den "Narren" im Namen der Vernunft macht, ist selbst Wahnsinn. Foucault ergreift Partei. Er wird zu einem Wortführer der Vernunftkritiker. Über 15 Jahre erforscht Foucault die Techniken, mit denen das moderne Subjekt hergerichtet und abgerichtet wird. Bis etwa 1975 konzentriert er sich dabei auf das 17. und 18. Jahrhundert, auf das französische "klassische Zeitalter", das dort auch das "Zeitalter der Vernunft" genannt wird.
    Mit den "Vorlesungen" über die "Regierung der Lebenden" von 1980 aber erweitert Foucault seine Perspektive. Er erkennt in den Tauf- und Beichtzeremonien um 300 nach Christus eine tiefere Quelle. Schließlich erklärt er selbst den Zusammenhang zwischen dem Subjekt als Untertan und dem Subjekt, das Ich sagt, sobald es die Wahrheit über sich sagt: "Wir müssen uns selbst überwachen, in uns die Wahrheit hervorholen und denjenigen darbieten, die uns beobachten, die uns überwachen, die uns beurteilen und die uns führen, wir müssen den Hirten also die Wahrheit dessen, was wir sind, offenbaren."
    Das kann durch ein allgemeines Bekenntnis der Sündhaftigkeit vor der Gemeinde vollzogen werden, oder in der Form eines stillen Gebets geschehen, oder als Ohrenbeichte mit genauer Aufzählung der Sünden nach einem Register. Jedenfalls gilt: "Das Christentum ist im Wesentlichen die Religion der Beichte."
    Es geht um die Gewissensprüfung. Der Einzelne soll seine "geheimsten Gedanken" preisgeben. Nach zehn Vorlesungen kommt Foucault zu dem Schluss: "Die Subjektivierung des abendländischen Menschen ist christlich“.
    Erst der Kirchenvater Tertullian erfindet um 300 die Erbsünde und damit die Macht eines Teuflischen auf die Seele. Dieses Teuflische gilt es zu erkunden durch Wahrheitsprüfungen. Durch das Eingeständnis: Ich bin vom Prinzip her ein Sünder, von Geburt an, durch die Erbsünde. Aber ich kann meine Seele retten. Indem ich alles offenlege, was ich bisher getan habe, durch die Techniken der Selbstbefragung. Durch das Bekenntnis all meiner Sünden. Erst danach erfolgt die Erneuerung, die Wiedergeburt, die Konversion. Erst dann darf ich mich taufen lassen, weil ich dann schon rein bin für das Taufwasser, das den Akt der Konversion nur vollzieht.
    "Doch darf die Besorgtheit niemals aufhören, darf man sich nie sicher sein, dass man erlöst wird. Wenn man den Glauben will, darf man sich dessen, was man selbst ist, niemals sicher sein. Ein Christ darf niemals die Furcht verlieren. Er muss wissen, dass er immer in Gefahr ist. Er muss immer in Sorge sein. Die Gefahr legt sich nie; nie ist er sicher, nie findet er Ruhe."
    Durch diese Arbeit am Selbst, durch "Askese" werde ich bereit für die Empfängnis der Wahrheit, für das Glaubensbekenntnis. Foucault interessiert sich dabei nicht für die Dogmen der Kirche, sondern für die Praktiken, die Techniken, zur Erforschung des Selbst, also nicht für die Wahrheit, sondern für das "Wahrsagen", wie Foucault sich ausdrückt. Denn der Mensch wird durch Wahrheitsfindung regiert. Der entscheidende Wendepunkt bei der Herausbildung des modernen Subjekts aber erfolgt erst im 4. Jahrhundert nach Christus, mit der Perfektionierung der Beichttechniken.
    All diese Genealogien, diese Erkundungen über die verschiedenen Ursprünge des modernen Subjekts sind nicht nur für das lebenslange Forschungsprojekt von Michel Foucault interessant. Sie können auch Anregungen geben für das Verständnis der modernen Literatur seit Augustinus bis zu Christoph Schlingensief. Immer und immer wieder wird die eine und selbe Beichtmethode praktiziert: Ich entblöße mich selbst. Ich bekenne alle meine Fehler. Nur dass die Freisprechung nicht mehr durch einen Beichtvater erfolgt, sondern durch das lesende und zahlende Publikum. Und der Preis wird gesteigert, die Auflagenzahlen erhöht, wenn man als Schriftsteller besonders erregende, missfallende Taten aufschreibt. Die Selbstentblößung führt zur Selbstentblödung. Auch das ist ein Prozess der modernen Subjektivierung. Nur der wird wahrgenommen, der sich selbst ans Kreuz nagelt. Heute jedoch ohne Schuldempfinden. Das mea culpa, das Klopfen auf die Brust übernimmt die Werbetrommel.
    Michel Foucault: "Die Regierung der Lebenden - Vorlesungen am Collège de France 1979-1980", Suhrkamp 2014, 48 Euro