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Michel Winock: "Flaubert. Biografie"
Verächter der Massen

Der französische Romancier Gustave Flaubert hatte zwei Gesichter: Er führte ein Leben als Bourgeois und verachtete gleichzeitig die Moral und Dummheit des Bürgertums. Zum 200. Geburtstag Flauberts hat der Historiker Michel Winock nun eine Biografie vorgelegt, die durch ihre packende Erzählweise besticht.

Von Ruthard Stäblein | 10.06.2021
Der Autor Michel Winock und das Buchcover von „Flaubert. Biografie“
Gustave Flaubert - Der Romancier tat sich schwer mit dem Schreiben und den Frauen (Cover Hanser Verlag / Autorenportrait Francesca Mantovani © Editions Gallimard)
"Madame Bovary – c´est moi" – "Madame Bovary, das bin ich", soll der französische Romancier gesagt haben. Der Ausspruch wird gerne angeführt, wenn von Gustave Flaubert oder seinem bekanntesten Roman "Madame Bovary" die Rede ist. Das Zitat steht indessen nicht bei Flaubert, sondern bei einem späteren Kritiker, der es nur vom Hörensagen einer Zeitzeugin übernimmt. Nachzulesen in der Flaubert-Biographie von Michel Winock. Flaubert hat sich weder in seinem Werk noch in seinem Leben je mit einer Frau identifiziert. Der französische Historiker Michel Winock geht noch weiter. Er findet: Flaubert hat die Frauen immer auf Distanz gehalten. Und er erfindet für Flauberts liebste Art einer Frauenbeziehung die griffige Formel der "postalischen Liebe". Mit der um 10 Jahre älteren Schriftstellerin Louise Colet führte Flaubert eine solche Fernliebe mit beigelegtem Briefverkehr. Wenn der fleißige Flaubert, der in seinem Landhaus in Croisset nahe bei Rouen 10 bis 14 Stunden am Tag bis in den Morgen hinein las und schrieb, wenn dieser Flaubert also eine Arbeitspause brauchte, setzte er sich in den Zug nach Paris. Dort, oder auf der Zwischenstation in Mantes, traf er dann für ein paar Tage und Nächte seine Geliebte Louise. Und erfüllte sich den Traum eines wilden und kurzen Liebeslebens. Seiner Mutter hingegen, mit der er in Croisset zusammen lebte, stellte er Colet nie vor.
In den fast täglich wechselnden Briefen äußerte Flaubert ziemlich direkt sein Begehren, ausführlicher noch seine Sorgen um sein Werk: Seine Überlegungen, wie er seinen Roman "Madame Bovary" anlegen will. So taucht in den Briefen an Colet die Poetologie Flauberts auf, die er in seinen Werken versenkt:
"Der Autor ist wie Gott überall in seinem Werk anwesend, aber nirgends sichtbar. Der Autor moralisiert nicht, er beobachtet und beschreibt nur, aber das auf das Genaueste. Das Urteil über sein Werk überlässt er seinem Leser. Der Autor ist unparteiisch und schreibt unpersönlich, bleibt undurchdringlich, kalt, distanziert."
Die "postalische Liebe" endet in der Erkenntnis von Louise Colet:
"Gustave liebt mich ausschließlich um seinetwillen, als krasser Egoist, um seine Sinne zu befriedigen, und um mir seine Werke vorzulesen."

Alles für das Werk

Für Flaubert bleibt die Liebe im "Hinterzimmer", wie er an Louise Colet schreibt, im Vordergrund steht sein Werk, für das er alles opfert. "Sacerdotal", priesterlich, nennt sein Biograph Winock dieses Verhältnis Flauberts zu seinen Schriften. Als "Eremit", als "menschenscheuer Einsiedler" widmet Flaubert sich seinen Büchern in seiner Landvilla von Croisset.
Jahrelang schreibt Flaubert an einem Roman, liest dafür hunderte Bücher, recherchiert das kleinste Detail und feilt an seinen Sätzen. Sie müssen einen "Brülltest" bestehen, um ihre Musikalität zu erweisen. Nur vier Romane, drei Erzählungen und ein unspielbares Theaterstück sind das Ergebnis seines Priesterdienstes: Die Romane "Madame Bovary", "Lehrjahre der Männlichkeit", "Salammbo", "Bouvard und Pécuchet"; die Erzählung "Ein schlichtes Herz" und das Drama "Versuchung des Hl.Antonius"; so heißen seine wesentlichen Werke. Der Biograph Winock interessiert sich jedoch kaum für diese Schriften, was ihn zu einseitigen Interpretationen verleitet.

Salammbo als Urbild der Loulous und Lolas

So taugt Flauberts Roman "Salammbo" nach der Ansicht von Winock nichts, weder als "historisches Buch" noch als Roman,
"der berührt, bewegt, aufwühlt. Es handelt sich um eine Reihe von Bildern in lebhaften Farben, um ein Poem in Prosa von ermüdender Länge, bestenfalls um eine Art Oper."
Urteilt Winock und verkennt die Wirkungskraft von Flauberts "Salammbo", dieser Tochter Karthagos, die als Urbild einer "femme fatale" auf all die Loulous und Lolas und aktuellen Vamps im Kino ihren Einfluss geltend macht.
Der Historiker Winock müsste das eigentlich wissen, denn er hat ein umfangreiches Buch über die französische "Décadence" geschrieben, in der die Frauenfigur der "femme fatale" eine zentrale Rolle spielt.

Die Dummheit der Schreiberlinge und Biedermänner

Auch über die beiden Biedermänner "Bouvard und Pécuchet" irrt sich Winock, wenn er meint:
"Es wäre ein Leichtes, den Weg der beiden als positive Entwicklung zu Klugheit und Verstand nachzuzeichnen."
Diesen Nachweis erbringt Winock nicht. Er kann ihn auch nicht leisten. Denn die beiden Romanfiguren Bouvard und Pécuchet sind nach geschätzt vierzig-jährigen pseudowissenschaftlichen Experimentierens "genauso klug als wie zuvor". Um Goethes Faust zu zitieren, den Flaubert für seine Abrechnung mit der "Dummheit" von kleinbürgerlichen Schreiberlingen neben etwa tausend weiteren Büchern - nach eigenen Angaben - gelesen hatte. Kurz zum Hintergrund:
Bouvard und Pécuchet leben in Paris als Kopisten und träumen vom Leben auf dem Lande. Bouvard erbt, und die beiden Freunde kaufen sich ein Landgut. Sie ruinieren es und sich mit ihren Experimenten. Am Ende wollen sie wieder nach Paris zurückkehren und – wieder als Kopisten - nur noch die "Dummheiten" von berühmten Autoren abschreiben. Das ist zum Verzweifeln und liest sich wie eine Komödie. Flaubert ist 1880 im Alter von 58 Jahren über der Arbeit an diesem komischen Roman gestorben. Sein Werk "Bouvard und Pécuchet" blieb unvollendet. Es könnte auch als ironisches Selbstportrait empfunden werden: Flaubert, der liest und liest und mit seinen Romanen nicht vorankommt.

Der Romancier mit den zwei Gesichtern

Portrait ist das Stichwort. Im Zeichnen eines Portraits von Flaubert erweist sich der Biograph Michel Winock endlich als Meister und Künstler. Am Ende seiner Biographie skizziert Winock seinen Flaubert als "Homo duplex", als Menschen mit zwei verschiedenen Seiten: Er war Bourgeois und hasste die Bürger. Als reicher Erbe eines fleißigen Arztes und einer wohlhabenden Mutter konnte er von der Verpachtung eines Landguts und von Zinsen leben, in Paris als Dandy mit Frack und weißen Handschuhen die Salons besuchen, seinen Charme bei den Frauen ausspielen, die Nichte Napoleons, Princesse Mathilde, hofieren, Bordelle besuchen, in den Orient reisen; mit der Unterstützung seiner Mutter, die ihm allein für diese Reise umgerechnet etwa 100.000 Euro spendierte. "Sextourismus" überschreibt Winock dieses Kapitel der Abenteuer Flauberts, dessen ständiger Begleiter die Syphilis war.
Umgekehrt verabscheute Flaubert alles Bürgerliche: das kleinbürgerliche Moralisieren, die Obsession des Geldes, vor allem die Ehe. Er hatte Angst vor jeglicher Bindung an eine Frau – außer an die Mutter und seine Nichte Caroline, für die er sogar sein Eigentum hergab und zum Schluss prekär lebte. Gebunden allein an sein Werk, das er in Abgeschiedenheit auf seinem Landsitz in Croisset verfasste. Er fühlte sich als Geistesaristokrat, verachtete die Massen und die Demokratie und wurde gegen Ende seines Lebens fast noch zu einem Republikaner. Wie der Historiker Winock heraus stellt.
"Mal Stadtratte, mal Landratte, erweist sich Flaubert als janusköpfig. In Croisset führt er, nach eigenen Worten, ein sehr wenig "vergnügliches" Leben; in Paris dagegen: mondäne Abendgesellschaften, feuchtfröhliche Festessen, ein wirbelndes literarisches und galantes Leben. Drei Viertel des Jahres "ackert" er in der Einsamkeit, vorzugsweise nachts. Manchmal empfängt er Freunde. Er ist der treue, gefällige, loyale, niemals lästernde, großzügige Freund, an dessen Tür in Paris man niemals vergeblich klopft. Er liebt es ungemein, zu reden, zuzuhören, zu trösten, zu verführen, zu amüsieren."

Distanz zu den Frauen

Michel Winock entwirft ein schillerndes Charakterbild von Gustave Flaubert und bietet ebenfalls kenntnisreiche Einsichten in die französische Geschichte des 19. Jahrhunderts. Insbesondere in die Geschichte der Revolutionen von 1848 und der Commune von 1871, sowie über die Haltung der Schriftsteller und Intellektuellen zu den politischen Ereignissen. Da ist Winock auf seinem Terrain. Darüber, über "Das Jahrhundert der Intellektuellen", hat er ein eigenes, viel beachtetes Buch geschrieben. Er versteht es, die Biographie Flauberts in die Geschichte Frankreichs einzubetten. Ein besserer "Flaubertist", also einer, der sich in den Details von Leben und Werk des Autors auskennt, ist dagegen der amerikanische Biograph Herbert Lottmann. Seine Flaubert-Biographie, die 1992 im Insel-Verlag erschienen ist, hätte es verdient, in diesem Flaubert-Jubeljahr neu aufgelegt zu werden. Winock besticht dagegen durch seine Erfahrungen als Historiker der französischen Geistesgeschichte sowie durch seine packende Erzählweise und Charakterzeichnung. So ergänzen sich letztendlich beide Biographien.
Die wahren Schätze und auch die Geheimnisse von Gustave Flaubert entdeckt indessen nur, wer seine Werke und Briefe liest.
Michel Winock: "Flaubert. Biografie"
Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim.
Hanser-Verlag, München
655 Seiten. 36.- Euro.