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Michelangelos Handwerk

Die Renaissance ist nicht nur mit ihren einzigartigen Gemälden, Fresken, Plastiken und Baudenkmälern der Beginn einer neuen Kunstblüte, die sich als Wiedergeburt antiker Größe verstand. Sie ist auch die Geburtsstunde eines Mythos, der bis heute an Faszination nicht verloren hat, des Mythos nämlich vom genialen Künstler.

Von Michael Wetzel | 16.10.2006
    Die ehrfurchtsvoll aufgezählten Namen der Meister von Florenz, Siena, Arezzo, Lucca, Urbino und vieler anderer zum Teil unbedeutender Ortschaften der Toskana wären uns aber nicht so vertraut, hätte nicht der Erfinder des Begriffs der Renaissance, Giorgio Vasari, in seinen "Viten", das heißt den "Lebensläufen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten" Mitte des 16. Jahrhunderts angefangen, all die Legenden über sie zu sammeln.

    Und schon hier findet sich das besondere Ranking der drei Größten, nämlich Leonardo da Vinci, Raffael und Michelangelo, die jeder für sich einen besonderen Typus verkörpern: Leonardo den intellektuellen Ingenieurskünstler, Raffael den sanftmütigen Liebling der Frauen und Madonnen, Michelangelo aber den leidenschaftlichen Workaholic, der bis in sein biblisches Alter hinein unermüdlich schuf.

    Vasari hat uns auch die Bilder zu den Künstlern geliefert, von Michelangelo, dem er sich als sein Schüler besonders verpflichtet fühlte, das Bild von dem eher stämmig untersetzten Bauernsohn mit der eingeschlagenen Boxernase. Hierzu gibt es auch eine Anekdote von einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem Künstlerkollegen, die einen einschlägigen Eindruck vom aufbrausend cholerischen Charakter schon des jungen Lehrlings vermittelt.

    Aber Vasari kennt viele solcher Geschichten, die nicht unbedingt im Dienste der dokumentarischen Treue stehen. Was die "Viten" nämlich begründen, ist die lange Tradition der Künstlerlegenden, in denen es weniger darum geht, wie es wirklich war, als vielmehr darum, wie es sich in einem heroischen Lebensentwurf idealerweise darstellt.

    Gerade bei seinem verehrten Meister Michelangelo hat Vasari alle Register der Verklärung und Vergötterung bedient, um der Nachwelt ein unerreichbares Vorbild zu entwerfen. Damit stellt sich aber gerade für die informell geprägte Gegenwart auch die Aufgabe, Aufklärung als Gegengift gegen die Geschichtsklitterung zu betreiben, um vielleicht doch noch durch die Schichten der vielen Geschichten zu so etwas wie einer historischen Wahrheit durchzudringen.

    Hier ist nicht der Ort, all die Facetten der kunsthistorischen Verehrung und Verklärung des Heroen durch die Vasari nachfolgenden Jahrhunderte zu verfolgen. Wagen wir nur den Tigersprung in die Gegenwart des Büchermarktes, so wird der interessierte Leser bei einer Neuerscheinung fündig, die mit allergrößter Nüchternheit daherkommt: "Michelangelo. Eine Biographie." Mehr sagt der Autor im Titel nicht, vermeidet alle Wertungen oder Perspektivierungen seines auf das Werk geworfenen monografischen Blicks.

    Aber der Klappentext verrät zumindest das eine nicht unbedeutende Detail, dass es sich bei Antonio Forcellino nicht nur um einen profunden Kenner des Werkes von Michelangelo handelt, sondern zugleich berufsmäßig um einen Restaurator. Dieser kleine Hinweis wächst sich im Verlaufe der Lektüre zu einer großartigen Erfahrung aus, denn in der Tat bietet dieses Buch etwas Neuartiges: Neben kunsthistorischen Kenntnissen und spannend dargebotenen kulturgeschichtlichen Details zum wechselhaften Verlauf der stadt- und kirchengeschichtlichen Geschicke von Florenz und Rom besticht dieses neue Buch über das - wie es im italienischen Untertitel heißt - "unruhige Leben" des großen Renaissancekünstlers durch profundeste Hintergrundinformationen zu den handwerklichen Techniken.

    Auch wenn Forcellino uns manches Spezialwissen - zum Beispiel in Bezug auf den wiederholt erwähnten wechselseitigen Einsatz von "Flach-" und "Zahneisen" bei der Bearbeitung von Marmoroberflächen - vorenthält, vermittelt er doch einen plastischen Eindruck von dem Neuen an Michelangelos Umgang mit den toten Steinen der Marmorbrüche von Carrara.

    Festzuhalten bleibt, dass diesem Buch eine seltene Mischung gelingt, nämlich die zwischen informativer Unterhaltung und unterhaltsamer Information. Der am Anfang erklärte Anspruch, das mythische Geflecht der Künstleranekdoten durch philologische Aufarbeitung der Textquellen zu überwinden, wird durch einen reichhaltigen Anhang von Fußnoten eingelöst, ohne dass die Erzählung im Text dadurch überlastet wäre.

    Forcellino beginnt bei den traditionellen Standards wie Michelangelos ausgeprägter, aber nur künstlerisch-darstellerisch ausgelebter Sinnlichkeit und seiner Zeit seines Lebens sich störend äußernden Überheblichkeit gegenüber anderen Künstlern. Schon bei den frühen Aufträgen reliefartiger Plastiken entfaltet der Autor seine ganze interpretatorische Vielfalt, indem er auf die künstlerischen Neuerungen eines kontinuierlichen Raumes der auf mehreren Ebenen zur Darstellung kommenden Figuren hinweist und schon von Anfang an auf das für Michelangelo typische Anliegen einer räumlichen Erzeugung der Illusion von bewegten Körpern hinweist.

    Dazu gehört auch das andere Spezifikum, nämlich die fast feminin anmutende Rundheit und Weichheit der Körper, die - wie am Beispiel des Christus der vatikanischen "Pieta" sichtbar - mehr den antiken Idealen etwa eines schlafenden Apoll gehorchen. Wie auch im berühmten "David" von Florenz drückt sich im Stein ein Bewusstsein des schönen Körpers aus, das Forcellino in allen Lebens- und Werkphasen des Künstlers als beherrschend, aber auch als bedrohlich ausmacht.

    Michelangelo wird uns als Künstler vorgestellt, der als einer der ersten das antike Ideal des Pathos wieder aufgreift. Die packend beschriebene Ausgrabung der hellenistischen Laokoon-Plastik eröffnet das ästhetische Feld für eine entsprechende Würdigung des "neuen Stils". Zum einen werden neue Ausdrucksformen des Leidens am antiken Vorbild entdeckt, zum anderen bereitet sich im Umgang mit grotesken und gewundenen Verzerrungen der Körperformen schon Manierismus und Barock bei Michelangelo vor.

    Forcellino bedenkt jede einzelne Werkphase mit der ihr gebührenden Aufmerksamkeit und versucht auch vorsichtig, ein Bild des Künstlers als Mensch durchscheinen zu lassen: Ein Mensch, der von Misstrauen, Geiz und vor allem ständiger Überschätzung seiner Leistungskraft geplagt ist, was ihn immer wieder in die Fallstricke des Mäzenatentums der damals alles beherrschenden Familie der Medici laufen lässt.

    Die vielen Baustellen haben zudem den Effekt, dass der Künstler vieles unbeendet liegen lassen musste, und dennoch hat er auf fast allen Gebieten, der Malerei, dem Fresko, der Architektur und vor allem der Plastik Außerordentliches und schon zu Zeit überaus Bestauntes geschaffen.

    Die Biographie zeigt aber auch einen geistig und spirituell verinnerlichten Gläubigen, der durch seine Nähe zu dem religiösen Zirkel um Vittoria Colonna sogar in den Verdacht der Häresie gerät. Im Meisterwerk des "Moses" sieht Forcellino diese Haltung einer Vergeistigung der Leidenschaft aufs beste verkörpert: Es ist nicht nur eine stilistische Wende, sondern eine Neuerfindung der Skulptur als freies Fließen einer Energie.

    Michelangelo hat seine eigene Apotheose noch miterlebt, auch wenn er sich immer mehr von seiner Umwelt abschließt. Der Autor lässt sein Buch dort enden, wo er seinen Einsatz berechtigt sieht, nämlich bei der Verklärung und Mythisierung des kaum gestorbenen Künstlers durch seine Bewunderer. Ein großartiges, ein packendes Buch, dem man viele Leser wünscht.

    Antonio Forcellino:
    "Michelangelo. Eine Biographie"
    (Siedler Verlag, München)