Freitag, 19. April 2024

Archiv

Midlife-Crisis
Geschichte eines missverstandenen Konzepts

Gibt es die Midlife-Crisis wirklich? Jenen unausweichlichen Drang, in der Mitte des Lebens noch einmal alles ganz anders zu machen? Darüber streiten Frauen, Männer und Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Kaum jemand fragt jedoch, woher die Idee eigentlich kommt.

Von Susanne Schmidt | 12.08.2018
    Rentner mit junger Frau in Oldtimer am Rheinauhafen
    Manche sehen in der Midlife-Crisis nichts als eine Erfindung und lächerliche Entschuldigung für verantwortungsloses Verhalten (dpa / picture alliance / Geisler-Fotopress)
    Die Midlife-Crisis wird heute zumeist auf Männer bezogen. Dabei beginnt ihre Geschichte mit der Frauenbewegung in den 70er-Jahren. Mit ihrem Buch "Passages" (In der Mitte des Lebens) machte die New Yorker Journalistin Gail Sheehy die Midlife-Crisis bekannt als ein Konzept, das auf Frauen und Männer gleichermaßen zutrifft und das Ende traditioneller Geschlechterrollen im mittleren Alter beschreibt. Ihr Buch wurde ein Bestseller, der sich über Jahre hinweg millionenfach verkaufte. Heute ist Sheehys ursprüngliche Idee der Midlife-Crisis nahezu vergessen. Susanne Schmidt befasst sich mit der Geschichte der Midlife-Crisis und einem Verständnis, das in die Irre führt.
    Susanne Schmidt, geboren 1988, ist Historikerin an der Freien Universität Berlin. Sie forscht zur Wissenschafts- und Geschlechtergeschichte. Ihr Buch "Midlife Crisis: The Feminist Origins of a Chauvinist Cliché" erscheint bei University of Chicago Press.

    Gibt es die "Midlife-Crisis" wirklich, jenen plötzlichen Drang, mitten in den besten Jahren noch einmal ganz von vorn zu beginnen? Frauen, Männer und Wissenschaftler streiten darüber seit Jahrzehnten. Einige behaupten, es handle sich um eine biologisch vorprogrammierte Umbruchsphase, die alle Menschen durchlebten - gewissermaßen eine zweite Pubertät. Diese Position wird nicht nur am Stammtisch vertreten, sondern auch in der Wissenschaft, wo Verhaltensforscher eine "U-Kurve" des Lebens berechnen. Demnach sind Menschen im Alter zwischen 40 und 50 unzufriedener und neigen stärker zu Depressionen als in den Jahren davor oder danach. Primatologen wollen sogar herausgefunden haben, dass selbst Schimpansen und Orang-Utans mit der Lebensmitte kämpfen.
    Andere hingegen sehen in der Midlife-Crisis nichts als eine Erfindung und lächerliche Entschuldigung für verantwortungsloses Verhalten. Sie spotten über das Klischee vom roten Sportwagen und Affären mit jüngeren Frauen. Doch aus ihrem Lachen spricht oft bittere Erfahrung. In einem vielbeachteten Essay hat die amerikanische Publizistin Susan Sontag von der gesellschaftlichen "Doppelmoral des Alterns" gesprochen: Die "besten Jahre" gereichen vielen Männern zum Vorteil, sind aber für Frauen häufig mit Problemen verbunden. Nicht selten sind sie die Leidtragenden, wenn Männer zu neuen Ufern aufbrechen.
    Doch selbst Kritikerinnen und Kritiker des Konzepts fragen nicht, woher die Idee der Krise in der Lebensmitte eigentlich kommt und wer sie geprägt hat. Der Blick zurück in die Geschichte wirft neues Licht auf die Midlife-Crisis. Denn zur Debatte steht nicht nur die Existenz der Midlife-Crisis, sondern vielmehr ihre Definition. Wer hat eine Midlife-Crisis, wie sieht sie aus - und wer darf darüber entscheiden?
    New Yorker Geschichten
    Die meisten Midlife-Geschichten handeln von Männern. Als der "Spiegel" den Begriff in den 1970er-Jahren in Deutschland einführte, erzählte er von Karl-Heinz W., einem "flotten Typen" und Geschäftsmann, der nur "mal schnell Zigaretten holen" ging und niemals zurückkam; von dem Manager Manfred Köhnlechner, der mit Mitte 40 seinen Job bei Bertelsmann hinwarf, um Heilpraktiker zu werden; von der Ehescheidung des ZDF-Entertainers Lou van Burg, über die schon die Klatschpresse ausführlich berichtet hatte, und davon, wie der Starpianist Friedrich Gulda sich Mitte 40, frisch geschieden, mit der jungen Sängerin Ursula Anders an den Attersee zurückzog. Frauen spielten in diesen Schilderungen nur illustrative Nebenrollen - die Verlassene, der Seitensprung. Eine Midlife‑Crisis hatten die Männer.
    Wenig hat sich seitdem geändert. Der Philosoph Kieran Setiya, der am Massachusetts Institute of Technology lehrt, präsentiert in seinem 2017 veröffentlichten, vielbeachteten Buch "Midlife" die Frage nach dem Sinn des Lebens als eine, die in erster Linie Männer zu betreffen scheint: den Autor selbst - der im Alter von 35 Jahren in eine Krise stürzte - sowie eine Reihe großer Philosophen von John Stuart Mill bis Arthur Schopenhauer, dazu zahlreiche Romancharaktere. Als Leser Leo Tolstois interessiert den Moralphilosophen Setiya das Schicksal Alexej Wronskijs, nicht das der Titelheldin Anna Karenina.
    Dabei waren die Erfahrungen von Frauen zentral für die Anfänge der Idee einer Midlife-Crisis. Es war die New Yorker Journalistin Gail Sheehy, die die Midlife-Crisis in den USA und international bekannt machte. Geboren 1937, schrieb Sheehy seit den 1960er-Jahren für mehrere Zeitungen und Zeitschriften, insbesondere für die "New York Herald Tribune". Seit 1968 war sie Redakteurin des neu gegründeten "New York Magazine", für das außerdem Tom Wolfe, Gloria Steinem und einige andere Edelfedern schrieben. Anfang der 1970er-Jahre erregte Sheehy Aufsehen mit einer investigativen Reportage über Prostitution in New York, die die mafiösen Strukturen des lokalen Zuhältergeschäfts aufdeckte. Ihr mehrfach ausgezeichneter und bald verfilmter Bericht beeinflusste auch die New Yorker Stadtpolitik.
    Sheehys nächstes Buch hieß "Passages", zu Deutsch "In der Mitte des Lebens". Sie interviewte dafür 115 Frauen und Männer im Alter zwischen 17 und Ende 50 über ihre Erfahrungen und Perspektiven auf Ehe und Partnerschaft, Familie und Beruf. Die meisten der Befragten lebten in New York, andere in Los Angeles, Washington, DC und Dayton, Ohio - der Stadt, die unter Meinungsforschern als Heimat des durchschnittlichen amerikanischen Paares galt. Einige waren verheiratet und hatten Kinder, doch die Hälfte von Sheehys Interviewpartnern war geschieden. Fast alle hatten studiert. Die Männer waren Manager, Professoren und Künstler und einige der Frauen übten dieselben Berufe aus; doch in der Mehrzahl waren sie Hausfrauen und Mütter. In ausführlichen Gesprächen diskutierten sie mit Sheehy ihre Lebensgeschichte, ihre Pläne, Träume, Hoffnungen und Wünsche, ihr Scheitern und ihre Sorgen. Die Jüngeren, die ihr Studium gerade abschlossen oder ihre ersten Jobs angenommen hatten, versprühten Zuversicht selbst angesichts von Schwierigkeiten und Hindernissen. Doch wo Sheehy 30- und 40-jährige befragte, dominierten Unzufriedenheit und ein Gefühl der Stagnation.
    Sheehy erschien dieses Unbehagen bedeutungsvoll. In der Fachliteratur stieß sie auf einen Begriff, den der Londoner Psychoanalytiker und Berater Elliott Jaques 20 Jahre zuvor geprägt hatte, der jedoch weitgehend unbeachtet geblieben war: "mid‑life crisis". Jaques untersuchte unter anderem die Lebensläufe Dantes und Raphaels, Beethovens und Goethes und beschrieb ein Muster einer Schaffenskrise, die Künstler im Alter von ungefähr 35 Jahren durchlebten. Viele der Männer gingen aus dieser Krise gestärkt hervor. Für den Psychoanalytiker war die "mid-life crisis" deshalb weniger ein Problem, sondern vielmehr Ausdruck eines Entwicklungsschubes.
    Sheehy entlieh sich den Begriff der Midlife-Crisis mit seiner positiven Konnotation und machte ihn einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Allerdings hatte ihre Darstellung in vielerlei Hinsicht mehr mit der zeitgenössischen Debatte über Geschlechterrollen zu tun als mit den von Jaques beschriebenen "großen Männern". Während der Analytiker über die Karriere männlicher Genies gesprochen hatte, meinte Sheehy mit dem Konzept etwas ganz anderes. Für sie erschlossen Studien und Theorien, die allein das Leben von Männern behandelten, nicht einmal die Hälfte sondern "nur ein Drittel des Gesamtbildes", während es galt, zwei weitere Fragen zu stellen: "Was tun und fühlen Frauen, während sie durch diese schwierige Übergangszeit gehen?" Und: "Welche Effekte hat die Lebensmitte-Krise auf die Rollenverteilung in Ehe und Partnerschaft?" Sheehy wandte die Idee der Midlife‑Crisis auf Frauen und Männer an und definierte den Begriff damit komplett neu: Sie beschrieb eine Veränderung der Geschlechterrollen.
    Im Alter von ungefähr 35 Jahren überdachten die Frauen, die Sheehy interviewte, ihr Leben. Viele von ihnen hatten die Rolle der Hausfrau und Mutter satt. Wie damals verbreitet, hatten sie mit Anfang 20 geheiratet, oft ohne ihr Studium zu beenden. Selbst das jüngste Kind besuchte mittlerweile die weiterführende Schule. Jetzt wollten die Frauen ihr Leben in die Hand nehmen: Studienabschlüsse nachholen, Weiterbildungskurse belegen oder sich neu orientieren, ins Berufsleben zurückkehren. Sie fragten sich und andere:
    "Warum gebe ich mit dieser Ehe alles auf?"
    "Warum musste ich so viele Kinder haben?"
    "Warum habe ich meine Ausbildung nicht abgeschlossen?"
    "Nutzt mir mein Abschluss überhaupt noch etwas, nachdem ich so lange nicht berufstätig gewesen bin?"
    Oder: "Warum hat mir nie jemand gesagt, dass ich wieder arbeiten gehen muss?"
    Sheehy berichtete über die Unzufriedenheit vieler Frauen und sie erzählte von anderen, die ihr Leben umgekrempelt hatten: Kate, eine Hausfrau und Lehrerin, war im Alter von 40 Jahren in die Verlagsbranche eingestiegen und bald in eine Leitungsposition befördert worden. Im selben Alter wechselte Peggy ins Immobiliengeschäft und reichte die Scheidung ein, während Katharine Graham, nach dem Tod ihres Ehemannes, die Leitung der "Washington Post" übernahm.
    Auch Männer waren mit ihrem Leben unzufrieden. Oft empfanden sie den beruflichen Alltag als ähnlich einengend wie ihre Partnerinnen den familiären Alltag zu Hause. Während Frauen die Rolle der Hausfrau und Mutter gegen eine berufliche Karriere eintauschten, kehrten die Männer, die Sheehy in ihrem Buch beschrieb, der Arbeitswelt den Rücken zu. Viele durchlebten im Alter von ungefähr 40 Jahren eine Phase der Unzufriedenheit. Ihre Karriere stagnierte oder sie verloren sogar ihren Job - es war die Zeit der Ölkrise und des Börsenkrachs von 1973/74.
    Doch Sheehy betonte, dass sogar Männer, deren Träume sich verwirklicht hatten, unzufrieden waren. Sie sprach mit einem Architekten aus Manhattan, der mit Auszeichnungen überhäuft wurde, international Anerkennung erfuhr und dennoch zutiefst unglücklich war. Ein anderer Interviewpartner, der ähnliche Erfahrungen gemacht hatte, kündigte eine aussichtsreiche Stelle in Washington, DC für einen Job als Immobilienmakler, der es ihm ermöglichte, bei seiner Familie in Maine zu leben - also 900 km weiter nördlich und in der Provinz. Er erklärte Sheehy:
    "[W]enn [meine Frau] wieder zu arbeiten anfangen will und genug Geld dabei verdient, dann bleibe ich eben zu Hause und sorge für die Kinder. Ich meine das im Ernst. Ich liebe Kinder, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich würde es im Moment genießen, Häuser anzustreichen und Hütten zu bauen."
    Viele der Männer, die Sheehy interviewte, belegten nun Kochkurse, kümmerten sich um den Haushalt und die Kinder. Geschiedene Paare teilten sich die Kindererziehung auf eine Weise, die nicht selten gleichberechtigter schien als ihre Ehen es gewesen waren, bevor sie ihrer Midlife-Crisis nachgaben. Warum war das nicht vorher schon gegangen? Sheehy erinnerte an den Geschäftsmann Eugen Boissevain, der sich aufopferungsvoll um seine Ehefrau, die berühmte Dichterin Edna St. Vincent Millay, gekümmert und ihr den Rücken freigehalten hatte. Genauso hatte auch Janet Travell, die Leibärztin John F. Kennedys, auf die volle Unterstützung ihres Mannes zählen können, der seinen Job an der Wall Street im Alter von 50 Jahren an den Nagel hängte und sie fortan auf langen Reisen begleitete.
    In Sheehys Darstellung war die Unzufriedenheit der Mittdreißiger der Beginn eines Neuanfangs. Ihr Konzept der Midlife-Crisis normalisierte die Lebensentwürfe von Frauen jenseits von Ehe und Mutterschaft und legte zugleich nahe, dass auch Männer davon profitierten, ihre Prioritäten und Lebensmuster zu überdenken. Zusammengenommen markierten die weibliche und männliche Midlife-Crisis das Ende der klassischen Rollenverteilung.
    Ein internationaler Bestseller
    Sheehys Buch "Passages" war eine Sensation. Die "New York Times" nannte es eine "Revolution des psychologischen Schreibens", in der linksliberalen Wochenzeitschrift "New Republic" sprach der Soziologe Robert Hassenger von einem "verdammt wichtigen Buch" und das feministische Magazin "Ms." pries Sheehys nuancierte Analyse. Innerhalb weniger Wochen war das Buch ein Bestseller und blieb über den Sommer des Jahres 1976 hinweg das meist gekaufte Buch in den USA. Mindestens acht Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner lasen es allein innerhalb der ersten zwei Jahre nach Erscheinen; mehr noch kannten es aus Rezensionen, Kommentaren und Interviews in Presse, Rundfunk und Fernsehen. In Umfragen der Library of Congress nominierten Leserinnern und Leser das Buch noch Jahrzehnte später als eines von zehn, die ihr Leben am meisten beeinflusst haben.
    In mehr als 25 Sprachen übersetzt zog Sheehys Buch Kreise weit über die USA hinaus. Noch bevor es auf Deutsch veröffentlicht wurde, erschien im Juli 1976 eine "Spiegel"-Titelstory, mit der die Midlife-Crisis in Deutschland Einzug fand - allerdings als ein Phänomen, das vorwiegend Männer betreffe: den "flotten" Karl-Heinz W., die Klavierlegende Friedrich Gulda, die "Partnerwechsler" Horst Ehmke und Karl Schiller, beide Bundesminister a. D., und, nicht zuletzt, den Autor des Artikels, Hermann Schreiber, damals 47 Jahre alt. "[I]m Grunde", bekannte der Journalist, habe er "über sich selber" geschrieben. Sheehys Erfolg in den USA hatte den Anstoß für seine eigene Reportage gegeben und Schreiber, der sie für "eine der pfiffigsten amerikanischen Journalistinnen überhaupt" hielt, bediente sich großzügig bei ihrem Buch. Allerdings fand er Sheehys Berichte über Frauen nebensächlich und interessierte sich nicht für ihre feministische Perspektive. In psychologischen Studien suchte Schreiber nach wissenschaftlichen Belegen für seine eigenen Recherchen über die Krise der Männer. Der Frankfurter Psychoanalytiker und Intellektuelle Alexander Mitscherlich segnete gleich im Juli noch die Diagnose in einem ausführlichen Interview ab und bekannte öffentlich, selbst eine Midlife-Crisis durchlebt zu haben. Bei "Partygesprächen, Telephonaten der Gattinnen, in Kegelklubs, Saunen und Theaterfoyers" gab es, wie ein Journalist der "Süddeutschen Zeitung" zu berichten wusste, über Wochen, ja Monate hinweg kein wichtigeres Gesprächsthema. In der "Frankfurter Allgemeine(n) Zeitung" beschwerte sich im September '76 der Theatermann und Kritiker Günther Rühle:
    "Allmählich geht es einem wie dem Hasen, der immer schon den Igel vorfand. Wohin man kommt, sitzt die mid-life crisis. Er hat sich einen Bart zugelegt? Na ja: mlc. Sie fahren 160 Durchschnitt? Klar, mlc. […] Selbstzweifel? Ganz typisch mlc! Er fragt sich, was er falsch gemacht hat? Er versteckt sich in der Berufsrolle? Sehen Sie, mlc! […] Die Quatscherei über mlc: mlc der Arrivierten?"
    Als die deutsche Übersetzung von Sheehys Buch unter dem Titel "In der Mitte des Lebens" Anfang des Jahres 1977 erschien, wurde es unmittelbar zu einem Bestseller. Die Psychologin Sibylle Drews, die bei Mitscherlich studiert hatte, sprach in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" von einem "mutigen" und "sehr informativen" Buch.
    Sheehys Konzeption der Midlife-Crisis war nicht zuletzt deshalb erfolgreich, weil es in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs von Aufbruch und Neubeginn kündete. In den 1960er-Jahren hatten Studentenproteste und Bürgerrechtsbewegung die Nachkriegsordnung in Frage gestellt. Ein Jahrzehnt später erschien "Passages" im Zeichen der Frauenbewegung und im Schatten der Ölkrise und ökonomischer Stagnation. Langsam aber sicher neigte sich der Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit seinem Ende entgegen. Der geradlinig vorgezeichnete Lebensweg jener gut ausgebildeten Männer, die in "weißen Krägen" steile Karrieren hinlegten, schien ins Wanken zu geraten. Viele Männer befürchteten einen beruflichen Abstieg oder gar den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Währenddessen gingen auch gebildete, verheiratete Frauen zunehmend einer Erwerbsarbeit nach. In der Mittelschicht ersetzten Doppelverdienermodelle den männlichen Ernährer.
    Sheehys Midlife-Crisis feierte diesen Wandel als einen Neuanfang, der es ermöglichen sollte, Visionen von Geschlechtergerechtigkeit zu verwirklichen. Sie sah die Midlife-Crisis als einen Schritt in eine Zeit, die zwischen Frauen und Männern nicht mehr unterscheiden würde, wenn es um berufliche Chancen und familiäre Verantwortung ging.
    Bei allem Erfolg behagte diese Botschaft nicht jedermann. Der Historiker Christopher Lasch, bekannt als ein Kritiker der Frauenbewegung, der traditionelle Familienstrukturen idealisierte und verteidigte, nannte Sheehys Buch "In der Mitte des Lebens" billige Selbsthilfeliteratur, die die familiäre Krise und gesellschaftliche Erosion nur befördere. Die Autorin beschreibe in Wahrheit die "narzisstische Störung" egoistischer Frauen und fauler Männer. Die Midlife-Crisis sei selbst das Problem, nicht die Lösung.
    Doch die einflussreichste Kritik an Sheehys Modell der Midlife-Crisis kam aus den Reihen der Psychologie, Psychiatrie und Psychoanalyse. Sie richtete sich nicht gegen die Midlife-Crisis an sich, sondern eignete sich die Idee an und stellte sie auf den Kopf.
    Psychologie und die Krise der Männlichkeit
    Im Gefolge von Sheehys Buch veröffentlichten die Psychiater George Vaillant und Roger Gould und der Psychologe Daniel Levinson ihre eigenen Studien zum Thema. Doch sie beschrieben eine völlig andere "Midlife-Crisis". Wie Sheehy schilderten die drei Experten einen tiefgreifenden Wandel der Lebenseinstellung im mittleren Alter. Doch dabei beschrieben sie die Midlife-Crisis als ein ausschließlich männliches Phänomen und verteidigten traditionelle Geschlechterverhältnisse.
    In seinem Buch "Werdegänge: Erkenntnisse der Lebenslaufforschung", veröffentlicht 1977, beschrieb der Harvard-Psychiater George Vaillant Männer in den besten Jahren, die ihre Jobs kündigten und ihre Familien verließen, um sich mit aufregenden Affären, extravaganten Autos, Bauprojekten und Reisen an exotische Orte Lebensträume zu erfüllen. Einer seiner Studienteilnehmer baute ein Penthouse, ein anderer ging auf Orchideenjagd und ein dritter schließlich "erlaubte sich endlich, seinen inneren brasilianischen Dschungel auszuleben": in Form einer "aufregenden" Affäre. Die Schilderungen schienen direkt aus dem "Playboy" kopiert, doch Vaillant meinte es ernst und war der Meinung, dieses Verhalten sei wichtig für die Persönlichkeitsbildung.
    Der Psychiater stellte die Midlife-Crisis als eine "zweite Adoleszenz" dar: eine Phase der Selbstfindung, die die Distanzierung eines Mannes von seiner Familie verlangte und das Ende der Monogamie bedeutete, entsprechend der Ablösung des Jugendlichen vom Elternhaus. Dabei war die Abwendung eines Mannes von seiner Ehefrau zentral. Wie ein Kind sich von den Eltern löst, sollte sich ein Mann von seiner Frau lösen.
    Vaillants Beobachtungen schlossen an die Studien des Psychologen Daniel Levinson an, dem einflussreichsten der drei Fachmänner. Der stellte die Trennung eines Mannes von seiner Frau als ein Zeichen von Reife und Erkenntnis dar. Wie er in seinem Buch "Das Leben des Mannes" schrieb, war es für einen Mann in der Lebensmitte endlich möglich zu sehen, dass
    "die Ehe von Anfang an Mängel hatte. Er hat nicht aus großer Liebe, sondern aus anderen Gründen geheiratet, sei es daß die Familie ihn drängte oder daß die Konvention es erforderte, daß er aufbegehrte, sich den sozialen Aufstieg erhoffte oder einfach Schuldgefühle hatte. […] Nun ist plötzlich der große Nebel der Illusion verflogen."
    Der Psychologe berief sich auf C. G. Jungs Konzept der psychischen Polaritäten, um für die psychodynamische Bedeutung von Affären mit jüngeren Frauen zu argumentieren:
    "Wenn wir die außereheliche Beziehung [mit einer jüngeren Frau] besser verstehen wollen, müssen wir sie von der Entwicklung her betrachten. Sie reflektiert das Ringen eines Mannes mit der Polarität von JUNG und ALT: Er demonstriert seine jugendliche Vitalität zu einem Zeitpunkt, wo er fürchtet, dass das JUNGE in ihm von dem vertrockneten, sterbenden ALTEN zugedeckt wird."
    Das neue, psychologische Konzept der männlichen Midlife-Crisis zementierte und verteidigte ein traditionelles Rollenverständnis. Dies wurde besonders daran deutlich, wie die drei Experten über Frauen sprachen. Sie betonten die Bedeutung von Ehe und Familie für die Karriere eines Mannes.
    Levinson unterstrich die Unterschiede zwischen getrennten Lebensaufgaben - männlicher Versorger, weibliche Fürsorgerin - für die berufliche Entwicklung eines Mannes, indem er die "besondere" mit der "emanzipierten" Frau kontrastierte, deren Einbindung in eine Karriere zu ehelichen Konflikten führe und dem Lebensglück entschieden im Wege stehe:
    "Es ist schwierig genug, eine Lebensstruktur auf dem 'Traum' einer Person aufzubauen. Eine Struktur aufzubauen, die die 'Träume' beider Partner enthalten kann, ist tatsächlich eine gewaltige Aufgabe, auf die Evolution und Geschichte uns nur unzureichend vorbereitet haben."
    All dies sollte einen Mann nicht an die Ehe binden. Vielmehr machte Levinson deutlich, dass Männer ihren Ehefrauen zu nichts verpflichtet seien. Wie die Mutter sei auch die "besondere Frau" letztlich eine "Übergangsfigur" im Leben eines Mannes. So wichtig sie für seine Entwicklung im jüngeren Erwachsenenalter sei, so wachse er doch mit zunehmendem Alter oft über sie hinaus. Während des Übergangs zur Lebensmitte werde die "besondere Frau" nicht nur überflüssig, sondern stehe der Entfaltung eines Mannes tatsächlich oft im Wege. Wie es den Frauen erging, die von ihren Männern betrogen und verlassen wurden, war dem Psychologen offensichtlich völlig egal.
    Doch die männliche Midlife-Crisis war nicht einfach nur eine Entschuldigung für Seitensprünge. Sie war vielmehr typisch für Attacken gegen die Gleichberechtigung von Frauen. Wie die Publizistin Susan Faludi gezeigt hat, bediente sich anti‑feministischer "Backlash" in der Zeit um 1980 häufig psychologischer Argumente und deklarierte eine "Krise der Männlichkeit", ausgelöst durch eine Veränderung weiblicher Rollen. Dies taten auch Levinson, Vaillant und Gould.
    Die drei Experten nahmen Frauen von ihrem Konzept der Midlife-Crisis ausdrücklich aus. Sie gingen nicht einfach davon aus, dass Männer den Maßstab der menschlichen Natur bildeten. Sondern sie begrenzten die Idee der Persönlichkeitsentwicklung auf Männer. Levinson, Vaillant und Gould untersagten es Frauen, ihr Leben zu überdenken und zu verändern. Damit stellten sie die Prämissen von Sheehys ursprünglicher Idee der Midlife-Crisis auf den Kopf.
    In "Das Leben des Mannes" war Levinson der Meinung, dass "das Bestreben [der Frau], von einer vorwiegend häuslichen Rolle wegzukommen", "ihren Horizont zu erweitern und sich nach Tätigkeiten außerhalb des Hauses umzusehen", den beruflichen Erfolg und die Selbstverwirklichung von Männern beeinträchtigen würden:
    "Manchmal ist es die Frau, die den ersten Schritt zu einer Neubeurteilung der Ehe unternimmt. […] Sie wird zur Stimme der Entwicklung und Veränderung. […] [Der Mann wird] nun zur Stimme des Status quo. [Er] fühlt sich […] bedroht. […] Wenn die Frau selbstbewußter und freier wird, kommt es […] beim Mann zu einer schweren Krise."
    Einige Jahre später argumentierte Levinson in einer Fortsetzungsstudie über "Das Leben der Frau" ausführlich, dass Frauen in der Lebensmitte entdecken würden, dass es für sie unmöglich sei, Selbsterfüllung im Beruf zu finden. Für den Psychologen gehörte eine Frau ganz klar ins Haus.
    In diesem Sinne verordnete auch der Therapeut Roger Gould, dessen Eheratgeber "Lebensstufen: Entwicklung und Veränderung im Erwachsenenleben" sich insbesondere an Frauen richtete, Therapie statt (oder gegen) Feminismus. Er schrieb:
    "[Es ist] wahr, daß die Männer […] ihre Auffassung von der Frau ändern müssen. Dennoch ist es nicht die ganze Wahrheit. […] Der Mann mag ein grimmiger männlicher Chauvinist sein. Aber selbst wenn dem so ist, muß das erste, was sich jede Frau vornimmt, ihr eigener Geist sein, ihre eigene Einstellung sich selbst gegenüber, ihre eigenen emotionalen Zwänge."
    Obwohl sie sich also auf den ersten Blick für Veränderung aussprachen, schrieben die Experten bei genauerem Hinsehen traditionelle Geschlechterrollen fest. Der Neuanfang, über den sie sprachen, war Männern vorbehalten und verteidigte Geschlechterhierarchien mit psychologischem Vokabular. Ihre Definition der Midlife‑Crisis richtete sich tatsächlich gegen die Forderungen nach einer Neudefinition althergebrachter Geschlechterrollen. Doch der politische, antifeministische Beigeschmack ihrer Studien blieb von den Zeitgenossen weitgehen unbeachtet und wurde selten thematisiert.
    Echte Wissenschaft
    Psychologischer Duktus und wissenschaftliches Renommee verschafften Levinson, Vaillant und Gould Einfluss in Expertenkreisen und in der Öffentlichkeit. Für sich genommen konnte es keiner der drei Fachmänner mit dem kommerziellen Erfolg von Gail Sheehy aufnehmen. Doch zusammengenommen wurden die Bücher der Männer häufiger besprochen. Rezensionen erschienen nicht nur in Fachzeitschriften, sondern auch in Zeitungen und Magazinen. Binnen kürzester Zeit wurden die drei Titel ins Deutsche übertragen. Und allerorten wurden die Neuerscheinungen mit Sheehys Bestseller verglichen.
    Nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Journalisten ergriffen dabei Partei für die drei wissenschaftlichen Experten. Sie beschrieben Levinsons, Vaillants und Goulds androzentrischen Blick, also eine Sichtweise, die Männer als Zentrum, Maßstab und Norm versteht, als "sorgfältiger" oder "akkurater". "Professor Levinson ist der Mann", hieß es etwa im "Wall Street Journal", "dem wir für die Erfindung der Midlife-Crisis danken können, jener Krise, die Gail Sheehy in 'Passages' popularisiert hat."
    Obwohl die drei psychologischen Titel später als das Buch von Gail Sheehy erschienen, auf welches sie sogar Bezug nahmen, dominierte die Vorstellung, dass Sheehy die Experten "popularisiert", ihre Studien also vereinfacht und verbreitet habe, statt ein eigenständiges Werk vorzulegen. Mehrere Rezensenten reagierten auf die vermeintlich verkehrte Publikationsreihenfolge, indem sie Sheehy beschuldigten, den drei Experten mit der "verfrühten" Veröffentlichung von "Passages" in unlauterer Weise zuvorgekommen zu sein. Kaum jemandem schien aufzufallen, dass Levinson, Vaillant und Gould in Sheehys Fahrwasser segelten und von der Verbindung zu ihrem Bestseller profitierten. Der "Newsday"-Literaturkritiker Dan Cryrer erklärte im Gegenteil:
    "Wenn ich Daniel Levinson wäre, würde ich Gail Sheehy verklagen. Sie hat nicht wirklich von ihm gestohlen. Doch ihr Buch hat so viel Aufmerksamkeit erregt, dass der Überraschungseffekt, den 'Das Leben des Mannes' sonst vielleicht gehabt hätte, verpufft. Ärgerlich ist darüber hinaus, dass Sheehy sich als Entdeckerin, nicht als Popularisiererin präsentiert."
    Leserinnen und Leser erkannten also sehr wohl, dass Sheehy die drei Experten nicht einfach popularisierte - und sie machten ihr genau dies zum Vorwurf. Sheehys emanzipatorischer Beitrag wurde als verfehlte Popularisierung abqualifiziert, während Levinsons, Vaillants und Goulds psychologische, antifeministische Definition zur maßgeblichen Definition aufstieg. Fortan war "Midlife-Crisis" synonym mit dem Ausbruch der Playboys aus dem Familienleben.
    Je länger man sich mit der Geschichte der Midlife-Crisis befasst, desto klarer wird: Die Krise in der Lebensmitte ist nur nicht ein psychologisches, sondern auch ein politisches Konzept. Wenn heute in wissenschaftlichen Studien, in Diskussionsrunden und beim Smalltalk von der "Midlife-Crisis" die Rede ist, geht es meistens um die Definition von Levinson, Vaillant und Gould. Selten ist denjenigen, die die männliche Midlife-Crisis verteidigen, deren antifeministische Vergangenheit bewusst. Der Blick zurück ist auch deshalb aufschlussreich, denn er fördert ein alternatives Verständnis der Midlife-Crisis zutage, das wir nahezu vergessen haben. Viel hat sich seit den '70er-Jahren verändert. Doch wenn sich Sheehys ursprüngliche Idee auch nicht eins zu eins auf heute übertragen lassen mag, so ermutigt sie doch dazu, unsere Vorstellung von der Lebensmitte-Krise zu überdenken.