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Mieko Kawakami: "Heaven"
Experten des Erduldens

Sie werden ausgelacht, geschlagen, gedemütigt. Die japanische Autorin Mieko Kawakami erzählt in "Heaven" von zwei Jugendlichen, die versuchen, trotz des Mobbings der Mitschüler ihre Würde zu bewahren.

Von Samuel Hamen | 21.09.2021
Mieko Kawakamis Roman "Heaven"
Nach ihrem internationalen Erfolgsroman "Brüste und Eier" erscheint nun das Debüt von Mieko Kawakami in deutscher Übersetzung. (DuMont Verlag)
"Wir gehören zur selben Sorte", steht auf dem Zettel, den der namenlose Erzähler in Mieko Kawakamis Roman "Heaven" in seiner Federmappe findet. Er stammt von einer Schulkameradin namens Kojima, die wie er gemobbt wird. Die beiden Jugendlichen werden ausgelacht, geschlagen, gedemütigt: Kreide essen, in den Spint gesperrt werden, um den Sportplatz rennen, das ganze Programm. Tatsächlich gehören sie zur selben Sorte: Sie sind Experten des Erduldens.
Über Briefe, die sie sich schreiben, und bei Treffen fassen die beiden Vertrauen zueinander. Gemeinsam überlegen sie, ob es nicht besser sei, ein bloßes Ding zu sein. Schließlich, meint der 14-jährige Protagonist, merke man Schreibtischen und Blumenvasen Verletzungen nicht an. Vielleicht, erwidert Kojima, weil sie nicht sprechen könnten. Bei einem ihrer Ausflüge besuchen sie ein Museum, in dem Kojimas Lieblingsgemälde hängt:
"Es ist ein Bild mit einem Zimmer, in dem ein Liebespaar Kuchen isst. Der rote Teppich, der Tisch – alles ist wunderschön. Und weißt du was? Weil die beiden nach Belieben ihre Hälse verlängern können, können sie immer und überall wieder zusammenfinden, egal, wo sie sind, und egal, was sie gerade machen. […] Diesem Paar ist etwas Schreckliches passiert. Etwas ganz furchtbar Trauriges. Aber – sie haben es überwinden können. Deshalb leben sie jetzt im Glück, in ihrem Glück."

Überraschender Anflug von Wagemut

Gibt es – um diese Frage kreist der von Katja Busson aus dem Japanischen übersetzte Roman – eine Schutzzone, die sich individuell herrichten lässt? Gibt es Strategien des Überstehens, des Überlebens, die einem einen Rest Würde erhalten, während man misshandelt wird? In dieser Hinsicht ragt "Heaven" weit über Fragen nach schulischem Mobbing hinaus. Kojimas Antwort ist ein Konzept grazilen Opfertums, um so ihr Leid als eine Form von Kunst zu begreifen:
"Wir sind vielleicht schwach, aber unsere Schwäche hat einen Sinn. Wir wissen. Wir wissen, was wichtig und was nicht richtig ist. […] Die Einzigen in unserer Klasse, die wirklich unabhängig sind, sind du und ich. Sonst niemand."
Wie anders, wie brutal klingen demgegenüber die Worte Momoses. Er ist einer der Peiniger, den der Erzähler in einem überraschenden Anflug von Wagemut in einem Krankenhaus zur Rede stellt:
"Du dachtest, du würdest gemobbt, weil du schielst. Aber dass du schielst, spielt für mich gar keine Rolle. Was kann ich dafür, dass du nicht mehr schlafen kannst? [...] Mir ist das egal. Meiner Meinung nach kann man – ganz allgemein – nicht mal von Mobbing reden. Nur davon, dass nicht jeder so kann, wie er will. Wie ich schon sagte, jeder lebt in seiner eigenen Welt. Der Rest ist Verhandlungssache."

Die Erhabenheit einer Verwundeten

Die letzte Gewalt, die dem Jungen angetan wird und die schwerer wiegt als die Erfahrung, einen Volleyball über den Kopf gezogen zu bekommen und als wortwörtlicher Spielball herhalten zu müssen: Ihm wird die Idee genommen, die auch er sich angeeignet hat, um seine Qual zu ertragen. Es gibt kein christusgleiches Leiden im Dienste eines Ideals; es gibt nur wohlsituierte Schönlinge, deren Macht sich in Form willkürlichen Waltens über ihre Opfer ergießt.
"Brüste und Eier" - Ein Körperroman ohne Erotik
Mieko Kawakami hat mit "Brüste und Eier" einen Roman über japanische Frauen geschrieben, die hart an ihren Körpern arbeiten. Für Männer und Erotik interessieren sie sich dabei allerdings eher wenig.
Ja, würde dennoch Kojima mit der Erhabenheit einer Verwundeten sagen, wenn man sie fragte, ob es jenes Zimmer der Liebenden, jene Schutzzone gebe. Nein, würde der unantastbar souveräne Momose antworten. Und die Schriftstellerin? Sie hält sich in ihrem "Heaven" zurück, lässt die Niederträchtigen Leid zufügen und die Hilflosen Leid ertragen, ohne ihren Roman der Ratgeber-Pointe preiszugeben, dass ein ziviles Zusammenleben durch Stuhlkreise und Coachings herbeizuführen sei.

Möglichkeit eines neuen Blicks

Der Mechanismus von Rache oder Gerechtigkeit, der den Leser üblicherweise befriedet, kann bei Kawakamis unsentimentaler Romankunst, die sie auch 2019 in ihrem Roman "Brüste und Eier" gezeigt hat, nicht greifen. Die unbeteiligte Sprache, in der hier ein Heranwachsender beiläufig seine Leidensgeschichte erzählt, reizt einen als Leser. Wie zur Kompensation für unterbliebene Solidarität und Wehrhaftigkeit – seitens der Mitschüler, seitens der Erwachsenen – steigert man das eigene Engagement vis-à-vis der Hauptfigur. Aber diese Teilhabe nützt wenig; hier hat sich jemand kalt gestellt, um durch den Tag, durch die Jugend zu kommen.
In "Die Gefangene", dem fünften Band seiner Recherche, schreibt Marcel Proust, dass "die einzig wahre Reise, der einzige Jungbrunnen" darin bestünde, "nicht neue Landschaften" aufzusuchen, sondern "andere Augen" zu haben. In diesem Sinne schenkt Kawakami ihrer krankhaft schielenden Hauptfigur am Ende doch so etwas wie einen Aufbruch, der weder die Traumata ausradiert noch die Beziehungen kittet, der aber immerhin die Möglichkeit eines neuen Blicks in den Raum stellt:
"Die Tränen rollten und rollten. Alles, was ich sah, war wunderschön. Auch wenn ich es niemandem erklären, es mit niemandem teilen konnte: Es war einfach wunderschön."
Mieko Kawakami: "Heaven", Roman
Aus dem Japanischen von Katja Busson
Dumont Verlag, Köln 2021. 192 Seiten, 22 Euro