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Miesmuscheln
Überleben per Klammertrick

Wer versucht, eine Miesmuschel von einem Felsen abzureißen, wird sich wundern. Die Kräfte, die es dafür braucht, sind beträchtlich. Lange Zeit aber war es ein Rätsel, wie die Muscheln diese Haft-Künste im Detail zustande bringen. Wissenschaftler aus Potsdam sind der Lösung nun ein gutes Stück näher gekommen.

Von Frank Grotelüschen | 10.08.2015
    Eine Steilküste am Atlantik. Mit voller Wucht schlägt die Brandung gegen die Felsen. Für das Leben an sich nicht gerade ein Wohlfühlambiente. Doch manche Meeresbewohner kommen hier ganz wunderbar zurecht – insbesondere Miesmuscheln.
    "Damit sie nicht gefressen werden, klammern sie sich an den Felsen fest. Das tun sie mit speziellen Fäden aus einem ganz feinen Polymer. Diese Fäden haben wirklich tolle mechanische Eigenschaften",
    sagt Peter Fratzl vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam.
    Lebensversicherung mal anders
    Eine dieser tollen Eigenschaften fasziniert ihn besonders: Im Normalzustand ist das Miesmuschel-Polymer, ein faserartiges Kettenmolekül, steif und unnachgiebig. Damit kann das Tier fest am Felsen kleben.
    "Aber wenn dann doch die zulässige Grenze überschritten wird, also die ganz große Welle kommt, ist diese Faser plötzlich in der Lage, sich enorm zu dehnen, ohne dabei abzureißen – sozusagen als Sicherheitsverbindung zum Felsen bestehen zu bleiben."
    Als würde ein Seil bei Überbeanspruchung nicht reißen, sondern unvermittelt nachgeben und ausleiern. Für die Muschel ist das eine Lebensversicherung, die verhindert, dass sie ein heftiger Brecher vom Felsen fegt. Einen Tag später hat sich die überdehnte Faser dann von selbst zusammengezogen und ist in ihren ursprünglichen Zustand zurückgekehrt. Nur: Wie spielt sich dieser Prozess im Detail ab? Dem gingen Fratzl und seine Leute nun nach – und kamen zu einem verblüffenden Ergebnis:
    "Der Trick ist, dass es zwei unterschiedlich starke Verbindungen innerhalb dieses Materials gibt. Es gibt eine sehr feste Verbindung, die sozusagen Fasern durch das ganze Material durchgehen lässt. Diese Fasern untereinander sind durch schwächere Verbindungen verknüpft."
    Wollknäuel mit Klettverschluss
    Unterm Mikroskop erinnert die Muschelfaser an ein Wollknäuel. Schaut man genau hin, sind viele der Schlingen im Knäuel mit ihren Nachbarschlingen verbunden, mit einer Art Klettverschluss. So lange eine Kraft, die das Knäuel auseinanderreißen will, nicht zu stark ist, halten die Klettverschlüsse, das Knäuel bleibt zusammen.
    Doch überschreitet die Kraft einen bestimmten Grenzwert, lösen sich die Klettverschlüsse einer nach dem anderen – das Knäuel wird entwirrt. Die Faser aber ist so fest, dass sie nicht reißt. Quasi über eine Sicherungsleine bleibt die Muschel mit dem Felsen verbunden. Danach wickelt sich dieses Seil von selbst wieder zu einem Knäuel auf – und zwar so zielgenau, dass sich die meisten der Klettverschlüsse wiederfinden und erneut zuschnappen können.
    "Im Grunde genommen geht's darum, dass man beim Zuknöpfen des Hemds wieder das Knopfloch findet."
    Von der Natur lernen
    Bei der Muschel entspricht der Klettverschluss einem bestimmten Typ von chemischer Brückenbindung, vermittelt durch Metallionen, zumeist Zink. Ein schlauer Trick der Natur, den Fratzl und andere Experten nun für die Materialforschung nutzen wollen.
    "Bei Schädigung würde sich das Material wieder zurück in den Ausgangszustand begeben, ohne dass man's ersetzen muss. Im Sinne der Nachhaltigkeit von Materialien wäre das eine deutliche Erhöhung der Lebensdauer. In diese Richtung wird sehr intensiv geforscht."
    Erste Ansätze gibt es bereits. So ist es Chemikern schon gelungen, die metallische Brückenbindung in Kunststoffe einzubauen und diese dadurch fester zu machen. Aber:
    "Um die Qualität zu erreichen, die in diesen Muschelfasern ist, müsste man in der Lage sein, die Bindung in eine ganz gezielte räumliche Anordnung zu bringen. Und wie man das in einem Kunststoff herstellt, ist noch nicht ganz klar."
    Noch also gelingt es den Forschern nicht, Knopf und Knopfloch verlässlich zur Deckung zu bringen. Diesen Trick beherrscht die Miesmuschel nach wie vor viel besser.