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Der Kurswechsel in der türkischen Flüchtlingspolitik

Jahrelang hat die Türkei - auch auf Wunsch Europas - Millionen Schutzsuchende aus Syrien und anderen Krisenregionen aufgenommen. Doch jetzt leitet die Regierung eine radikale Wende in ihrer Flüchtlingspolitik ein. Innenpolitische Probleme zwingen Präsident Recep Tayyip Erdogan zu diesem Kurswechsel, der auch Auswirkungen auf die EU haben könnte.

Von Susanne Güsten | 04.10.2021
Türkische Militärpatrouillen in der Nähe der türkisch-iranischen Grenze in der Provence Van im Osten der Türkei am 21. August 2021. Die türkischen Sicherheitskräfte arbeiten hart daran, die Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Ostgrenze des Landes zum Iran zu verschärfen, um illegale Migrationsströme aus Ländern zu verhindern, darunter Afghanistan.
Die türkischen Sicherheitskräfte arbeiten hart daran, die Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Ostgrenze des Landes zum Iran zu verschärfen, um illegale Migration aus Ländern zu verhindern, darunter Afghanistan (picture alliance / abaca / Ozturk Ali Ihsan / Demiroren Visual Media)
Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar inspiziert die Truppen an der iranischen Grenze im äußersten Osten der Türkei – sie sind in den vergangenen Wochen mehrfach verstärkt worden. Unter Hochdruck wird hier an Mauern, Wachtürmen und Überwachungsanlagen gebaut: Die Türkei macht mobil gegen einen befürchteten Ansturm von Flüchtlingen aus Afghanistan. Viele schaffen es trotzdem über die gebirgige Grenze - so wie dieser Afghane, mit dem der Lokaljournalist Rusen Takva im osttürkischen Van vor einigen Tagen sprechen konnte: "Wenn die türkischen Grenzer uns erwischen, prügeln sie uns mit Stöcken und schicken uns zurück in den Iran."
EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei - Hintergründe zur Eskalation an der griechisch-türkischen Grenze (Beitrag von 2020)
Die Türkei hindert Flüchtlinge nicht mehr daran, in die EU zu gelangen. Griechenland geht massiv dagegen vor – auch mit Rückendeckung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Doch die Gemengelage ist schwierig und wie es weitergeht offen. Die wichtigsten Fragen im Überblick.
Einen sogenannten Push-Back von Migranten an den Außengrenzen haben sich in den vergangenen Jahren einige EU-Mitgliedsstaaten vorwerfen lassen müssen, doch in der Türkei gab es das bisher nicht. Hunderttausende Afghanen leben bereits in der Türkei, und fast vier Millionen Geflüchtete aus Syrien.
Doch nun leitet die Türkei eine radikale Wende in ihrer Flüchtlingspolitik ein: Sie will keine weiteren Menschen mehr aus Syrien oder Afghanistan aufnehmen, sondern mit der Rückführung von Flüchtlingen in ihre Heimat beginnen. Denn Präsident Recep Tayyip Erdogan kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Türkinnen und Türken die Aufnahme der Flüchtlinge mittragen. Die Stimmung ist gekippt.

"Die Türkei blieb auf dem Problem sitzen"

Zum Beispiel in diesem Sommer in der türkischen Hauptstadt Ankara: Ein Mob plündert Geschäfte von Syrern im Arbeiterviertel Altindag und zündet Autos an, während syrische Familien angsterfüllt hinter verdunkelten Fenstern kauern. Altindag sei kein Sonderfall, sagt der Demoskop Bekir Agirdir vom Meinungsforschungsinstitut Konda. "Unser Institut forscht seit Januar 2016 zur Wahrnehmung von Syrern in der Türkei, und wir haben zusehen können, wie die anfängliche Akzeptanz schrittweise in Ablehnung umgeschlagen ist. Nach unseren neuesten Erhebungen liegt die Ablehnung heute bei 70 bis 80 Prozent, und zwar quer durch die Gesellschaft."
Die Türkei hat eine ähnliche Bevölkerungsgröße wie Deutschland. Rund fünf Millionen Geflüchtete hat sie innerhalb von wenigen Jahren aufgenommen, das entspricht in etwa der Bevölkerung von Irland. Das schaffe natürlich Probleme, sagt der Journalist Rusen Cakir vom unabhängigen Sender Medyascope – zumal das Land kaum ein Viertel der Wirtschaftskraft von Deutschland hat: "Gleich wie groß ein Land ist und wie stark, ist es fast unvorstellbar, in so kurzer Zeit so viele Menschen aufzunehmen. Und die Türkei ist zwar groß, aber sie ist nicht mehr so stark wie früher, sie hat wirtschaftliche Probleme, politische Probleme und soziale Probleme. Das Land ist ohnehin aufgeladen mit Konfliktpotenzial, es gibt eine Polarisierung, Zusammenstöße, mancherorts sogar Kämpfe. Nun kommen die Flüchtlinge hinzu, und das beunruhigt viele Menschen."
EU-Türkei-Abkommen - Milliarden statt Migranten
2016 kam es nach langen Verhandlungen zum EU-Türkei-Abkommen: Europa versprach Milliardenhilfen, im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei, Fluchtrouten abzuriegeln und nach Griechenland Geflüchtete zurückzunehmen. Inzwischen bedroht ein politischer Streit den Prozess – ist das Abkommen noch zu retten?
Dafür könnten natürlich die Geflüchteten nichts, präzisiert Cakir: "Wenn es hier Probleme gibt - und es gibt viele -, dann liegt die Verantwortung dafür bei der Regierung. Die glaubte anfangs, das Syrien-Problem werde schnell gelöst, das Assad-Regime rasch gestürzt - man werde bald in Damaskus beten, hieß es damals in Ankara. Der damalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu meinte sogar, der Westen werde zum Eingreifen in Syrien motiviert, wenn es eine gewisse Fluchtbewegung von dort gebe. Doch der Westen griff nicht ein, obwohl die Zahl der Flüchtlinge schnell das erwartete Maß überstieg, und die Türkei blieb auf dem Problem sitzen."

Syrische Flüchtlinge gelten in der Türkei als "Gäste"

Damit hatte die türkische Regierung nicht gerechnet – und darauf hatte sie die Bevölkerung auch nicht vorbereitet. Die Folgen für die Gesellschaft wurden erst später sichtbar, sagt Meinungsforscher Agirdir: "An unseren Umfragen haben wir sehen können, dass die Menschen in der Türkei die Aufnahme der Flüchtlinge aus Syrien zunächst tatsächlich als humanitäre Hilfe unterstützt haben - aber sie haben es als vorübergehendes Problem gesehen. Niemand hat damit gerechnet, dass diese Menschen bleiben. Weil niemand ihnen gesagt hat, dass sie womöglich auf Dauer bleiben."
Bis heute gelten die syrischen Flüchtlinge in der Türkei als "Gäste", die "vorübergehenden Schutz" genießen – so heißt ganz offiziell ihr Aufenthaltsstatus im Land. Denn die Türkei hält an einer sogenannten geografischen Einschränkung der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 fest, wonach Asyl nur Flüchtlingen aus Europa gewährt wird. Geflüchtete aus allen anderen Teilen der Welt reicht die Türkei schon immer weiter an das UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen - duldet sie allerdings im Land, bis das UNHCR ein Aufnahmeland gefunden hat. Speziell für die Syrerinnen und Syrer wurde bei Beginn der großen Fluchtbewegung die Kategorie des "vorübergehenden Schutzes" geschaffen, die einem vorläufigen Aufenthaltsrecht gleichkommt.
Doch inzwischen wurden eine halbe Million syrischer Kinder in der Türkei geboren, und diese Notlösung reicht schon lange nicht mehr, sagt Meinungsforscher Agirdir: "Die Regierung hat von Anfang an vor allem einen großen Fehler gemacht: Sie hat nie eine Integrationspolitik für die Syrer im Land entwickelt. Sie hat die Flüchtlinge immer nur im außenpolitischen Kontext der Syrien-Frage gesehen und keine Politik für diese heterogene Gruppe entwickelt. Sie hat kein Konzept zur Integration dieser Menschen in die türkische Gesellschaft."

Ressentiments in der türkischen Bevölkerung

Die Türkei sorgt für die Grundbedürfnisse der geflüchteten Syrerinnen und Syrer – und zwar in vorbildlicher Weise, wie internationale Organisationen immer wieder betonen. Sie haben Zugang zum türkischen Gesundheitssystem und zum Bildungswesen: Sie können zum Arzt und ins Krankenhaus, ihre Kinder gehen in türkische Schulen und Hochschulen. Arbeitsgenehmigungen bekommen aber nur die wenigsten, die meisten arbeiten daher schwarz. Das schaffe Ressentiments in der türkischen Bevölkerung, sagt Meinungsforscher Agirdir: "Ein Türke, der seinen Arbeitsplatz verloren hat, der keine Beschäftigung mehr zum Mindestlohn findet, der für die Hälfte des Mindestlohns arbeitet und ohne Sozialversicherung, der sieht die Syrer dadurch natürlich als Konkurrenten."
Bei den Krawallen in Altindag kochte diese Stimmung über. Er habe bisher die AKP gewählt, schreit dieser aufgebrachte Anwohner bei den Krawallen, die Regierungspartei von Erdogan - aber nun habe er deren Flüchtlingspolitik satt. Die meisten Angreifer von Altindag dürften bisher die Regierung gewählt haben, sagt Rusen Cakir: "Es brodelt vor allem an der Basis von AKP und MHP – in den wirtschaftlich rückständigen Bezirken, wo die Regierungsparteien stark sind. Das ist zwar öffentlich nicht so sichtbar wie bei der Mittelschicht, weil diese Leute weniger soziale Medien nutzen, aber da gibt es viel Wut."
Das hat auch die Opposition erkannt: Die Flüchtlingsfrage ist zur Achillesferse der Regierung Erdogan geworden. Zwei Wochen nach den Ausschreitungen von Altindag wurde in Ankara eine Partei gegründet, die sich die Abschiebung aller Flüchtlinge auf die Fahnen geschrieben hat. Ihr Vorsitzender Ümit Özdag sagt zum Parteiprogramm: "Wir werden alle Flüchtlinge in ihre Heimat zurückschicken. Syrer nach Syrien, Afghanen nach Afghanistan, Iraker in den Irak. Es reicht! Die türkische Nation ist es leid, Millionen Ausländer zu ernähren. Jeder soll sich in seinem eigenen Land ernähren. Unser armes Volk will den Preis nicht mehr bezahlen, der schon fast hundert Milliarden Dollar beträgt."

Solche Reden werden nicht nur am rechten Rand des politischen Spektrums gehalten. Seit im Sommer Tausende Afghanen auf der Flucht vor den Taliban über die iranische Grenze in die Türkei kamen, ist das Thema zum Paradepferd der größten Oppositionspartei geworden, der kemalistischen CHP, die sich als sozialdemokratisch bezeichnet. Ihr Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu wandte sich in einer Videobotschaft an seine Wählerinnen und Wähler: "Liebe Landsleute, die Flüchtlingsflut ist eine Schicksalsfrage für unser Land. Jetzt werden wir auch noch von der afghanischen Flut überrollt, und die Regierung tut nichts dagegen."
Der türkische Präsident Erdogan erinnert an die  Opfer des Putschversuchs vom 15. Juli 2016.
Die Flüchtlingsfrage ist zur Achillesferse der Regierung Erdogan geworden (ADEM ALTAN / AFP)

Neue Ausländerpolitik im Nordwesten

Den Worten des Vorsitzenden ließ ein Lokalpolitiker der CHP Taten folgen. In der nordwesttürkischen Stadt Bolu kündigte der Bürgermeister Tanju Özcan von der CHP eine neue Ausländerpolitik an: "Wir erhöhen die kommunalen Gebühren für Ausländer um das Zehnfache, vor allem die Wasserpreise und die Abfallgebühren. Ausländer können das Wasser also nicht mehr zum gleichen Preis nutzen wie türkische Staatsbürger - sie zahlen künftig das Zehnfache. Warum tun wir das? Weil wir wollen, dass sie gehen! Diese Besucher sind schon viel zu lange geblieben."
Brandgefährlich sei dieser Populismus, sagt Meinungsforscher Agirdir: Er erinnert an das Gewaltpotenzial, das in der türkischen Gesellschaft dicht unter der Oberfläche liegt und sich schon öfter in der hundertjährigen Geschichte der Republik in Massakern und Pogromen an Minderheiten entladen hat. "Wo Lawinengefahr besteht, sollte man nicht laut schreien. Wenn man in diesem gesellschaftlichen Klima das Wort ‚Syrer‘ sagt, ist klar, was passiert – es wird eine Lawine auslösen. Angesichts dieser Arbeitslosenquote, dieser Existenzängste, dieser Inflation und der Pandemie steht diese Gesellschaft bereits am Abgrund. Wenn man dieser Gesellschaft dann sagt: ‚Hier sind die Buhmänner – die sind schuld daran’, dann fehlt nicht mehr viel zum Verhängnis."
Diese Gefahr sieht inzwischen auch die Regierung. Staatspräsident Erdogan wandte sich nach den Ausschreitungen von Altindag mit an einer Ansprache an die Nation: "Wir sind uns der Unruhe bewusst, die ungeregelte Zuwanderung in unserem Land verursacht. Tatsächlich ist es aber so, dass kein anderes Land der Welt so viele Flüchtlinge aufgenommen und dabei so wenige Probleme mit Kriminalität bekommen hat, wie wir. Wenn einige Einzelfälle in den Medien und sozialen Medien hochgespielt werden, zeugt das meiner Ansicht nach von bösem Willen."
Zugleich scheint der Regierung aber langsam aufzugehen, welche innenpolitischen Probleme sie sich mit ihren außenpolitischen Ambitionen geschaffen hat. Deshalb will sie nun die Ostgrenze zum Iran versiegeln, um Flüchtlinge aus Afghanistan fernzuhalten.

"Wir müssen unsere europäischen Freunde an ihre Verantwortung erinnern"

Was die Syrerinnen und Syrer im Land angeht, hat Ankara noch immer Hoffnungen, zumindest einige von ihnen irgendwann in den von türkischen Truppen besetzten Gebieten in Nordsyrien ansiedeln zu können. Vor allem aber pochte Erdogan in seiner Ansprache auf die Verantwortung der EU: "Wir müssen unsere europäischen Freunde an ihre Verantwortung erinnern: Europa ist der Anziehungspunkt für Millionen Menschen und kann sich dem nicht durch eine harte Schließung seiner Grenzen entziehen, um nur die Sicherheit und das Wohlergehen seiner eigenen Bürger zu schützen. Europa verstößt mit dieser Haltung nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern kehrt auch humanitären Werten den Rücken. Die Türkei hat weder die Pflicht noch die Schuldigkeit, sich als Flüchtlingslager für Europa herzugeben."
Schon einmal hatte Erdogan versucht, die Unterstützung der EU zu erzwingen – als er im März vergangenen Jahres Tausende Flüchtlinge an die griechische Grenze schickte. Der Versuch scheiterte: Griechenland schlug die Flüchtlinge mit europäischer Rückendeckung und brachialer Gewalt zurück. In der EU verspielte Erdogan mit der Aktion viel guten Willen und Ansehen für die großzügige Flüchtlingspolitik der Türkei.
Ironisch ist es deshalb, dass er in der Türkei als "Erfüllungsgehilfe" der Europäer und deren als zynischer empfundener Flüchtlingspolitik angeprangert wird. Vorneweg von der führenden Oppositionspartei, der CHP, und ihrem Vorsitzenden Kilicdaroglu: "Wir müssen nicht die Flüchtlinge angreifen, die selbst Opfer sind, sondern die Drahtzieher dieser Politik und ihre Marionetten. Wer ist der Drahtzieher? Das ist der Westen, der mit seinem Geld unser Land in ein offenes Flüchtlingsgefängnis verwandelt hat. Seine Marionette ist unsere Regierungspartei, die für dieses Geld eure Heimat und euren sozialen Frieden verkauft hat."
Europas Flüchtlingspolitik - Menschen zwischen den Fronten (Beitrag von 2020) Tausende Flüchtlinge harren an der griechisch-türkischen Grenze aus, seit die Türkei vergangene Woche angekündigt hatte, sie nicht mehr am Grenzübertritt zu hindern. Angesichts dieser Lage: Bleibt die EU den großen Wurf in Sachen Asylreform weiter schuldig? Was genau fordert Erdogan?
Hohn und Abscheu schüttet Kilicdaroglu über dem Flüchtlingsabkommen mit der EU aus: Europa habe die Türken damit zu Wärtern in ihrem Flüchtlingslager gemacht – und erdreiste sich auch noch, sie für ihre Willfährigkeit zu loben.

Opposition: Fortschreibung des Abkommens darf es nicht geben

Eine Fortschreibung des Abkommens dürfe es nicht geben, fordert der Oppositionsführer: "Die Flüchtlinge gehören eigentlich den Europäern. Wenn die EU nicht mit ihrem Geld unsere Regierung gekauft hätte, wären diese Flüchtlinge heute alle in europäischen Städten. Nun wollen die Europäer uns noch einmal drei Milliarden Euro überweisen, um die Flüchtlinge fünf weitere Jahre zu übernehmen, und Erdogan lehnt nicht ab. Obendrein wollen sie ein neues Schmiergeldpaket anbieten, um auch die Flüchtlinge aus Afghanistan von Europa fernzuhalten. Da geht es um unsere Städte, unser Leben und unseren sozialen Frieden - gegen ihre Euro."
Seit Jahresbeginn verhandelt die EU mit der Türkei über eine Verlängerung des Flüchtlingsabkommens von 2016, nachdem die damals vereinbarten Hilfsgelder von sechs Milliarden inzwischen aufgebraucht sind. Beim kommenden EU-Gipfel am 21. und 22. Oktober soll die Neuauflage beschlossen werden – so war es zumindest beim letzten Gipfel im Juni noch geplant.
Doch seither ist die Stimmung in der Türkei gekippt, und die Opposition hat Rückenwind aus der Bevölkerung, wenn sie Erdogan damit unter Druck setzt: "Liebe Landsleute, wir müssen Erdogan daran hindern, einen weiteren Flüchtlingspakt zu schließen. Er darf diesen schmutzigen Handel nicht machen. Erhebt also überall eure Stimme. Beginnt bei den Abgeordneten, auch denen der Regierungspartei: Sind sie Vertreter des Volkes oder Vertreter Erdogans? Warnt sie davor, so etwas zuzustimmen! Und Erdogan, dich warne ich: Wage es ja nicht, dieses Geld anzufassen. Meinetwegen füllst du alle tausend Zimmer deines Palastes mit afghanischen Flüchtlingen, aber mehr erlaubt dir das Volk nicht mehr."

Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Klemme blickt die türkische Regierung über ihre Grenze nach Nordsyrien – und zur internationalen Staatengemeinschaft. Bei einem Besuch von UN-Flüchtlingskommissar Fillipo Grandi in der Türkei drängten Erdogan und sein Außenminister Mevlüt Cavusoglu im September auf internationale Unterstützung für die Rückführung syrischer Flüchtlinge in jene Teile Syriens, die nicht vom Regime in Damaskus kontrolliert werden. Cavusoglu zeigte sich anschließend zuversichtlich: "Wir sehen langsam mehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft dafür, die Flüchtlinge auf sichere Weise in ihre Länder zurückzuschicken. Die Welt hat begonnen zu verstehen, wie ernst dieses Problem ist. Wir arbeiten jetzt mit dem UN-Flüchtlingskommissariat daran, die Flüchtlinge nach Syrien zurückzuschicken."
Die beiden Politiker stehen neben ihren Landesflaggen.
Bundesaußenminister Maas (l.) und sein türkischer Amtskollege Cavusoglu im August 2021 in Antalya: "Wir sehen langsam mehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft dafür, die Flüchtlinge auf sichere Weise in ihre Länder zurückzuschicken", sagte Cavusoglu an anderer Stelle. (Cem Ozdel / Turkish Foreign Ministry via AP, Pool)

Cavusoglu: Initiative für die Rückführung der Flüchtlinge ins Leben

Das UN-Flüchtlingskommissariat äußerte sich dazu nicht. Auch mit den anderen Nachbarstaaten Syriens, die viele Flüchtlinge beherbergen, will die Türkei sich zusammentun: Libanon, Jordanien und dem Irak. Ankara habe mit diesen Ländern eine gemeinsame Initiative für die Rückführung ins Leben gerufen, so Cavusoglu. Für die Rückkehr müsse eine entsprechende Infrastruktur geschaffen werden. "Die Menschen sollen nicht gezwungen werden zurückzugehen, sondern ihnen sollen Hilfen für die Rückkehr bereitgestellt werden: Projekte wie Schulen, Bildung, Gesundheit - so wie in Idlib, in unseren Einsatzgebieten in Syrien."
Auch an Europa appellierte der türkische Außenminister noch einmal. Denn die Europäer stehen diesem Projekt bisher skeptisch gegenüber, würden Hilfen für einen Wiederaufbau in Nordsyrien doch auf eine implizite Anerkennung der türkischen Besatzung dort hinauslaufen - bisher ein Tabu für die EU. Außenminister Cavusoglu hofft, dass es sich die EU noch einmal überlegt: "Europa war bisher gegen einen Wiederaufbau von Syrien, solange noch Krieg ist. Es stimmt, dass es unrealistisch ist, ein Land während des Krieges wiederaufbauen zu wollen. Aber vor Ort die Grundbedürfnisse der Menschen zu decken, ist doch etwas anderes. Dies ist ein globales Problem, und wir müssen es als internationale Gemeinschaft gemeinsam lösen."
Die Türkei habe mit der Aufnahme von fünf Millionen Menschen jedenfalls genug getan, sagte Staatspräsident Erdogan zuletzt bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Sie habe nicht mehr die Kraft oder den Willen, weitere Flüchtlinge aufzunehmen.