Mikrokosmos

Eskapistische Jugend?

42:46 Minuten
Melt-Festival
Besucherin des Melt-Festivals filmt am 16.07.2016 in Gräfenhainichen (Sachsen-Anhalt) das Konzert der Band Two Door Cinema Club. © picture alliance/dpa/Foto: Sophia Kembowski
Von Johannes Nichelmann · 08.09.2017
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Welche politische Botschaft hat die Jugend Europas? Wie in jedem Sommer treffen sich Menschen vom ganzen Kontinent auf den angesagten Musikfestivals. So auch auf dem Melt!-Festival in Gräfenhainichen, Sachsen-Anhalt, Europas größtem Indie- und Elektronik-Festival, wo im Juli 72 Stunden non-stop gefeiert wurde.
Das Melt!-Festival ist in diesem Jahr 20 Jahre alt geworden - bis zu 20.000 junge Menschen feiern jährlich die Musik, das Leben, sich selbst. Die Generation, die 1997 hier angefangen hat zu tanzen und zu zelten, hat den Eisernen Vorhang miterlebt. Heute kommt die sogenannte "Generation Y" nach Ferropolis - geboren zwischen 1988 und 1998 hat sie das Europa der geschlossenen Grenzen nie kennengelernt.
Dass aber mit der Europäischen Union irgendwas im Argen liegt, spüren viele - auch der 25-jährige Roberto. Der Spanier ist mit seinen Freunden zum Melt gekommen. Für ihn stehen die zwölf Sterne der EU-Flagge für Freiheit, Akzeptanz und eine Perspektive auf die Zukunft, aber er selbst fühlt sich zu klein, um durch politisches Engagement etwas bewegen zu können.
Festivalleben im Holzhaus
Festivalleben im Holzhaus© Deutschlandradio / Johannes Nichelmann
Eigentlich spielt es kaum eine Rolle, was junge Menschen politisch wollen oder nicht wollen, denn ihre Stimme wird im überalterten Deutschland kaum gehört. Die Bevölkerung wird älter, sodass mit jeder Bundestagswahl die jungen Wähler weniger ins Gewicht fallen. Bei der Bundestagswahl 2013 kamen auf einen jungen Wähler unter 25 Jahren sechs, die über 50 Jahre alt sind.
Wenn in knapp zwei Wochen wieder gewählt wird, dann stehen 9,4 Millionen Wahlberechtigte im Alter zwischen 18 und 30 Jahren rund 22,3 Millionen Wählerinnen und Wählern gegenüber, die das 60. Lebensjahr bereits vollendet haben.
Ein europaweites Problem ist die geringe Wahlbeteiligung bei jungen Menschen. Bei der Brexit-Abstimmung im vergangenen Jahr sind zehn Prozent der 18- bis 34-Jährigen nicht zur Wahl gegangen, bei den Menschen über 65 waren es nur zwei Prozent.
Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich sind im ersten Wahlgang 30 Prozent der Jungwähler nicht an der Wahlurne erschienen. Der Gewinner Emmanuel Macron konnte vor allem die Stimmen der Altersgruppe 60 plus für sich gewinnen.
Melt-Festival-Besucherinnen im Selfie-Modus
Melt-Festival-Besucherinnen im Selfie-Modus© Deutschlandradio / Johannes Nichelmann
Die Berliner DJs Gernot Bronsert und Sebastian Szary haben in der Melt-Geschichte alle Besucherinnen und Besucher kommen und gehen sehen. Von Anfang an sind sie als DJ-Duo Modeselektor mit dabei. Inzwischen sind sie Megastars in der Elektroszene. Was sich für sie verändert hat, ist der Kontakt zu den Fans. Am Rande ihrer Auftritte finden kaum noch intensive Gespräche statt. Vielmehr geht es um das schnelle, verwackelte Selfie. Die Musiker als Trophäe für Instagram und Facebook.
Die beiden sind in den 1980er-Jahren am Stadtrand von Ost-Berlin aufgewachsen. Musik, die politisch war, hat für Gernot Bronsert bis heute immer einen Beigeschmack von SED. Deswegen reagiert er bis heute allergisch auf Songs mit politischer Botschaft. Seine Werke sollen den Zuhörerinnen und Zuhörern die Möglichkeit loszulassen und sich von den Lasten des Alltags zu entfernen. Genau darum geht es auch auf dem Melt-Festival: das gewöhnliche Leben zu Hause lassen, eintauchen in eine Traumwelt aus Beats und Bier.
Vincent-Immanuel Herr, EU-Aktivist
Vincent-Immanuel Herr, EU-Aktivist © Deutschlandradio / Johannes Nichelmann
Was denkt Europas Jugend? Die repräsentative Studie "Generation What" hat 180.000 Menschen zwischen 18 und 34 Jahren in Europa zu politischen und gesellschaftlichen Themen befragt. Auftraggeber war die European Broadcasting Union, EBU. Demnach sagen nur zehn Prozent der jungen Europäer, dass sie sich mit Europa identifizieren. Es sind vor allem junge Luxemburger, die sich europäisch fühlen und nur acht Prozent der Belgier. 21 Prozent sagen, dass sie überhaupt kein Vertrauen in Europa haben. 30 Prozent der Befragten geben an, keinerlei Kontakt zu Menschen eines anderen EU-Landes zu haben.
Der 29-jährige EU-Aktivist Vincent-Immanuel Herr ist zum ersten Mal auf einem Musikfestival. Er will dafür sorgen, dass mehr junge Menschen etwas mit der Idee der EU anfangen können. Seit Jahren setzt er sich dafür ein, dass jeder EU-Bürger zu seinem 18. Geburtstag ein kostenfreies Interrail-Ticket erhält, um einen Monat lang die EU kennenzulernen. Gleichzeitig kritisiert er die Generation der EU-Politikerinnen und Politiker, die jetzt an der Macht sind. Ihnen gelänge es nicht junge Menschen für Europa zu begeistern und das könne fatale Folge haben: Ein Leben mit geschlossenen Grenzen, ohne Freiheit, Akzeptanz und eine Perspektive auf die Zukunft.
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