Mikrokosmos

Leaking Territories

43:44 Minuten
Eindrücke der Performance "Leaking Territories / Undichte Territorien" von Alexandra Pirici
Eindrücke der Performance "Leaking Territories / Undichte Territorien" von Alexandra Pirici © Deutschlandradio / Rilo Chmierlorz
Von Rilo Chmielorz · 15.09.2017
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Alle zehn Jahre zeigen die "Skulptur Projekte" Münster Kunst im öffentlichen Raum. Bei der fünften Ausgabe 2017 sind auch Performances Skulptur: Die rumänische Künstlerin Alexandra Pirici tritt mit "Leaking Territories" eine geopolitische Reise mittels Sprache, Gestik und Klängen im Münsteraner Friedenssaal an.
Rilo Chmielorz hat sich "Leaking Territories/Undichte Territorien" angesehen und anschließend die Schweizerin Marianne Wagner vom Kuratorenteam der "Skulptur Projekte" zum Gespräch im Schlossgarten getroffen. Nicht zufällig sitzen sie auf einer Bank, die die US-amerikanische Konzeptkünstlerin Jenny Holzer 1987 für die Skulpturenschau gestaltet hat: Auf einer "Antikriegsbank", mit der Holzer das nach dem Ersten Weltkrieg errichtete Kriegerdenkmal kommentiert.
Die Arbeit Holzers und die aktuelle Performance "Leaking Territories" bilden den Anlass, um über Performance, Skulptur, Denkmal im öffentlichen Raum zu reflektieren und der Frage nachzugehen, welchen Wert eine nur im Moment existierende künstlerische Arbeit auch für die Stadt haben kann. Die Auseinandersetzung gerade von Künstlerinnen mit Gräueltaten und Krieg zieht sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Ausgaben der "Skulptur Projekte".

Besucher im Eingangsfoyer des historischen Rathauses in Münster
Besucher im Eingangsfoyer des historischen Rathauses in Münster© Deutschlandradio/Rilo Chmielorz
Im großen Eingangsfoyer des historischen Rathauses trudeln erste Besucher ein. Am anderen Ende des Foyers kommen vier junge Frauen und zwei Männer die Treppe herunter: die Performer. Sie tragen Alltagsklamotten, Jeans, T-Shirt und Turnschuhe wie die meisten anderen Anwesenden auch. So mischen sie sich unter das Publikum. Wirklich unterscheiden kann man sie erst, als sie ihre Stimmen erheben. Ein trauriges Lamento hallt durch den Raum: we are nowhere - Vorsicht! Wir befinden uns auf "Leaking Territories".
Krieg, Revolution, Flucht, Freiheit
Fast wie in einer Prozession wird das Publikum in den Friedenssaal geleitet. In einer Ecke verschmelzen die sechs Performer-Körper zu einer amorphen Skulptur auf dem Boden, langsam wälzen sie sich auseinander, kommen zum Stehen und dann beginnt ein trauriges Rezital.
Performer bilden mit ihren Körpern eine am Boden liegende Skulptur
Performer bilden mit ihren Körpern eine am Boden liegende Skulptur© Deutschlandradio/Rilo Chmielorz
Die Performer nehmen die Zuschauer mit auf eine geopolitische Reise durch die Geschichte: Krieg, Revolution, Flucht, Freiheit und immer wieder auch Kunst - bis zu einer analogen Google-Suchmaschine. Jeweils ein Performer zitiert ein Ereignis, dem ein Bild, eine Fotografie, eine Skulptur, ein Poem zugrunde liegt. Zu sehen sind die Fotos und Abbildungen nicht. Die rumänische Künstlerin Alexandra Pirici und ihre Performer verkörpern sie: Das abgebildete Ereignis wird rezitiert und in Beziehung gesetzt zum Ort, an dem wir uns befinden.
Die aus verschieden Länder kommenden Tänzer-Performer sprechen englisch. Nicht immer werden alle Besucher alles verstehen, aber die Darstellung hilft, denn gleichzeitig frieren andere Performer die Geste des Abgebildeten, das wir nicht sehen, skulptural für einen kurzen Moment ein: die Hände erhoben, zu Tode gekrümmt, elegisch einen imaginären weiten Horizont kontemplierend, eine tatsächliche Skulptur nachstellend, eine Zeitlupenbewegung vollziehend.
Performer frieren das, was wir nicht sehen, skulptural ein
Performer frieren das, was wir nicht sehen, skulptural ein© Deutschlandradio/Rilo Chmielorz
So gelangen wir vom Westfälischen Frieden über Caspar David Friedrichs "Mondaufgang über dem Meer" unter anderem zur Pariser Kommune, ins Warschauer Getto, zu Sol LeWitts "Black Form", zum Tahir-Platz, auf chinesische Öl-Bohrinseln, den sogenannten mobile national territories, nach Palästina und zu Peter Fechter, der bei einem Fluchtversuch nach Westdeutschland an der Mauer erschossen wurde, zum Maidan, zum Börsencrash von 2010, in die unendliche Weite des Universums - Neil Armstrongs erster Schritt auf dem Mond - und schließlich ins World Wide Web.
Dem Publikum nahe kommen
Es ist lexikalisches Wissen, das hier rezitiert wird - versinnbildlicht und verkörpert durch die skulpturalen und gleichzeitig fragilen Gesten der Performer. Dabei werden stets die Koordinaten genannt oder die Jahreszahl, damit der Betrachter weiß, welche Entfernungen ihn von den anderen Orten und Ereignissen trennen und welche zeitliche Distanzen. Der Raum wird angefüllt mit einem imaginären Netz aus "time-lines" und "space-lines".
"Leaking Territories". Die Grenzen sind undicht. Der gesamte Raum ist Bühne, immer wieder bahnen sich die Performer ihren Weg durch das Publikum, das für einen Moment zu "displaced persons" wird und sich eine neue Position im Raum suchen muss. Einige verlassen sogar den Ort. Zu nah scheint ihnen das Geschehen auf die Pelle zu rücken.
Performer als personifizierte Suchmaschine
Performer als personifizierte Suchmaschine© Deutschlandradio/Rilo Chmielorz
Schließlich gelangen wir zu Google: Die Performer agieren als analoge, verkörperte Suchmaschine. Das Publikum wird aufgefordert, einen Begriff zu nennen, der gegoogelt werden soll. Die sechs Performer stehen in einer Reihe an der Stirnseite des Raumes unterm Kruzifix, ganz entspannt, fast privat und antworten spontan auf die Anfragen.
Nach etwa 35 Minuten erheben die Performer wieder ihre Stimme - und ihr trauriger Gesang geleitet uns zurück in das Foyer. Das scheinbare Ende ist aber nur der Anfang, denn wie in einer Wiederholungsschleife vollzieht sich die Performance erneut - einem Ritual gleich - wieder und wieder und wieder - und wieder.

Die Skulptur Projekte Münster laufen noch bis zum 1. Oktober 2017. Die Performance "Leaking Territories" kann man dienstags bis sonntags von 16 Uhr bis 20 Uhr erleben.