Dienstag, 16. April 2024


Milchvernichtung in Omitama

1200 Kühe stehen bei Bauer Nomura im Stall. Sie sind schwarz-weiß gefleckt und stecken ihre Köpfe immer wieder durch die Stall-Einfassung hindurch, denn draußen auf dem Boden liegt das Futter.

Von Silke Ballweg | 06.04.2011
    Nomura führt in der Kleinstadt Omitama einen professionellen Agrarbetrieb. Vor ein paar Jahren hat sich der Bauer eine Melkanlage gekauft, zweimal täglich werden 430 Kühe damit nun gemolken. 24 Tiere können gleichzeitig an die computergesteuerte Melkmaschine angeschlossen werden. Die weiß genau, wie viel Milch die Kuh am Vortag gegeben hat und sie berechnet, wie viel Milch heute abgepumpt werden soll. Zweieinhalb bis drei Stunden dauert es, bis alle 430 Kühe gemolken sind. Die Tiere produzieren insgesamt 12.000 Liter Milch jeden Tag.

    Die Nomura Ranch befindet sich in der Präfektur Ibaraki, rund anderthalb Autostunden nordöstlich von Tokio. Omitama liegt im Landesinneren, bis zum Meer sind es 45 Kilometer. Der Küstenstreifen dort wurde vom Tsunami am 11. März verwüstet. Das Erdbeben vor fast vier Wochen ließ auch einige Dachziegel von Nomuras Wohnhaus herunterkrachen, die Schäden hat er vorerst mit einer blauen Plane abgedeckt. Derzeit hat der Bauer schlimmere Sorgen. Denn seit dem Unfall im Atomkraftwerk darf er seine Milch nicht mehr verkaufen:

    "Wir müssen unsere Milch wegschütten, weil die Regierung beschlossen hat, dass keine Milchprodukte aus Ibaraki mehr konsumiert werden dürfen. Kurz nach dem Unfall in Fukushima hat man die Milch getestet, da wurde Radioaktivität gefunden."

    Nicht nur Milch, auch Gemüse und Fleisch, alle landwirtschaftlichen Produkte aus Ibaraki dürfen derzeit nicht verkauft werden. Trotzdem ärgert sich Nomura über die Entscheidung. Denn in Ibaraki gibt es Milchkühe, die auf der Weide grasen. Und solche, die im Stall stehen, unter einem Dach, so wie seine Tiere:

    "Als sie vor mehr als drei Wochen gemessen haben, da war das ein Tag, nachdem es geregnet hatte, und da waren die Werte bei den Kühen, die auf der Weide standen, hoch, irgendwas um 600. Aber meine Kühe stehen drinnen, da war der Wert ganz normal, er lag bei 15, es gibt also kein Problem mit meiner Milch. Aber trotzdem muss ich sie vernichten."

    Die Präfektur Ibaraki grenzt direkt an das Erdbebengebiet, das Atomkraftwerk Fukushima liegt 160 Kilometer weiter nördlich. Ibaraki ist eine landwirtschaftlich geprägte Präfektur. Melonen, Gemüse, Milch werden hier produziert. 1972 hat Nomura den Hof von seinem Vater übernommen und seither zu einem landwirtschaftlichen Großbetrieb ausgebaut. Den leitet er heute mit 15 Angestellten. Zum Arbeiten hat sich Nomura einen Blaumann über seine normale Kleidung gezogen, auf den Kopf hat er sich ein kleines weißes Handtuch gebunden. Das machen in Japan viele Arbeiter, denn das Handtuch saugt den Schweiß auf.

    Auf seinem Hof stehen mehrere Traktoren und Anhänger, er hat eine überdachte Scheune, gefüllt mit Stroh. Hunde streunen zwischen den offenen Hallen hin und her. Nomura ist ein sympathischer, selbstbewusster Mann, der gerne und gut redet. Wenn er lacht, und das tut er oft, verengen sich seine Augen zu kleinen Schlitzen. Natürlich kann er verstehen, dass es unmöglich ist, in der derzeitigen Situation genau zu prüfen, welche der allein 600 großen Bauernhöfe in Ibaraki von der Radioaktivität bedroht sind. Aber trotzdem bleibe er dabei: seine Milch sei unbedenklich:

    "Das Futter kommt aus den USA und aus Kanada. Und meine Kühe stehen unter einem Dach, sie kriegen also nichts vom Regen ab, selbst wenn der radioaktiv belastet wäre. Es gibt keinen Grund für Angst vor Strahlung in meiner Milch, und es wurde ja auch keine gemessen. Naja, aber was soll ich machen, die Regierung hat so entschieden, da kann ich nichts dagegen tun."

    Ohne den Erlös aus der verkauften Milch sei er in drei Monaten jedoch pleite, erzählt er weiter.

    Normalerweise holt ein Molkereibetrieb zweimal täglich die frische Milch von Nomuras Hof ab. Aber nun muss der Bauer die 12.000 Liter jeden Tag vernichten. Nomuras Sohn Eiichi schließt dafür zunächst einen Schlauch an den Kühltank an, in dem die Milch seit dem Melken aufbewahrt wird. Dann pumpt er die Milch in einen anderen Tank, der hinten an einen Traktor angehängt ist und 6000 Liter fasst. Bevor die gesamte Milch abgepumpt ist, schöpft Eiichi mit einem Plastikeimer noch schnell einige Liter für sich und die Familie. Und dann reicht er mir eine kleine Porzellantasse zum Probieren. Im ersten Moment erschrecke ich mich und denke, das ist doch gefährlich. Aber Eiichi lächelt mir aufmunternd zu, und so führe ich die Tasse schließlich zum Mund und trinke.

    Kurz darauf ist die gesamte Milch in den anderen Tank umgepumpt, und Eiichi setzt sich auf den Traktor hinter das große Lenkrad. Mit der rechten Hand klopft er neben sich auf den Radkasten. Und so schwinge auch ich mich hoch und setze mich neben ihn.

    Langsam biegen wir mit dem Anhänger vom Hof, fahren ein paar Hundert Meter die Straße entlang und holpern anschließend auf ein Feld, auf dem die Nomuras normalerweise Mais anbauen. Hier legt Eiichi einen Hebel um, der mit dem Tank verbunden ist, und dann schießt in einer großen, rund acht Meter breiten Fontäne hinten aus dem Stahltank die weiße Milch in hohem Bogen auf das Feld.

    Dass die Radioaktivität in den Boden und dann auch ins Wasser gelangen würde, wenn die Milch tatsächlich belastet wäre, das ist der Regierung egal. Ihr geht es offensichtlich darum, die Bevölkerung zu beruhigen, dass Lebensmittel aus Ibaraki vorerst nicht mehr verkauft werden. Bis die 6000 Liter in dem Tank auf dem Feld versprüht sind, müssen wir rund 150 Meter auf dem Acker zurücklegen. Shinjirarenai, denke ich: unglaublich. Denn der Anblick ist überwältigend. Und ich erinnere mich an den Geschmack der Milch, die ich kurz zuvor noch im Mund gehabt hatte. Sie war kühl und erfrischend gewesen.

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