Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Milena Michiko Flašar: "Herr Katō spielt Familie"
Ausbruch aus der Rentner-Tristesse

Herr Katōs Rollkoffer, den er für eine Parisreise geschenkt bekommen hat, verstaubt im Haus. Seine Frau entfernt sich von ihm, und der frisch verrentete Japaner weiß nichts mit seinem Ruhestand anzufangen. Einsam wie er ist, findet er als "Stand-In"-Darsteller einen ungewöhnlichen Weg aus der Krise.

Von Felix-Emeric Tota | 31.07.2018
    Buchcover: Milena Michiko Flašar: "Herr Katō spielt Familie"
    Wohin mit der Freiheit des Ruhestands? (Buchcover: Wagenbach Verlag, Hintergrund: picture alliance / May)
    "Der Ruhestand steht Dir schlecht. Deine Frau hat bestimmt bald die Schnauze voll von dir."
    Frisch verrentet führt Herr Katō ein Wartezimmerleben, ein Leben als Komparse, höchstens noch als Nebenrolle. Wirklich viel passiert nicht mehr, seine eigenen Vorstellungen vom Ruhestand sind den farbenfroh-neidischen Einbildungen gewichen, wie seine Kollegen ihrem Ruhestand verbringen. Aufregend. Mit neugewonnener Freiheit. Und abenteuerlichen Trips auf dem Motorrad. Und Herr Katō? Der zieht sich ins Häusliche zurück, versucht spazieren zu gehen, schwitzt dabei aber zu viel und die Besuche beim Arzt bringen auch keine aufregenden Befunde.
    "Als man ihm sagt, dass alles in Ordnung ist – keine Auffälligkeiten, nichts Besorgniserregendes – für sein Alter tipptopp –, da empfindet er neben der Erleichterung eine insgeheime Enttäuschung. Er hat gehofft, man würde etwas finden. Und auch wenn es ihm kaum bewusst gewesen ist, hat ihm die Hoffnung darauf ein Gefühl von Wichtigkeit gegeben: Man würde etwas finden und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Eine Diät etwa. Sport. Drei Tabletten pro Tag. Maßnahmen, auf die er sich gefreut hat und die er trotz Vorfreude darauf zuerst mit einigem Widerstand, dann, sich nach und nach fügend, am Ende eifrig befolgt haben würde. Aber so? Was soll er machen? Man händigt ihm die Befunde aus, er nimmt sie entgegen. Jetzt könnte er darauf zu sprechen kommen, wie schwer es ihm fällt, morgens aufzustehen, aber da hat man ihn bereits aus dem Untersuchungsraum begleitet, zurück ins Wartezimmer, wo er am liebsten bleiben würde. Es ist schön hier."
    Der Rollkoffer verstaubt daheim
    Seit Jahren daran gewöhnt, einander zu langweilen, fängt seine Frau wieder an zu Tanzen und zieht in Pirouetten davon – von ihm und was sie einmal verbunden hat. Sie verbringen ihre Ehe formal gemeinsam, doch jeder auf seiner Seite. Auf sich alleingestellt nimmt sich Herr Katō viel vor, für seine verbleibende Zeit – das Radio reparieren, die Plattensammlung ordnen –, doch bleibt es bei den Vorsätzen. Der Rollkoffer, den er für eine Parisreise geschenkt bekommen hat, verstaubt im Haus. Herr Katō sieht immer mehr ein, dass er das meiste bereits hinter sich hat. Dass die goldenen Jahre und die Liebe zwischen ihm und seiner Frau mittlerweile nicht mehr sind als Erinnerungen. Und:
    "Dass es wohl die letzte Jacke war, die er kaufte, das letzte Hemd, die letzten Schuhe. Diese Sachen, dachte er, genügen. Mehr braucht er nicht."
    Und so kauzt Herr Katō immer mehr als sonderbarer Greis durch seinen Lebensabend und durch seinen Wohnort in Japan, den die Erzählstimme nur als "einen Vorort wie diesen" verortet. Die Gedanken an den Tod führen ihn an einen Friedhof, der an Eisenbahngleisen grenzt. Dieser Scheidepunkt zwischen letzter Stätte und pulsierender Lebens- und Weltader soll zum Invertierungsmoment seiner Biographie führen. Als ein Zug vorbei rattert, fängt Herr Katō an, wild zu tanzen, auf den ärztlichen Befunden herumzutrampeln und den Wagons hinterherzuschreien. Nicht nur, dass er sich in diesem Moment wieder vollkommen lebendig fühlt, er lernt dort auch eine junge Frau kennen, die ihm die Weichen für seinen weiteren Ruhestand stellt und für ein kommendes Doppelleben.
    Die junge Frau orakelt wie eine Murakami-Figur über Wahrheit und das Lügen, um die Realität zu berichtigen – und hat am Ende ein Jobangebot für Herrn Katō. Denn:
    "Sie sehen mir aus wie einer, der viel zu selten und viel zu wenig gebraucht wird."
    Sehnsüchte und Ansichtsexemplar-Ehrfahrungen
    Die junge Frau arbeitet für eine Agentur namens "Happy Family", die "Stand-Ins" vermietet, also Schauspieler, die Verwandte oder Freunde mimen. Auf Hochzeiten, Beerdigungen oder einfach nur zu Kaffee und Kuchen. Soziale Füllmasse sozusagen, die für ein paar Stunden etwas Präsenz zeigen soll, mit den Kunden angenehme Gespräche führt und Vertrautheit simuliert.
    "Erst heute war ich Enkelin. Bevor ich hierherkam, war ich bei einer Frau, die mich als ihre Enkelin gebucht hat. Sie sagte, sie wollte einfach mal wieder die glatte Haut eines jungen Menschen betrachten, und so saßen wir einander gegenüber und tranken Tee, ohne viel zu sprechen."
    Dies vor seiner Frau geheim haltend, bricht Herr Katō aus seiner Alltagstristesse aus und wird bald zum fürsorglichen Großvater, zum stummen, zuhörenden Ehemann und zum wohlwollenden Vorgesetzten seiner Kunden. Die Erfüllung fremder Wünsche wirkt sich jedoch auch auf sein eigenes Leben aus: Die Gefühle als "Stand-In" füllen seine eigenen Sehnsüchte und durch die Ansichtsexemplar-Erfahrungen holt Herr Katō an vielen Stellen sein eigenes Leben nach. Das geht alles ein wenig schnell in dem dünnen Buch, dass sich ansonsten viel Zeit lässt, um in die Tiefe der Charaktere zu gehen. Doch man verzeiht es ihm aufgrund seiner sonstigen Qualitäten.
    Österreichischer Duktus trifft auf Japanisches Setting
    Die österreichische Autorin japanischer Abstammung, Milena Michiko Flašar, hat mit "Herr Katō spielt Familie" ein wundervolles Buch über Erinnerungen und Lebensmodelle geschrieben. Feinfühlig erforscht sie darin den Graben zwischen ehemaligen Träumen und der ernüchternden Realität einer fortgeschrittenen Biographie. Dabei führt die Autorin, sprachlich gesetzt, manchmal humorvoll und meist elegant-präzise durch den dichten Text. Holprig wird es nur an den Stellen, wenn der österreichische Duktus auf das japanische Setting der Geschichte trifft.
    "Arme Mama! Sie kann dich ja kaum alleine lassen."
    "Na ja, so arg ist es auch wieder nicht."
    Arg ins Gewicht fallen hin und wieder auch leider abseh- und berechenbare Beobachtungen – sprachlich aufgebauscht, dennoch manchmal kurz vor der Plattitüde. Wenn Flašar beispielsweise einsame Rentner beschreibt:
    "Die nichts Besseres zu tun hatten, als jeden Monat einmal zum Arzt zu gehen, um dort mit Gleichgesinnten über ihre Wehwehchen zu sprechen und auf diese Art, wenigstens zeitweilig, der den Wehwehchen zugrunde liegenden Einsamkeit zu entfliehen."
    Der größte Kritikpunkt des dünnen Romans kreist jedoch um seine vielversprechende Prämisse: Ein sozial verwahrloster Rentner führt ein Doppelleben und findet Erfüllung in den Leben derer, die ihn brauchen. Auf der Kurzstrecke des nur 176 Seiten langen Buchs wirkt diese Prämisse leider fast verschenkt. Nicht nur, dass die Entwicklung Herrn Katōs zu schnell vonstatten geht. Milena Michiko Flašar hätte bei seinen Engagements auch etwas freier drehen und sie weiterspinnen können. Was hätte Herr Katō nicht alles sein, wofür hätte man ihn nicht alles engagieren können? Man hätte es gerne erfahren, hätte ihn gerne dabei begleitet. So geht Flašar zwar sehr liebevoll mit Herrn Katō um, aber auch zu zahm und zu vorsichtig mit der eigenen Logik ihres Romans. Sie bleibt am Rand der Spielwiese stehen, die sie eben noch gesät hat.
    Milena Michiko Flašar: "Herr Katō spielt Familie"
    Wagenbach Verlag, Berlin. 176 Seiten, 20 Euro.