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Militärparade in Moskau
Russlands "gekränkter Stolz"

Russland erinnert heute an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren mit einer Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau. Der Historiker Jochen Hellbeck meinte im DLF-Interview, aus dem russischen Gedenken an die gefallenen Soldaten sei eine Machtdemonstration geworden.

Jochen Hellbeck im Gespräch mit Christiane Kaess | 09.05.2015
    Ein Bild von der russischen Siegesparade 2010
    Ein Bild von der russischen Siegesparade 2010 (dpa / picture-alliance / Yuri Kochetkov)
    Die Parade sei nur im Kontext dessen zu verstehen, was derzeit in Osteuropa geschehe, sagte der Wissenschaftler von der Rutgers University im US-Bundesstaat New Jersey mit Blick vor allem auf den Ukraine-Konflikt. Man erlebe derzeit einen gekränkten Stolz in Russland, weil die Welt die russische Rolle in der Geschichte nicht mehr so sehe, wie sie einmal gewesen sei.
    Viele Staats- und Regierungschefs haben angesichts der Konfliktlage ihre Teilnahme an der heutigen Parade abgesagt. Darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die erst morgen zu einer Kranzniederlegung nach Russland reisen wird.
    Für Jochen Hellbeck sind die Absagen richtig. Trotzdem müsse man weiterhin nach Russland fahren, um diesen auch für Deutschland sehr, sehr wichtigen Tag des Kriegsendes zu würdigen, suchen fügte er hinzu. Hellbeck rief dazu auf, weiterhin das Gespräch mit Moskau zu suchen. Nur Dialog bringe einen wieder aus dieser gegenwärtigen Krise heraus.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Es war spät in der Nacht, als die Kapitulationserklärung der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg in Berlin unterzeichnet wurde. Vor Mitternacht begann die Zeremonie und endete nach Mitternacht, auch die Kapitulation gegenüber der Roten Armee. Nach Moskauer Ortszeit trat die erst am 9. Mai in Kraft. Und so sind es bis heute zwei Daten, der 8. und der 9. Mai, die das Kriegsende 1945 besiegeln, und entsprechend finden auch die Gedenkveranstaltungen statt. Heute kommt man in Russland zusammen zum Tag des Sieges, wie der 9. Mai dort offiziell genannt wird. Gefeiert wird mit einer gigantischen Militärparade. Die wird Präsident Wladimir Putin allerdings mit nur wenigen Staats- und Regierungschefs abnehmen wegen der Ukrainekrise.
    Und darüber sprechen möchte ich jetzt mit dem Osteuropahistoriker Jochen Hellbeck. Er beobachtet seit Jahren mit einem Team von Feldforschern, wie in Russland, Weißrussland, der Ukraine und im Baltikum des Kriegsendes in Europa gedacht wird. Er ist zurzeit in Kiew, und dort erreichen wir ihn. Guten Morgen, Herr Hellbeck!
    Jochen Hellbeck: Guten Morgen, Frau Kaess!
    Kaess: Diese gigantische Militärparade heute in Moskau - sagt das, dass aus dem Gedenken in Russland eine Machtdemonstration geworden ist?
    Hellbeck: Ganz bestimmt. Ich glaube, dass die Parade, von der wir gerade gehört haben, nur in dem größeren Kontext dessen, was sich in Europa, in Osteuropa abspielt, zu verstehen ist. Ich glaube, dass dieser Stolz zum Teil auch als ein gekränkter Stolz zu verstehen ist, dass der Rest der Welt die Sicht der Russen auf ihre eigene Geschichte nicht mehr so teilt, wie es früher war.
    Kaess: Wie konkret beeinflusst die Ukrainekrise diese Gedenkveranstaltung?
    Hellbeck: Bestimmt ist das ein ganz großer Faktor darin, dass also im Grunde das, was man in der Ukraine beobachtet, eine gewisse Nationalisierung des Gedenkens, der russischen Wahrnehmung widerspricht, dass das ein gesamtsowjetischer Sieg gewesen ist.
    "Stolz steht im Vordergrund"
    Kaess: Wie kann das sein, dass auf der anderen Seite diese enorme Zahl, 26 Millionen Tote in Russland im Zweiten Weltkrieg, dass die Bedeutung da so gesunken ist?
    Hellbeck: Können Sie die Frage wiederholen? Sie meinen die Bedeutung -
    Kaess: Die Bedeutung, der Toten zu gedenken. Dass das Gedenken tatsächlich so ein bisschen verloren gegangen ist.
    Hellbeck: Ich bin mir da so nicht sicher. Ich glaube, dass sicherlich im Vordergrund jetzt der Stolz steht, wie das Lewada-Institut auch festgestellt hat, dass aber andererseits das Gedenken immer noch sehr präsent ist. Ich war vor zwei Tagen noch in Moskau, und viele Menschen im persönlichen Gespräch haben mich dann sofort auf die verstorbenen Großväter gebracht - also auf den Großvater, der verschollen ist im Krieg, der Großvater, der aus dem Krieg versehrt zurückgekommen ist. Ich glaube, das Gedenken ist sehr präsent. Ich glaube, dass sich das aufgrund der politischen Zuspitzung in Europa jetzt im öffentlichen Raum verschoben hat, und dass deswegen die Russen in erster Linie auf die Errungenschaft hinweisen, die man ihnen anderswo abspricht. Und ich glaube, das hat viel mit den Bewegungen der letzten zwei Jahrzehnte zu tun, also dass man das nur aus der Auflösung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklären kann, dass also zu Sowjetzeiten ein geeintes sowjetisches Gedenken bestand, das also gleichermaßen Stolz, Befreiung, aber auch Trauer verknüpfte und für alle Sowjetrepubliken, im Grunde für ganz Osteuropa verbindlich war. Und dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dieses Gebäude aufgebrochen ist, in verschiedene Bestandteile zerbrochen ist und viele Russen Mühe haben, sich damit zufriedenzugeben und damit zurechtzufinden. Und ich glaube, dass man halt diese beiden unterschiedlichen Gedenkformen, jetzt in Kiew heute und gestern, und in Moskau heute nur im Dialog beziehungsweise in diesem größeren Bild verstehen kann.
    Kaess: Schauen wir noch mal ganz kurz zurück auf das Gedenken in Russland beziehungsweise davor in der Sowjetunion. Also Sie würden sagen, es gab eine Zeit dazwischen, zwischen Sowjetunion und heute, wo es durchaus auch einmal kritische Ansätze gab?
    Hellbeck: Auf jeden Fall. Es gab gerade zum Ende der Sowjetzeit - das war ja im Grunde die Essenz der Perestroika - eine kritische Reflexion über die eigene Geschichte, eine Besinnung im Grunde auf die unausgesprochene, nie eingestandene Vergangenheit. Und in den späten 80er-, frühen 90er-Jahren wurde im Grunde genommen der gesamte Sowjetkanon gegen den Strich gebürstet. Da wurde also auch der Krieg im Grunde nur als ein Opfergang gesehen, als ein beinahe sinnloser Opfergang. Und das hat dann aber schon in den 90er-Jahren, Mitte der 90er-Jahre eine gewisse Revision erfahren. Also schon vor Putin.
    Geschichte wird sehr stark für gegenwärtige politische Ziele eingespannt"
    Kaess: Und kann man sagen, warum? Es hat dann offenbar, wenn Sie sagen, vor Putin, nichts zu tun gehabt mit dem Amtsantritt von Wladimir Putin?
    Hellbeck: Genau. Ich glaube, dass Putin bestimmt diese Tendenzen dann noch verstärkt hat und im Grunde versucht hat, die sowjetische Geschichte einzubauen in eine größere Erzählung der großen russischen Geschichte und die positiven Seiten der sowjetischen Geschichte akzentuieren wollte, wobei er anfangs auch die kritischen Seiten zugelassen hat. Und diese kritischen Seiten oder negativen Seiten, die geraten jetzt zunehmend in den Hintergrund.
    Kaess: Das Gedenken in anderen osteuropäischen Staaten haben Sie schon kurz angesprochen. Würden Sie sagen, es gibt dort genauso eine gewisse Art von Instrumentalisierung, weil dort der Vernichtungskrieg gegen die sowjetische Bevölkerung mehr oder weniger ausgeklammert wird?
    Hellbeck: Ganz genau. Ganz genau. Wir sehen also, wie diese beiden Tendenzen direkt miteinander im Zusammenhang stehen, also wie da im Grunde die Beharrung auf dem Sieg in Russland heute mit einer ziemlichen Ausschließlichkeit, also die im Grunde die dunkleren Seiten des Krieges, den Hitler-Stalin-Pakt und andere Aspekte ganz auslässt oder in den Hintergrund treten lässt, wie das korreliert in Kiew damit, dass die Ukraine, wie ich gestern also direkt von Präsident Poroschenko aus seiner Rede gehört habe, praktisch einen Opfergang geführt hat. Sie hat sich gegen, also für ihre Unabhängigkeit immer gekämpft in ihrer Geschichte, und im Grunde - sie hat natürlich auch mit zur Befreiung beigetragen damals, aber sie kämpft heute wie damals auch gegen Russland. Das ist recht paradox. Und auf beiden Seiten wird die Geschichte sehr stark für gegenwärtige politische Ziele eingespannt.
    Steinmeier in Wolgograd: "Sehr wichtige Geste"
    Kaess: Dann schauen wir zum Schluss auch noch mal ein bisschen konkreter auf die aktuelle Politik. Finden Sie es richtig, dass Staats- und Regierungschefs der Militärparade heute in Moskau fernbleiben und Angela Merkel das Ganze jetzt so umschifft, dass sie morgen nach Russland fliegt zur Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten?
    Hellbeck: Ja, das sind jetzt zwei Fragen. Ich finde es richtig, dass man angesichts der gegenwärtigen Situation nicht nach Moskau geht. Das wäre ein falsches Signal, jetzt dieser großen Parade beizuwohnen, das würde überall wahrscheinlich falsch gedeutet. Allerdings halte ich es für ebenso richtig und wichtig, doch nach Moskau zu fahren beziehungsweise wie Außenminister Steinmeier das gemacht hat, nach Wolgograd zu fahren und diesen sehr, sehr wichtigen Tag, gerade auch für Deutsche sehr wichtigen Tag, Deutsche und Russen wichtigen Tag zu würdigen. Und insofern hoffe ich sehr, dass der Dialog mit Russland angesichts dieser Krise nicht abbricht. Ich glaube, dass nur Dialog mit allen beteiligten Parteien uns aus dieser Krise wieder herausführt.
    Kaess: Und haben Sie den Eindruck, dass das in Moskau auch so ankommt, diese Botschaft aus Berlin, dass man die Rolle der Russen bei der Befreiung Deutschlands ja nicht ignorieren will. Glauben Sie, das kommt an?
    Hellbeck: Das hoffe ich sehr. Ich glaube schon, dass das ankommt. Ich glaube, dass das sehr deutlich wahrgenommen wird, gerade eben, dass der Außenminister vorgestern schon in Wolgograd gewesen ist und die Kanzlerin morgen nach Moskau fährt. Das wird dort sehr deutlich wahrgenommen. Im Moskauer Radio und in den Medien wird im Grunde fast jeder Ausländer einzeln aufgezählt, der nach Moskau kommt. Insofern ist das eine sehr wichtige Geste.
    Kaess: Sagt der Osteuropahistoriker Jochen Hellbeck. Wir haben ihn heute Morgen in Kiew erreicht. Danke für dieses Gespräch!
    Hellbeck: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.