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Miljenko Jergovic: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie"
Tod als Leitmotiv

In seinem Roman entblößt Miljenko Jergovic zerstörte Seelenlandschaften in beachtlicher Radikalität - die seiner eigenen Familie. Die Beziehung zu Mutter Javorka ist schwierig. In Handytelefonaten zeichnet er auf, was sie auf dem Sterbebett übermittelt.

Von Martin Sander | 25.06.2017
    Miljenko Jergovic: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie"
    Miljenko Jergovic: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie" (Schöffling und Co.)
    Miljenko Jergović schätzt man vielerorts hoch. Nur in Kroatien, wo er zuhause ist oder sein sollte, spaltet sich sein Publikum in begeisterte Anhänger und erbitterte Gegner. Die Gegner sehen in ihm einen Fremden, der die kroatische Nationalseele befleckt. Jergović kam 1966 als bosnischer Kroate in Sarajevo zur Welt. 1993, im Bosnien-Krieg, flüchtete er in einem Transportflugzeug der US-Armee aus seiner belagerten Heimatstadt und hat seinen Lebensmittelpunkt seither in Zagreb.
    Seit vielen Jahren schreibt er seine Kolumnen für die führende kroatische Tageszeitung "Jutarnji list". Ansonsten widmet er sich Romanen und Erzählungen über das Leben im ehemaligen Jugoslawien und seinen Nachfolgerstaaten. Oft sind diese Werke autobiografisch grundiert. Egal ob Kolumne oder Buch – Jergović lehnt sich beharrlich gegen die postjugoslawische Kleinstaaterei im Allgemeinen und den Nationalismus in Kroatien im Besonderen auf.
    Das kommt bei den Nationalkroaten in Politik, Kirche und Gesellschaft schlecht an – verständlich. Dass nun aber auch ein sozialdemokratischer Kulturminister durchdreht, wenn er Jergović erblickt, noch dazu einer, der ob seines intellektuellen Feinsinns den Spitznamen "Malraux" trägt, mag verblüffen.
    "Im Schatten der Linde stand ein Wirtshaustisch, an dem saßen Regisseure, Produzenten und freischaffende Intellektuelle mit Minister Malraux beisammen.
    Ich kannte die Leute persönlich, natürlich auch den Minister, und wollte sie begrüßen. Hau ab, du bosnisches Stück Scheiße, geh dahin zurück, woher du gekommen bist, sonst übernehmen wir das!, schrie Malraux."
    Will heißen: Ein kroatischer Kulturminister, der sich als Vertreter eines modernen Europa versteht und auf die Rechte der Zivilgesellschaft pocht, will sich vom international wohl bekanntesten kroatischen Gegenwartsautor, der irgendwann seinen Politikstil bemäkelt, nichts sagen lassen, weil der aus Bosnien kommt und dem Kulturminister deshalb als Hinterwäldler gilt.
    Miljenko Jergović schildert die Szene im Vorspann seines 1143 Seiten umfassenden Romans, der zwischen Dokument und Fiktion schwankt und unter dem Titel "Die ungeheure Geschichte meiner Familie" jetzt auf Deutsch vorliegt. Kein Zufall: Die Malraux-Anekdote offenbart ein politisches Mentalitätsproblem. Provinzielle Überheblichkeit und vulgäre Machtgier prägen die nationalen Eliten in Kroatien und seinen Nachbarländern. Die Erinnerung an die ethnische Vielfalt und die wechselseitigen Beziehungen in der Region gilt als Störfaktor.
    Einwanderer mit Eisenbahn im Hintergrund
    Jergović legt diese verschüttete Vielfalt frei, in dem er die Geschichte seiner Familie mütterlicherseits erzählt. Mal schwebt er dabei allwissend über dem Geschehen, mal gibt er sich als nüchterner Reporter, die Formen sind vielfältig, enthalten scharfe Kontraste, brechen oft fragmentarisch ab. Aus immer neuen Erzählpositionen und manchmal abenteuerlichen Nebenwegen kommt er dann wieder auf den Kern zurück.
    Das Trauma einer Familie vor dem Hintergrund der großen Politik. Diese Familiengeschichte ist – wie so viele in Europa – eine Geschichte von Einwanderern. Jergovićs Urgroßvater Karlo Stubler, ein Donauschwabe aus dem damals ungarischen, heute rumänischen Bosowitsch, geht als k. u. k. Eisenbahner Ende des 19. Jahrhunderts westwärts über diverse Stationen nach Bosnien und nach Dubrovnik – damals Österreich, heute Kroatien.
    Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns bleibt Stubler in Dubrovnik und dient von nun an dem neuen jugoslawischen Königreich. Weil er einen Streik der Eisenbahner unterstützt, noch dazu als Deutscher, wird er gefeuert. Daraufhin siedelt er mit Frau, Sohn und zwei von drei Töchtern aus der reichen Hafenstadt an der Adria mit seiner Familie nach Sarajevo um. Nur eine Tochter bleibt in Dubrovnik. Karlo ist von nun an Eisenbahner ohne feste Stellung und hält sich eine Zeitlang nur mit Hilfsgeldern von Gewerkschaftskollegen über Wasser.
    "Karlo war ein nationalbewusster Deutscher, der bis zu seinem Tod mit seinen vier Kindern ausschließlich Deutsch redete. Niemals richtete er ein kroatisches Wort an sie. Mit den Schwiegersöhnen, die alle drei perfekt Deutsch konnten, sprach er Kroatisch, mit den Enkeln Kroatisch oder Deutsch, aber sie mussten ihn zunächst auf Deutsch anreden. Begrüßten sie ihn auf Kroatisch, stellte sich Opapa taub.
    Urgroßvater Karlo legte überaus großen Wert auf sein Deutschtum und sein Auserwähltsein als Deutscher, dem mussten sich alle fügen. Aber keiner, er am wenigsten, verbot ihnen zu sein, was sie waren, untereinander konnten sie reden wie sie wollten."
    Schicksalsjahr 1941: Deutschland zertrümmert Jugoslawien
    1941 ist ein Schicksalsjahr für Karlo und seine Familie. Am 6. April greift Deutschland das Königreich Jugoslawien an, zertrümmert es in Einzelteile. Bosnien kommt zum "unabhängigen" Kroatien, in Wirklichkeit einem Vasallenstaat Hitlers und Mussolinis. Die Familie Stubler glaubt nicht an einen Sieg der Achsenmächte. Man will vor allem überleben. Den meisten Stublers gelingt das auch. Doch dann zerbricht der Krieg ihr deutsches Selbstbewusstsein.
    "Der Idiot wird den Krieg letztlich verlieren! Das werden wir zitieren, wenn alles vorbei ist und es Opapa und uns nicht mehr gibt, und werden dabei Idiot mit seinem deutschen Akzent aussprechen, was wir sonst niemals tun. Nach 1945 verkroch er sich wie die Schnecke in ihr Haus ins Schweigen. Warum? An manchen Tagen, ganze Wochen, jahrelang denke ich, er hat vor der neuen Zeit, dem jugoslawischen Staat und der Rechthaberei der Sieger kapituliert.
    Vielleicht wollte Karlo Stubler nur nicht riskieren, in die Niederlage und Verbrechen seiner Verwandten hineingezogen zu werden. Deutscher blieb er bis zum Schluss, aber nach 1945 teilte er sein Deutschtum nicht mehr mit uns. Rudolf Stubler, unser Onkel, besorgte den Totenschein für seinen Vater, musste die Nationalität des Verstorbenen eintragen und bekam es mit der Angst zu tun. Kroate, schrieb er."
    Karlo Stubler bleibt bis zu seinem Tod 1951 in Sarajevo. Titos Kommunisten haben ihn nicht vertrieben – wie so viele andere Deutsche. Denn Karlo hat als Deutscher im Krieg seine serbischen Nachbarn in Sarajevo vor den Ustascha-Faschisten geschützt, und diese setzen sich nun für ihn ein. Das kommt auch seinen Kindern zugute.
    Waffen-SS statt Titopartisanen
    Zugleich zerstört Unglück und Schmach die Familie. Mladen, ein Enkel Karlos und Onkel von Jergović war als junger Mann zur Waffen-SS gegangen. Er fiel bei seinem ersten Kampfeinsatz, erschossen durch Titos Partisanen im Osten Kroatiens. Für den Erzähler liegt hier ein alles entscheidender Wendepunkt.
    "Ich komme nicht davon los, ich kann meinen Onkel, dessen Grab auf einem Dorffriedhof irgendwo in Slawonien längst vom Gestrüpp überwuchert ist, nicht zwischen Millionen anderen Soldaten Hitlers ruhen lassen. Er ist Teil meiner Identität, der Gewissensbisse, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, der Implikationen, die sie für mein nationales Selbstverständnis haben. Denn ich bin nicht nur die und die Person, ich bin auch der und der Kroate."
    Mladens Tod wird zum Leitmotiv dieses Romans. Mladen ist der verhätschelte Erstgeborene von Olga und Franjo, den Großeltern Jergovićs, und der viel ältere Bruder seiner Mutter Javorka. Javorka hat Mladen nicht mehr erlebt. Mladen fühlt sich im Krieg zu Titos Partisanenarmee hingezogen. Doch Olga, seine strenge Mutter, glaubt, ihr Lieblingssohn habe bei den gründlichen, gut organisierten Deutschen bessere Überlebenschancen.
    Franjo, Olgas deutsch und slowenisch sozialisierter Ehemann, zweifelt daran – beugt sich aber seiner Frau. Statt zu überleben, findet Mladen den Tod. Das ist es, was die Beziehungen innerhalb der Familie für Generationen vergiftet. An den seelischen Folgen hat auch Jergović noch zu leiden. Als Kind geschiedener Eltern wächst er in den 60er und 70er Jahren bei seinen Großeltern Olga und Franjo auf.
    "Alles, was vom Herbst 1943 bis zum Frühjahr 1986 geschah, von Mladens Todestag bis zum Todestag seiner Mutter, meiner Großmutter, war von diesem schlechten Gewissen bestimmt, und ihre Schuld ist für mich weit tiefer und schrecklicher als jede andere kroatische oder persönliche Schuld. Nicht sie hat Mladen getötet, aber der unsterblichen Überzeugung ihres Herzens zufolge, die sich von Generation zu Generation überträgt, etwas getan, was Mord gleichkommt, vielleicht schlimmer ist: Sie hat sich in sein Leben eingemischt und ihn zu seinen Mördern geschickt. Mladen hätte überlebt, hätte sie seinen Willen respektiert."
    In der Wohnung der Großeltern Olga und Franjo verschwinden alle Andenken an Mladen. Die Erinnerung ramponiert nicht nur die Ehe von Olga und Franjo Tag für Tag. Sie stürzt auch die jüngste Tochter Javorka, die Mutter des Erzählers Miljenko Jergović, ins Unglück. Javorka ist 1942, eine ganze Generation nach Mladen, zur Welt gekommen. Sie war von Beginn an ungewollt. Ihre Geburt verdankt sie dem rigiden Abtreibungsverbots der in Sarajevo herrschenden kroatischen Faschisten. Olgas schlechtes Gewissen wegen des Tods ihres Sohnes Mladen äußert sich in Aggression gegen ihre Tochter Javorka.
    "Unbewusst, wie eine Wölfin, verknüpfte Olga die Geburt der Tochter mit dem Tod des ältesten Welpen. Sie hat ihr nie verziehen. Sie konnte dem Mädchen nicht verzeihen, dass es zur Welt kam, sonst wäre sie verrückt geworden, sonst hätte sie ihr schlechtes Gewissen wegen Mladens Tod in Tausend Stücke gerissen."
    Ein Magnet für alles Unglück: Die Mutter des Erzählers
    Javorka will ganz in Titos neuem Jugoslawien aufgehen, wo es für Deutsche keinen Platz mehr gibt. Die meisten wurden bei Kriegsende vertrieben, viele getötet. Javorka tritt in die kommunistische Partei ein, verbringt Freizeit auf Arbeitscamps für den Bau neuer Autostraßen. Auf der Arbeit im Büro ist sie ein Vorbild an Zuverlässigkeit. Ihr Privatleben aber gerät zum Desaster, zwei gescheitere Ehen und ein Kind, das ihr zum Ballast wird.
    "Sie war überzeugt, nie eine Chance gehabt zu haben. Ihr Leben erinnerte an die Frustration des Spielers auf der Bank, der nie eingewechselt wird. Der nicht mal versuchshalber ein Tor schießen darf. Damit hat sie sich getröstet und versank im Selbstmitleid wie in einer Badewanne voll Schokoladenpudding. Ich mache mich über sie lustig, ein haltloser Spott: Meine erbärmliche Rache.
    Sie vergeudete ihre Zeit, Monate und Jahre, das ganze Leben verschwendete sie an Kinkerlitzchen, an die Wiedergutmachung zurückliegender Dinge, die nicht gutzumachen waren. Sie lebte in der Vergangenheit, die mit der Zeit übermächtig wurde, sie auffraß, und wollte es nicht wahrhaben. Nach dem Krieg, zwei Ehen und der Geburt eines Kindes steckte sie fest. Die Füße gleichsam in bleiernem Schlamm. Wie ein Bleisoldat. Wie Blei. Reglos. Mutter wies jede Schuld von sich, weil ihr ihre Mutter die Schuld am Tod des Erstgeborenen anlastete."
    Die schwierige Beziehung zwischen der Mutter Javorka und ihrem schreibenden Sohn bildet einen weiteren zentralen Erzählstrang, unentbehrlich, um die Spannung bis zum Ende aufrechtzuerhalten und fundamental, weil ein Großteil dessen, was uns Jergović erzählt, von dieser Mutter übermittelt wird, in den Monaten vor ihrem Tod, 2012, auf dem Sterbebett. In Handytelefonaten des in Kroatien und anderswo beschäftigten Autors und der in Sarajevo darnieder liegenden Mutter Javorka entsteht der wertvolle, vom Versiegen bedrohte Erzählstoff aus der Familienerinnerung. Roaming-Gebühren erhöhen den Zeitdruck. Die Mutter lebt dabei auf, das Gewissen des Sohns ist mittelmäßig strapaziert. Jergović entblößt zerstörte Seelenlandschaften in beachtlicher Radikalität.
    "Es fällt mir nicht schwer, es zu sagen: Ich habe sie nicht geliebt. So wenig wie Vater. Aber Mutter habe ich ganz anders nicht geliebt. Ihn nicht lieben, ging nicht tief, wie wenn man um einen Vogel trauert, der von einem Auto überfahren wurde und jetzt tot auf dem Asphalt klebt. Sie nicht lieben ist fürchterlich und allumfassend, wie ein Magnet, der alles anzieht und ringsum Ödnis und Chaos schafft."
    Den letzten Besuch bei seiner Mutter vor ihrem Tod: Die Vorbereitung und das Warten auf diese Begegnung im heimatlichen, aber nach dem Bosnien-Krieg fremd gewordenen Sarajevo nutzt Jergović als großes Finale. Das Kapitel "Die Hunde von Sarajevo" ist fast ein Roman im Roman. Auf 250 Seiten schildert quälend genau die Alltagsverfassung Sarajevos heute, zwei Jahrzehnte nach dem Bosnienkrieg. Es geht um Armut, Engstirnigkeit, um den Verlust der historischen Vielfalt, um den Verlust der einst geschätzten Menschen, die es dort nicht mehr gibt. Es geht um Entfremdung.
    Dagegen lässt Jergović die Sarajevoer Schicksale von Politikern, Militärs, Architekten und Dichtern der habsburgischen Zeit, sogar davor und auch danach, Revue passieren. Diese Exkurse, mal historisch verbürgt, oft frei erfunden, schieben den endgültigen Abschied von der Mutter immer wieder auf. Sie betten die Familienchronik in die wechselvolle Geschichte der Region.
    Die Empörung des Deutschen über die Deutschen
    Jergović erzählt die Geschichte Jugoslawiens völlig neu, in dem er die historischen Verbindungen freilegt, die in Jahrzehnte lang verdrängt wurden. Der Roman ist auch ein Abgesang auf die Rolle der Deutschen in dieser und anderen Regionen des östlichen und südöstlichen Europa. Jergovićs deutsche Protagonisten leben im scharfen Widerspruch zur Idee ethnischer Reinheit.
    Nach der Zäsur von 1945 kommen sie, diese mehr und mehr ehemaligen Deutschen, nicht mehr mit den neuen Deutschen in Deutschland zusammen. Die Gemeinsamkeit ist zerbrochen. Bezeichnend dafür ist die Reise von Rudolf Stubler, dem Großonkel des Erzählers und Sohn des gerade in Sarajevo verstorbenen Großvaters Karlo, ins geteilte Berlin. Der jugoslawische Deutsche Stubler landet 1954 in eine fremde Welt, die ihn empört und ihm den Boden unter den Füßen wegzieht.
    "Mit den Deutschen in Berlin hatte er nichts gemein, er spiegelte sich nicht in ihren Pupillen, der nackte Zorn packte ihn, weil sie nur ihr eigenes Unglück sahen, er hätte sie am liebsten durchgeschüttelt und ihnen ins Gesicht geschleudert, was die Deutschen ihm und seiner Familie angetan hatten, dass sie Mladen in ihre Uniform gesteckt, mit Runen der SS geschmückt und in den Kampf gegen die Partisanen geschickt hatten und er gefallen war, als er von einer Deckung in die nächste rannte.
    Am liebsten hätte Rudi den erstbesten Berliner angebrüllt, der ihm mit diesem selbstmitleidigen, anklagenden Blick in die Hände fiel, aber der hätte natürlich nichts begriffen(). Ach diese Donauschwaben, die haben uns das Ganze mit ihrem krankhaften Wunsch eingebrockt, samt ihren rumänischen und bulgarischen Käffern zum Deutschen Reich zu gehören (…)."
    "Die unerhörte Geschichte meiner Familie" ist ein gewaltiger Roman, ausgreifend und herausfordernd nicht nur im Thema, sondern auch in den ständig wechselnden Stilformen, in der Verschränkung von Dokumentation, Fiktion und Reflexion. Eine Herausforderung auch für die Übertragung ins Deutsche und das Lektorat.
    Deutsche Übersetzung: Frei und flüchtig
    Mit der Übersetzerin Brigitte Döbert hat der Schöffling-Verlag eine deutschsprachige Version des Textes vorlegt, dem man die Übersetzung kaum anmerkt. So etwas gilt allgemein als Vorzug. In diesem Fall verwandelt sich der eigene, kantige, mitunter sperrige Ton des Originals indes in einen glatt daher laufenden Duktus, was die Aufmerksamkeit gefährdet. Manchmal ist die Sprache der Übersetzung hingegen dort markiert, wo das Original keinen Anlass bietet. Wenn der Dirigent Arturo Toscanini bei Jergović wie ein Metronom hin und her schwingt, macht er bei Döbert am Pult "Winkewinke". Wenn Jergović gelassen vermerkt "So war es auch", vernimmt man auf Deutsch ein schrilles "Bingo". Auslassungen und Flüchtigkeiten finden sich zuhauf. Meist kann man darüber hinweglesen. Hier und da stiftet es beträchtliche Verwirrung, so wenn die Übersetzung von der königlich und kaiserlichen, also der habsburgischen Obrigkeit spricht, der Autor aber das Königreich Jugoslawien im Visier hat.
    Eine Überarbeitung der vorliegenden Ausgabe wäre nicht nur vorteilhaft für das deutsche Publikum, sondern auch fair gegenüber dem Autor. Wer das Original nicht kennt, könnte ihm die Ungereimtheiten anlasten.
    Zu Unrecht, denn Miljenko Jergović hat mit "Die unerhörte Geschichte meiner Familie" ein ganz und gar detailgenaues und spannendes Opus Magnum vorgelegt, mit dem uns Europa in einem neuen Licht erscheint.
    Miljenko Jergović: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie"
    Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert, Schöffling, 1144 Seiten, 34 Euro