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Millionen Jobs in Gefahr
Chinas Abhängigkeit von schmutziger Kohle

Kein Land der Welt stößt mehr CO2 aus als China – das soll sich schnellstmöglich ändern. Die dreckige Kohle soll weitgehend durch erneuerbare Energien ersetzt werden, so will es die Führung in Peking. Die Trendwende könnte gelingen. Der Strukturwandel stellt das Riesenreich allerdings vor große Herausforderungen.

Von Steffen Wurzel | 03.11.2017
    Kumpel in der nordchinesischen Stadt Yangquan: Hier dreht sich noch immer alles um die Kohle.
    Kumpel in der nordchinesischen Stadt Yangquan: Hier dreht sich noch immer alles um die Kohle. (Deutschlandradio / Steffen Wurzel)
    Eines der größten Solarkraftwerke Chinas liegt in der Provinz Anhui, in der Nähe der Stadt Huainan. Wer es sich anschauen möchte, braucht ein Boot. Denn die insgesamt rund 160.000 Solarmodule stehen nicht auf einem Feld oder einem Fabrik-Dach: Sie bedecken einen riesigen See. Die Photovoltaik-Module sind auf grauen Plastiktonnen montiert und schwimmen rund einen halben Meter oberhalb der Wasseroberfläche.
    Das klapprige Boot wird von einem Uralt-Dieselmotor angetrieben. Projekt-Planer Jiang Fan fährt damit über den See, zwischen den Solarzellen hindurch. Eine tpyisch chinesische Szene: Uralt-Technik und High-Tech direkt nebeneinander.
    "Früher wurde hier Kohle abgebaut, danach ist in der Abbau-Mulde ein riesiger See entstanden. Der See ist bis zu sechs Meter tief. Wir haben uns für eine schwimmende Lösung entschieden, weil auf dem Boden fixierte Solar-Module nur in flacherem Wasser funktionieren."
    Schwimmendes Kraftwerk mit zahlreichen Vorteilen
    Geplant und gebaut hat das schwimmende Kraftwerk das chinesische Unternehmen JA Solar mit Sitz in Peking. Der Deutsche Henning Schulze ist verantwortlich für das Europa-Geschäft der Firma:
    "Das Spannende ist erstens, dass keine große Flächenversiegelung stattfindet. versiegelt werden. Zweitens wird auch die Verdunstung von Wasser in Seen und Reservoirs deutlich gemindert."
    Ein auf Wasser schwimmendes Solarkraftwerk hat nicht nur den Vorteil, dass es im Gegensatz zu einer Anlage an Land keine kostbare Fläche verbraucht. Das schwimmende Solarkraftwerk kann auch mehr Strom erzeugen. Denn erstens steigt durch die Wasser-Kühlung von unten der Wirkungsgrad der Module. Und zweitens:
    "Auf dem Wasser ist es weniger staubig als an Land. Auf den Solar-Panelen im Wasser lagert sich so gut wie kein Staub oder Schmutz ab, dadurch arbeiten die Panele effizienter. Sie erzeugen mehr Strom als die an Land."
    Nachteile gibt es aber auch: So kosten Bau und Betrieb deutlich mehr als der einer vergleichbaren Anlage an Land. Module und Kabel müssen wegen der stärkeren Korrosion mehr aushalten. Und täglich müssen bis zu zwölf Arbeiter raus auf den See fahren, um die Solarmodule von Algen zu befreien.
    "Wenn wir diese Algen nicht beseitigen, können sie große Schäden anrichten. In jeder Lücke, die sich auftut, fangen die Algen an zu sprießen. Das bedroht den Zustand unserer Anlage. Deswegen beseitigen wir die Algen, sobald wir welche entdecken."
    Energiewende auch in China
    Mit einer Leistung von rund 40 Megawatt ist das schwimmende Photovoltaik-Kraftwerk das größte dieser Art der Welt. Es kann bis zu 15.000 Haushalte mit klima-neutralem Strom versorgen. Für Henning Schulze von JA Solar ist die Anlage mehr als nur ein Vorzeigeprojekt:
    "Ich denke ganz einfach, dass China mit seinem Hunger nach Elektrizität prädestiniert dafür ist, dass viele Projekte einfach automatisch die größten der Welt werden. Insofern würde ich sagen, dass dieses Projekt nicht einfach nur in die Landschaft gesetzt wurde, nur um zu sagen: Das ist das größte dieser Art der Welt. Sondern es ist natürlich auch ein echter Bedarf nach Strom da."
    In ganz China wächst weiterhin der Bedarf nach Strom. Wenn auch längst nicht mehr so stark, wie noch vor zehn oder fünfzehn Jahren, als die chinesische Wirtschaft noch mit zweistelligen Wachstumsraten zulegte. Diese Zeiten sind vorbei. Fürs Klima ist Chinas langsameres Wachstum eine gute Nachricht. Und seit einigen Jahren geht die Staatsführung in Peking in die Offensive. Mittel- und langfristig will sie so viele Kohlekraftwerke wie möglich abschalten, zu Gunsten von klima- und luftschonenden Solar-, Wind-, Wasser und Atomkraftwerken. Diese Energiewende ist eine der großen wirtschaftspolitischen Projekte des Landes. Noch vor sieben, acht Jahren galt China noch als ausgesprochener Klimasünder. Li Shuo, Klimaschutzexperte beim Umweltlobbyverband Greenpeace in Peking.
    "China war einer der Bösewichte, die 2009 zum Scheitern des Weltklimagipfels von Kopenhagen beigetragen haben. Seit drei, vier Jahren sehen wir aber Fortschritte. Chinas Führung arbeitet mit den Europäern beim Klimaschutz zusammen und auch mit der US-Regierung unter Obama hat sie das Pariser Klimaschutzabkommen vorangetrieben."
    Mitte Oktober in Peking zum Auftakt des 19. Parteitags der Chinesischen Kommunisten. Staats- und Parteichef Xi Jinping hält eine fast dreieinhalbstündige Grundsatzrede über die strategischen Ziele seiner Regierung.
    China werde sich aktiv in den weltweiten Umweltschutz einbringen und die in Sachen Klimaschutz gegebenen Versprechen einhalten, so Xi.
    "Wir bauen eine grüne und kohlenstoffarme Wirtschaft auf. Wir werden energiesparende und umweltfreundliche Industrien fördern. Wir treiben die Energiewende voran, hin zu sauberen und hoch effizienten Energiequellen."
    "Was der Präsident gesagt hat: China macht nicht nur mit beim internationalen Umwelt- und Klimaschutz, sondern ergreift auch eine Führungsrolle. Das ist bemerkenswert! Denn China hat das Wort 'Führungsrolle' selbst bisher immer vermieden, wenn es um Umweltschutz angeht. Es ist sehr interessant, dass Chinas Führung diesen Begriff nun immer selbstverständlicher benutzt."
    Beim am kommenden Montag in Bonn beginnenden Weltklimagipfel spielt Chinas Rolle im Kampf gegen die menschlich erzeugte Erderwärmung eine entscheidende Rolle. Zahlen der Internationalen Energieagentur belegen die Führungsrolle Chinas beim Ausbau erneuerbarer Energieträger: Demnach entstehen 40 Prozent aller weltweit neuen Öko-Strom-Kraftwerke zur Zeit in China, gemessen an der Leistung der Anlagen. Blickt man nur auf die Photovoltaik liegt das Land sogar noch weiter vorne: Jede zweite Solarzelle auf diesem Planeten wird inzwischen in China verbaut.
    Doch so ungetrübt, wie es sich nach diesen Statistiken anhört, ist die Situation nicht. Immer noch ist das bevölkerungsreichste Land der Welt abhängig von Kohle.
    Rund die Hälfte der weltweit verbrannten Kohle wird nach wie vor in China verfeuert. Und von diesem Kohle-Trip werden die Gesellschaft und die Wirtschaft des Landes so schnell nicht runterkommen. Vor allem im Norden und Westen des Riesenlands prägen Kohle und die von ihr abhängige Schwerindustrie ganze Landstriche.
    Am Stadtrand von Yangquan in der nordchinesischen Provinz Shanxi. Mit jeweils 30 Tonnen Kohle beladene Lastwagen donnern in Richtung Autobahn. Kurz vor der Mautstation machen viele Lkw-Fahrer noch eine kurze Pause. Der 30-Jährige Fahrer Zhang zum Beispiel.
    "Wir haben die Kohle im vier Stunden entfernten Lüliang geladen und sind nun auf dem Weg in die Provinz Shandong. Das sind rund eintausend Kilometer. Wir sind zu zweit und wechseln uns ab. Je nachdem, was auf den Straßen los ist und wie gut wir durchkommen, schaffen wir es in 24 Stunden. Heute sind wir wegen Staus schon hintendran. Aber gleich fahren wir auf die Autobahn und kommen hoffentlich morgen an."
    Shandong ist eine der hochindustrialisierten Provinzen an der ostchinesischen Küste. Den Strom dort produzieren vor allem riesige Kohlekraftwerke, die ununterbrochen Nachschub brauchen. Viel davon kommt aus den staatlichen Kohle-Minen der Provinz Shanxi. Chinas Wirtschaftskraft hängt an der Kohle und somit auch an Menschen wie Kohle-Truck-Fahrer Zhang.
    "Pro Monat verdiene ich rund 1.000 Euro. Damit ernähre ich meine Familie. Wer soll es sonst tun?"
    Rund 300.000 Einwohner hat der Stadtkern von Yangquan. Und auch wenn die Zentralregierung in Peking seit einigen Jahren auf den Ausbau der Erneuerbaren setzt: Hier dreht sich immer noch alles um die Kohle.
    Schätzungsweise 80 Prozent der Menschen in Yangquan leben direkt oder indirekt von der Kohleindustrie. Allein im Zentrum gibt es drei staatliche Minen mit jeweils tausenden Arbeitern und Angestellten. Die Minen heißen kommunistisch-bürokratisch schlicht "Nummer 1", "Nummer 2" und "Nummer 3".
    Vor einem der Werkstore von Mine "Nummer 3" steht Kohlekumpel Pan. In wenigen Minuten beginnt seine Nachmittagsschicht unter Tage. Wie lange er seinen Job in der Mine noch hat, weiß er nicht.
    "Bis vor einigen Jahren lief es noch gut. Aber jetzt wird unsere Mine wohl bald schließen, heißt es. Wir haben die Produktion in den vergangenen Jahren immer weiter zurückgefahren. Nächstes Jahr könnte ganz Schluss sein, heißt es. Die Betreiberfirma wird sich etwas ausdenken müssen für uns Arbeiter."
    Mine "Nummer 3" gilt in Yangquan als die am wenigsten effiziente. Sie ist zwar gut in Schuss – die Backstein-Gebäude und die Technik wirken gepflegt, die Sicherheitsvorkehrungen entsprechen aktuellen Standards – aber es ist deutlich spürbar, dass die Regierung das große Geld seit einigen Jahren lieber woanders investiert. In den Ökostrom-Sektor zum Beispiel. Anfang des Jahres kündigte die Führung in Peking an, bis 2020 rund 310 Milliarden Euro in die Erneuerbaren Energien zu investieren. Wie als Symbol dafür drehen sich auf den Hügeln außerhalb der Stadt Yangquan inzwischen mehrere top-moderne Windkraftwerke.
    Während Kohlekumpel Pan gerade in die Mine einfährt, endet für rund 40 seiner Kollegen die Frühschicht. In der Minen-Kantine sitzen sie an langen Tischen und schlürfen heiße Nudelsuppe. Klamotten, Helme, Gesichter und Hände sind noch komplett schwarz vom Kohlestaub.
    "Ich bin seit acht Jahren unter Tage. Verglichen mit den anderen ist das gar nicht mal so lang. Falls die Mine irgendwann mal schließt ... keine Ahnung."
    "Wir werden schon sehen. Wir arbeiten, wenn wir gebraucht werden. Und falls nicht ... dann eben nicht."
    Im Gespräch mit den Minenarbeitern in Yangquan wird deutlich, wie schwer es China in den nächsten Jahren mit dem schrittweisen Zurückfahren der Kohle-Produktion haben wird. Die Regierung kann die Zig-Millionen Menschen, die von Kohleabbau und Schwerindustrie leben, nicht einfach entlassen.
    "Natürlich mache ich mir Sorgen. Wir haben ja alle nichts anderes gelernt. Ich hoffe, dass die Mine zumindest offen bleibt, bis ich in Rente gehe, damit ich noch ein paar Jahre Arbeit habe. Jetzt bin ich 50. In fünf Jahren kann ich in den Ruhestand gehen."
    Umweltschützer haben ausgerechnet, dass der Kohleverbrauch Chinas bereits seit drei Jahren nicht mehr wächst, sondern zurückgeht. Der Ausstoß von CO2 hingegen nimmt weiter leicht zu, weil immer mehr Öl, Benzin, Diesel und Erdgas genutzt werden. Doch auch beim CO2-Ausstoß dürfte China die Trendwende zumindest deutlich eher als geplant schaffen.
    Beim Klimagipfel von Paris hatte sich die chinesische Regierung verpflichtet, den Höhepunkt des CO2-Ausstoßes, den so genannten "Peak CO2", im Jahr 2030 zu erreichen. Ab dann werde der CO2-Ausstoß zurückgehen. Li Shuo von Greenpeace rechnet damit, dass China dieses Ziel aber schon 2020 oder sogar noch eher erreichen wird.
    Chinas ambitionierte Klima- und Energiepolitik hat Konsequenzen. Viele Kohleminen werden dicht machen, sagt Ma Jun. Der Pekinger Umweltschützer ist einer der anerkanntesten Klimaexperten Chinas.
    "Es ergibt keinen Sinn, weiteres Geld in diese dreckigen Betriebe zu stecken. Der bessere Weg ist, die betroffenen Arbeiter fortzubilden und ihnen bei der Suche nach neuen Jobs zu helfen. China ist wirtschaftlich so stark, dass es das abfedern kann."
    Zurück im Kohlerevier an einem Imbissstand in Yangquan. Lu Jisheng verkauft hier mit seiner Frau schmackhafte Nudelsuppen mit Gemüse, Ei und Knoblauch. Ein Teller kostet umgerechnet 80 Eurocent. Während seine Frau mit einer Nudelmaschine Teig in kochendes Wasser presst, dünstet Lu Jisheng auf einer zweiten Kochstelle das Gemüse. Zum Kochen benutzen die beiden Steinkohle, die direkt aus der Mine nebenan kommt. Auch wenn das eigentlich nicht mehr erlaubt ist.
    "Wir dürfen hier keine Kohle mehr verbrennen. Zuhause auch nicht. Das ist eine gewaltige Umstellung für uns! Früher habe ich eine Tonne Kohle für umgerechnet 13 Euro direkt bei der Mine gekauft. Damit konnte ich einen ganzen Winter durchheizen. Jetzt, mit meiner neuen Gasheizung zuhause, reichen 13 Euro nicht einmal mehr für einen Monat. Okay, die Luft ist jetzt sauberer – aber zu welchem Preis?!"
    Ein ganzer Haufen pechschwarzer Steinkohle liegt rund 30 Zentimeter hoch aufgeschichtet auf der Straße direkt vor dem Imbissstand. In den beiden Öfen leuchtet die Glut. Es qualmt gewaltig.
    "Wir normalen Leute benutzen einfach lieber Kohle. Damit lässt sich viel besser kochen und heizen. Und Kohle ist auch billiger. Diese neumodischen Energieträger sind erstens zu teuer für uns und zweitens ungewohnt."
    Der 57-jährige Lu Jisheng hat früher selbst unter Tage Kohle abgebaut, heute bessert er seine Rente mit dem Nudelladen auf. Angesprochen auf Chinas Rolle als vermeintlicher Retter des Weltklimas und neue Solar- und Windkraftwerke schüttelt er nur mit dem Kopf.
    "Ich sehe die neuen Technologien als Bedrohung. Sie machen Menschen arbeitslos! In unserer Mine hier werden seit Jahren keine neuen Leute angestellt. Mein Sohn ist 20. Er hat sich nach der Berufsschule bei der Mine beworben, hat aber keinen Job bekommen. Jetzt arbeitet er irgendwo als Wachmann. Noch vor drei Jahren haben alle jungen Leute, die wollten, einen Job in einer der Minen bekommen. Jetzt hängen viele zuhause rum und das ist natürlich keine gute Sache."
    Auf die Pekinger Staatsführung und die zahlreichen Provinzregierungen wird in Sachen Strukturwandel also eine Menge Arbeit zukommen in den nächsten Jahren. Offene Debatten über das Für und Wider politischer Entscheidungen werden in China nicht geführt. Eine Zivilgesellschaft gibt es nicht. Die Menschen sind es gewohnt, dass die Politik Entscheidungen trifft, die sie dann umsetzen müssen. In den vergangenen Jahren hat das einigermaßen geräuschlos funktioniert, dank des enormen Wirtschaftswachstums, ständig steigender Löhne und besser werdender Lebensbedingungen. Der mit Chinas Energiewende verbundene Strukturwandel aber ist eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen der vergangenen Jahrzehnte. Greenpeace-Umweltschützer Li Shuo ist trotzdem vorsichtig optimistisch:
    "Mehr und mehr Menschen erkennen die enormen Konsequenzen, die mit der Nutzung fossiler Brennstoffe verbunden sind. Man erkennt sie am Klimawandel und auch an verschmutzten Gewässern und der dreckigen Luft in China. Die Menschen können heute also besser nachvollziehen als früher, dass die Wende hin zu sauberer Energie etwas Gutes ist."
    Immer noch gehen in China neue Kohlekraftwerke ans Netz. Statistisch gesehen bräuchte sie das Land gar nicht mehr. Denn die Stromproduktion der Erneuerbaren wächst inzwischen schneller als der Strombedarf. Grund sind unter anderem die riesigen Solar-Projekte wie das schwimmende Photovoltaik-Kraftwerk auf dem See in der Provinz Anhui. Projektleiter Jiang Fan:
    "Vor fünf Jahren noch lebten hier nur ein paar Bauern, die Fische gefangen und Enten gezüchtet haben. Aber hier scheint eben auch stark die Sonne und so haben wir diese allzu lang verlassene Gegend wiederbelebt."
    Was Chinas ambivalente Rolle als Klimaschützer angeht, sei das Glas eher halb voll als halb leer, so das Fazit Greenpeace-Experte Li Shuo. Die entscheidende Frage sei nun, wie das Land den Rest des Glases voll bekomme.
    "It’s half full rather than half empty. I think the question is how fast we can fill the other half of the glass."