Dienstag, 19. März 2024

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Min-Young Jeon über Fotografie
Bilderflut im kollektiven Unterbewusstsein

Wahrscheinlich wird heute so viel fotografiert wie nie zuvor - von den eigenen Füßen über Sonnenuntergänge bis zum letzten Mittagessen. Fotografie ersetze aber nicht die Erinnerung, sagt Kunsthistorikerin Min-Young Jeon im Dlf. Auch wenn wir das Gefühl hätten, sie sei authentischer als Malerei und Texte.

Min-Young Jeon im Gespräch mit Mascha Drost | 31.07.2018
    Ein junges Paar auf einem Fahrrad, die Frau steht hinten auf dem Gepäckträger und mach Selfies
    Selfies bieten die optimale Möglichkeit, sich zu inszenieren (imago stock&people/Westend61)
    Mascha Drost: Heute zu Gast ist die Kunsthistorikerin Min-Young Jeon, die sich schwerpunktmäßig mit der Fotografie beschäftigt. Und vielleicht hat kein anderes Medium der Erinnerung einen derartigen Dienst geleistet wie das Foto. Bilder, Darstellungen gibt es natürlich schon seit Jahrhunderten, gar Jahrtausenden, aber erst seit den ersten Fotografien, Mitte des 19. Jahrhunderts hat man das Gefühl, der Zeit und ihren Menschen nahe zu sein, kann man sich Gesichter und Orte immer wieder vergegenwärtigen – hat sich mit der Geschichte der Fotografie ein neues Gedächtnis der Menschheit herausgebildet?
    Min-Young Jeon: Ja, mit Sicherheit. Man kann natürlich bei dieser Frage direkt auf Roland Barthes rekurrieren, der in "Die helle Kammer" genau darüber spricht, über eine Art Zeugenschaft, die halt sichtbar wird, wenn man sich eine Porträtfotografie einer bekannten Person anschaut. Er spricht ja von einer Fotografie seiner Mutter, die auch nicht abgebildet ist in diesem Buch. Fotografie wurde ja oftmals – vor allen Dingen zu Beginn seiner Geschichte – als Lichtspur bezeichnet, also als Spur von etwas, was wirklich gewesen ist. Insofern hat man immer das Gefühl, dass Fotografie doch etwas Authentischeres ist und einen engeren Bezug zur Wirklichkeit hat als etwas Gemaltes zum Beispiel.
    Drost: Und inwiefern sind Bilder besser geeignet, Erinnerungen zu konservieren, sogar als Schriftliches oder Erzähltes?
    Jeon: Der Unterschied zwischen einem Bild oder einer Fotografie und etwas Schriftlichem ist vor allen Dingen das Phänomenologische einer Fotografie oder eines Bildes, dass man eine sinnliche Komponente mit drin hat, die man bei einem Text nicht hat, das heißt, eine Wahrnehmung, die über das Sehen oder auch über die Leiblichkeit funktioniert, über eine körperliche Wahrnehmung, und das kommt mit Sicherheit vor dem Verstand. Die Wahrnehmung setzt ja eigentlich vor dem Verstand ein, und insofern hat das natürlich eine andere Wirkung, wenn man sich ein Bild anschaut, als wenn man sich einen Text durchliest.
    "Visitenkartenformate von Porträtfotografien"
    Drost: Bleiben wir noch kurz beim Geschichtlichen: Welche Erinnerungen wollten denn die Menschen früher von sich hinterlassen? Also wenn man die Porträts anschaut, dann sieht man beispielsweise kaum jemanden lächeln.
    Jeon: Es waren ja häufig Carte de Visite, diese kleinen Visitenkartenformate von Porträtfotografien, die man mit sich in der Brusttasche getragen hat, und es lag mit Sicherheit an der Technik, dass man sehr lange Belichtungszeiten hatte, weshalb die Personen sich nicht bewegen durften. Deswegen sieht man häufig Fotografien aus der Frühzeit, auf denen die Personen eben nicht lächeln.
    Drost: Wie authentisch kann eine Fotografie eigentlich sein? Und auch noch mal die zweite Frage gleich hinterher: Wie authentisch sollte sie sein?
    Jeon: Es gibt natürlich verschiedene Kategorien von Fotografien. Da gibt es die dokumentarische und die journalistische Fotografie, dann gibt es aber auch die Kunstfotografie, und das behauptet man ja gerne so allgemein, dass die Kunst eigentlich alles darf. Und wie authentisch das ist, das wissen wir ja spätestens, seit es Propagandafotografien gibt oder wie sich auch eine Fotografie verändert durch einen Text, den man hinzufügt. Das hat man natürlich in der Presse, da kann ein Bild die eine oder die andere Bedeutung annehmen, sobald sich halt der Text auch verändert.
    Die Aura des Kunstwerks
    Drost: Aber so ein Bild kann natürlich auch trügerisch sein. Was nicht im Ausschnitt ist, ist nicht zu sehen, wird vergessen – ob das jetzt bewusst oder unbewusst passiert. Wie glaubwürdig sind dann Fotografien?
    Jeon: Also auch da würde ich gerne wieder auf die großen Kritiker zurückkommen. Benjamin sprach von der Aura des Kunstwerks, was seiner Meinung nach verschwunden ging durch die technische Reproduzierbarkeit, also dass man ein Kunstwerk wirklich vor Ort begegnen muss und in dem Moment es etwas auslöst in einem. Er sprach von einem Schock, einem Schockmoment, und Barthes spricht ja auch von etwas Ähnlichem, dass diese Fotografie seiner Mutter etwas bei ihm ausgelöst hat – also nicht nur die Fotografie seiner Mutter, sondern es im Bild etwas gibt, das etwas in einem hervorruft. Wenn es dieser Moment ist – das klingt jetzt natürlich sehr schwer greifbar –, aber wir alle kennen das, wenn wir ins Museum gehen, uns Bilder angucken, uns Skulpturen angucken. Es gibt etwas, was einen berührt. Ich glaube auch, dass Fotografien so was erzeugen können jenseits der klassischen Pressefotografie.
    Drost: Natürlich, es gibt ja diese ikonischen Bilder, nehmen wir den kleinen jüdischen Jungen mit den erhobenen Händen aus dem Warschauer Ghetto oder das Mädchen aus dem Vietnamkrieg oder der Kniefall Brandts. Was braucht ein Foto, dass man es nicht mehr vergisst?
    Jeon: Gute Frage. Die Sache ist, dass damals häufig davon ausgegangen wurde, dass Fotografien eine Emanation des Wirklichen sind, eine Spur in sich tragen von etwas, was gewesen ist. Heutzutage haben wir in der Wissenschaft ein anderes Verständnis von Fotografie, dass man es vielmehr als dispositiv versteht. Natürlich, wenn ein Fotograf etwas aufnimmt, egal ob er analog oder digital arbeitet, werden diese Bilder im Nachhinein immer auf eine Art bearbeitet, sei es, die Farben werden ein bisschen angepasst, der Ausschnitt wird noch mal korrigiert. Es gibt immer einen Eingriff des Fotografen oder des Künstlers in sein Werk. Das heißt aber nicht, dass es weniger wert ist von einer ästhetischen Betrachtung her oder wenn es um inhaltliche Fotografie geht. Wie in der Pressefotografie geht es schon darum, wie kriegt man die Aufmerksamkeit des Betrachters.
    Die Wirklichkeit wahrnehmen versus durch einen Apparat sehen
    Drost: Und natürlich meint man, in so einem Foto, das ja wirklich nur eine Millisekunde, einen ganz kurzen Ausschnitt eines Geschehens zeigt, trotzdem eine ganze Geschichte dahinter zu sehen. Ist das auch ein Zeichen von großer Fotografie?
    Jeon: Ich muss da noch mal anders herangehen, an diese Fragestellung, weil ich denke, die Sache ist, dass wir natürlich durch den Zugang zu Medien, zur Nachrichtenberichterstattung und auch durch verschiedene Social-Media-Instrumente wie Instagram, Pinterest und so weiter einer enormen Bilderflut unterliegen und dass wir eigentlich heutzutage, der moderne Mensch in der First World, von vielen Ereignissen, von Orten, Geschehnissen doch ein Bild haben, durch diese enorme Bilderflut, und dass diese Bilder in unser kollektiv Unterbewusstes eingegangen sind und unser kollektiv Unbewusstes, und dass man die Frage vielleicht so stellen kann, dass Bilder, die sich von diesem kollektiv Unbewussten abheben, von dem, was wir vielleicht schon kennen, was wir schon abgespeichert haben, dass die Bilder doch diejenigen sind, die uns faszinieren.
    Drost: Sie haben es gerade erwähnt, jeder trägt mittlerweile ein Smartphone mit sich, eine Kamera, und es wurde wahrscheinlich niemals in der Geschichte mehr fotografiert als heutzutage. Teilweise erlebt man ja die Dinge auch nicht, man fotografiert sie. Ersetzt sozusagen die Erinnerung auf dem Foto quasi das Erlebnis?
    Jeon: Ich würde sagen nein, das wäre schrecklich, weil man natürlich die Wirklichkeit immer durch ein Instrumentarium, durch einen Apparat sieht und das doch etwas anderes ist, etwas durch etwas zu sehen oder etwas direkt zu sehen und wahrzunehmen. Es speichert natürlich einen Moment, das stimmt, ob das gleichzusetzen ist mit Erinnerung, ist auch wieder eine Frage, würde ich sagen, und das kann sich auch jeder selber fragen. Ich meine, wir alle oder viele kennen oder eine bestimmte Generation kennt die Zeit, als es noch keine Mobiltelefone gab, wo man sich verabreden musste, wo man Dinge erlebt hat, und das, was abgespeichert ist in unserer Erinnerung, sind doch auch Momente, die halt jenseits dieser Apparate funktioniert haben. Ich würde nicht sagen, dass es das ersetzt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.