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Minderheiten unter Atatürk
Der Massenmord des türkischen Militärs an Aleviten

Armenier, Aramäer, Griechisch-Orthodoxe – viele ethnische und religiöse Minderheiten auf dem Gebiet der Türkei haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelitten. Auch die Aleviten der ostanatolischen Region Dersim. Bei einem Massaker, das in Deutschland kaum bekannt ist, haben türkische Soldaten Zehntausende Menschen getötet. Der Grund für die Militäroperation im Jahr 1938: Das Volk von Dersim lebte den alevitischen Glauben in seiner ursprünglichen, vorislamischen Form.

Von Kemal Hür | 21.05.2015
    Mahmut Yıldız ist 83 Jahre alt. Er lebt in Berlin-Kreuzberg. Wenn der grauhaarige Mann mit dem Gehstock ein Café betritt, stehen sofort mehrere jüngere Männer auf, begrüßen ihn mit einem Handkuss und bieten ihm einen Platz an. Der Handkuss ist ein Zeichen von Respekt vor älteren Menschen. Mahmut Yıldız' Hand küssen aber auch Aleviten aus religiöser Hochachtung. Denn Yıldız ist ein Pir, ein Geistlicher, der die alevitische Lehre von seinen Vorfahren gelernt hat und sie als Wegweiser den Angehörigen seines Stammes weitergibt. Mit fünf bis sechs Jahren überlebte Yıldız ein Massaker des türkischen Militärs, das die alevitische Stammesstruktur zerstören wollte.
    "Das Ziel war, aus den Menschen Muslime und Türken zu machen, ihre Lebensphilosophie zu zerstören. Das ist dieselbe Ideologie wie die des heutigen Islamischen Staates. Sie stellen dich vor zwei Alternativen: Entweder du wirst Muslim, oder sie schneiden dir die Kehle durch."
    Yıldız stammt aus der Region Dersim in Ostanatolien. Dort leben nur Aleviten. Sie sprechen die verwandten Sprachen Zaza und Kurdisch. Der alevitische Glaube ist älter als die drei großen Buchreligionen, sagen Geistliche wie Mahmut Yıldız. Als der Islam sich in Anatolien verbreitete, haben die Menschen in der Region Dersim an ihrem Glauben fest gehalten. Das Volk von Dersim ließ sich nicht islamisieren. Dabei spielte auch die starke religiöse und ethnische Stammesstruktur eine Rolle. Jede Familie in Dersim gehört einem Stamm an. Und jeder Stamm wird von einer geistlichen Familie religiös betreut. Die geistlichen Familien sind ebenbürtig. Eine Familie ist Wegweiserin der anderen. Es ist keine hierarchische, sondern eine kreisförmige Struktur. Dieses religiöse und soziale Gefüge passte in Zeiten des Nationalstaats nicht zur erklärten Ideologie, wonach der Staat eine homogene türkische Nation mit sunnitischer Prägung sein sollte.
    Dann zogen die Soldaten Bajonette auf
    Der Gründer der jungen türkischen Republik, Atatürk, sagte 1935 im Parlament, Dersim sei ein Geschwür und müsse ausgetrocknet werden. Nach einem eigens erlassenen Gesetz für die Provinz und einem Beschluss des Ministerrates marschierte das Militär Ende 1937 mit 50.000 Soldaten in Dersim ein und tötete zehntausende Menschen. Mahmut Yıldız entkam, weil er mit einem Teil seiner Familie auf der Alm war.
    "Mein Vater hatte ein Fernglas. Die Soldaten trieben die Menschen vor sich her. Frauen, Kinder, Männer marschierten bis zum Ufer eines Bachs. Sie wurden am Abhang aufgereiht. Und die Soldaten begannen, auf sie zu schießen. In das Geknatter der Waffen mischten sich die Schreie der Menschen. Diese Klagerufe vergesse ich nie. Als die Schüsse verstummten, schrien und weinten immer noch welche. Dann zogen die Soldaten Bajonette auf, stachen auf die Überlebenden ein und riefen dabei Allah, Allah."
    Über die Zahl der getöteten Menschen gibt es keine genauen Angaben. Die Schätzungen liegen zwischen 30.000 und 70.000. Nach dem Ende der massenhaften Tötungen folgten Zwangsumsiedlungen. Der Staat schickte tausende Familien in die westlichen türkischen Provinzen, um sie zu assimilieren. Die Mädchen wurden von ihren Familien losgerissen. Entweder wurden sie von Offizieren als Adoptivkinder mitgenommen, oder sie wurden auf Mädcheninternate geschickt. Sie sollten dort „zivilisiert" werden, wie es offiziell hieß. Das bedeutete, sie sollten türkisch und sunnitisch erzogen werden.
    "Bloß nicht erzählen, dass du Alevitin bist"
    Leyla Gündüzkanat ist in Dersim geboren und in Deutschland aufgewachsen. Die Mutter der 50-jährigen Sozialtherapeutin war eines der Mädchen, die in ein Internat geschickt wurden.
    "Sie war drei Jahre dort. Und dadurch hat sie einen Bruch erlitten. Dadurch wurde auch der Bezug meiner Mutter zu ihrer Herkunft sichtlich gebrochen. Also bereits bei meiner Mutter wurde die Assimilation so vollzogen, dass ich letztendlich jetzt meine Muttersprache nicht kann."
    Die Bevölkerung von Dersim bezeichnet dieses Massaker als den „zweiten Genozid". Der erste ist der Völkermord an den Armeniern. Bis 1915 lebten in Dersim auch Armenier. Sie wurden vor 100 Jahren von türkischen Soldaten ermordet. Über den zweiten Völkermord 23 Jahre später haben zwei Generationen geschwiegen, sagt Leyla Gündüzkanat.
    "Es gab durchgehend auch in Deutschland – das ist ja das Verrückte -, wenn ich meine Eltern bedenke, sie haben die Angst mitgenommen. Auch hier in Deutschland haben sie gesagt, psst, niemandem erzählen; du musst niemandem erzählen, dass du aus Dersim bist. Bloß nicht erzählen, dass du Alevitin bist."
    Leyla Gündüzkanat ist heute die Co-Vorsitzende der Föderation der Dersim-Gemeinden in Deutschland, FDG. In Deutschland leben zehntausende Nachkommen der Dersimer Genozid-Opfer. Die FDG begann vor sieben Jahren, Zeitzeugen zu interviewen. Inzwischen wurden die Lebensberichte von knapp 400 Menschen in Bild und Ton aufgezeichnet. Eine Aufarbeitung auf staatlicher Seite ist nicht erfolgt, auch wenn der heutige Staatspräsident Erdoğan vor einigen Jahren von einem Massaker sprach.
    Für die Aleviten von Dersim ist der Genozid immer noch ein Trauma. Aleviten wurden bereits im Osmanischen Reich verfolgt und massakriert. In den Augen des muslimischen Kalifats galten sie als Ungläubige. Nach der Gründung der türkischen Republik im Jahre 1923 konnten sie erstmals aufatmen, weil der Staatsgründer Atatürk Staat und Religion voneinander trennte und das Kalifat abschaffte. Deswegen schlugen sich die Aleviten auf seine Seite. Doch dann wurden sie Opfer der Staatsdoktrin „ein Staat, eine Sprache, eine Religion". Es hat Jahrzehnte gedauert, sagt der alevitische Geistliche Mahmut Yıldız, bis die Aleviten von Dersim sich wieder offen zu ihrem Glauben bekennen konnten.
    "Sie haben das Volk vernichtet, aber ihren Glauben nicht brechen können. Sie haben das Volk vernichtet, aber seine Sprache nicht auslöschen können. Sie haben das Volk vertrieben; auch das hat nicht funktioniert. Heute müssen die Aleviten sich organisieren und ihren Glauben unter den Schutz internationaler Gesetze stellen. Die Aleviten müssen ihre Religion in der Türkei frei ausüben dürfen."