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"Mindestlöhne sind weder eine Katastrophe noch ein Allheilmittel"

Ursula von der Leyen unterstreicht, dass die Lohnuntergrenze in Deutschland von den Tarifparteien festgelegt werden müsse. Die Politik habe die Aufgabe, einen neuen Rahmen zu schaffen, wenn das Tarifgitter "bröckelt", so die Bundesarbeitsministerin.

Ursula von der Leyen im Gespräch mit Jasper Barenberg | 31.10.2011
    Karl-Josef Laumann: "Eine Erwerbsarbeit hat auch eine Würde, und die Würde von Erwerbsarbeit wird auch durch die Bezahlung ausgedrückt. Und eine Arbeit, wo man nicht von leben kann, finde ich, hat auch keine Würde."

    Jasper Barenberg: Wenn Karl-Josef Laumann von etwas überzeugt ist, dann vertritt er es mit großer Beharrlichkeit. Jetzt sieht sich der CDU-Politiker fast am Ziel: Auf dem Parteitag in zwei Wochen will der Mann an der Spitze der organisierten Arbeitnehmer die Christdemokraten auf einen Mindestlohn für alle Arbeitnehmer einschwören und rechnet sich gute Chancen aus. - Am Telefon begrüße ich Ursula von der Leyen, nicht nur Bundesministerin für Arbeit und Soziales, sie ist auch die stellvertretende Parteivorsitzende der CDU. Einen schönen guten Morgen.

    Ursula von der Leyen: Guten Morgen.

    Barenberg: Die Frage ist nicht mehr, ob wir einen Mindestlohn haben werden, sondern wie man die richtige Höhe aushandelt. Mit diesem Satz werden Sie heute zitiert, Frau von der Leyen. Erleben wir eine späte Anpassung der CDU an die Wirklichkeit?

    von der Leyen: Wir erleben eine logische Weiterentwicklung innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft, denn die Frage ist in der Tat nicht, ob man eine Lohnuntergrenze braucht, sondern wie sie ausgestaltet ist, wie sie gefunden wird. Und wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland ausgesprochen robust sich entwickelt hat. Wir sehen aber auch, dass die Lohnspreizung in Deutschland zunimmt. Das heißt, oben nehmen die Löhne zu und die unteren Lohngruppen, die stagnieren, zum Teil sind die Realeinkommen gesunken. Und wir sehen auch, dass die Tarifbindung, also an die Gewerkschaften und an die Arbeitgeberverbände, abnimmt, und das sind die starken Vertreter ihrer Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite, die dann nicht mehr überall in Deutschland dann auch für gerechte Löhne sorgen können. Und wenn jemand Vollzeit arbeitet und am Ende des Monats für ihn der Lebensunterhalt nicht gesichert ist, dann entwertet das meines Erachtens Arbeit. Das heißt, an diesem Punkt muss in der Sozialen Marktwirtschaft eine Leitplanke eingezogen werden, wir finden staatsfern, bei den Tarifparteien die Lohnuntergrenze entwickeln. Das ist jetzt die Diskussion.

    Barenberg: Frau von der Leyen, eine Million Menschen müssen mit weniger als fünf Euro in der Stunde auskommen. Das ist nahezu unmöglich, wenn man eine Familie ernähren muss. Darauf hat Karl-Josef Laumann - ich habe ihn gerade noch mal im O-Ton gespielt - ja schon seit Jahren hingewiesen. Warum reagieren Sie erst jetzt?

    von der Leyen: In den vergangenen Zeiten war Deutschland eigentlich das Vorbild international mit einer geringen Lohnspreizung. Es hat gut funktioniert, dass die Tarifbindung, also Gewerkschaften stark und Arbeitgeber stark, ein Tarifgitter aufgebaut haben, verhandelt haben, das funktioniert hat. Und wenn wir eben merken, dass das bröckelt, dass das löchrig wird, dann ist es an der Zeit zu sagen, so, hier müssen wir einen neuen Rahmen schaffen. Jetzt muss die Diskussion darum gehen, wie wird dieser Rahmen richtig geschaffen. Wir haben ja Erfahrung in Deutschland mit Branchenmindestlöhnen. Es sind inzwischen zehn Branchenmindestlöhne in Deutschland da, wir haben seit 15 Jahren Branchenmindestlöhne, sind übrigens alle unter CDU-Kanzlern eingeführt worden, und da sehen wir: Das Entscheidende ist, nicht durch die Politik darf die Lohnuntergrenze festgelegt werden, sie soll nicht politisiert sein, sondern sie muss von den Tarifparteien festgelegt werden. Gewerkschaften und Arbeitgeber, das sind die Experten in eigener Sache, die wissen in der Branche selber, was ist der richtige Punkt, dass keine Arbeitsplätze zerstört werden, aber ein fairer Lohn gezahlt wird. Und dieses Prinzip möchten wir gerne in eine Findung der Lohnuntergrenze festschreiben.

    Barenberg: Das soll eine Kommission leisten, wenn ich die Pläne da richtig verstehe. Die sollen sich allerdings auf der anderen Seite auch in ihrer Höhe an den Vereinbarungen zur Zeitarbeit orientieren, das heißt im Moment 7,80 Euro im Westen und 6,90 Euro im Osten. Ist das nicht doch am Ende dann eine politische Aussage?

    von der Leyen: Nein, die Kommission sollte weisungsunabhängig sein, und deshalb werde ich jetzt auch auf keine Zahlen eingehen, denn es ist eben nicht Aufgabe der Politik, Zahlen festzulegen, sondern es sollen die Tarifparteien selbstständig festlegen. Das hat im Prinzip auch immer, wo wir es gemacht haben, gut funktioniert. Wir haben jetzt gerade eine Evaluation der Mindestlöhne in Deutschland vorliegen. Das heißt, es ist gut untersucht, was ist eigentlich in den letzten 15 Jahren in den Branchen passiert, wo es Mindestlöhne schon gibt. Und da sieht man ganz interessant im Elektrohandwerk. Da haben wir 1997 - unter Bundeskanzler Kohl - einen Mindestlohn eingeführt, 2003 ist er ausgesetzt worden und 2007 wieder eingeführt worden. Und ganz interessant ist, dass bei Einsetzen des Mindestlohnes 1997 die Löhne gestiegen sind, die Beschäftigung sich nicht verändert hat, es sind also keine Arbeitsplätze zerstört worden. 2003 ist dann die Beschäftigung bei Aussetzen des Mindestlohnes unverändert geblieben, aber die Löhne sind gesunken. Und jetzt, 2007, als der Mindestlohn wieder eingeführt wurde, ist weiterhin die Beschäftigung unverändert geblieben, aber die Löhne sind wieder gestiegen. Das ist ein typisches Beispiel dafür, dass es der richtige Punkt war, mit dem Mindestlohn in dem Elektrohandwerk, der ausgehandelt worden ist von den Experten. Sie haben keine, sie haben arbeitsplatzunschädlich den Mindestlohn ausgehandelt, aber zugunsten der unteren Lohngruppe für einen sicheren unteren Lohn gesorgt, und genau so sollte das Prinzip sein.

    Barenberg: Was Sie da anführen an Untersuchungen, Frau von der Leyen, das widerlegt ja im Grunde das zentrale Argument, das die CDU immer vor sich hergetragen hat, dass nämlich ein Mindestlohn dem Arbeitsmarkt schadet, dass dadurch Arbeitsplätze verloren gehen.

    von der Leyen: Wir haben auch andere Beispiele. Schauen wir nach Frankreich: Dort haben wir einen sehr viel politischeren Mindestlohn. Der liegt rund bei neun Euro. Und da sehen wir, dass wir eine hohe Jugendarbeitslosigkeit haben mit 20 Prozent, vor allen Dingen die Einstiegslöhne für junge Menschen sind hoch, sie haben eine sehr viel höhere grundsätzliche Arbeitslosigkeit auch gerade bei gering Qualifizierten, und das zeigt es genau. Mindestlöhne sind weder eine Katastrophe noch ein Allheilmittel. Man muss den richtigen Punkt finden. Und wir sind in Deutschland in der Tradition gut gefahren zu sagen, staatsfern, immer Tarifautonomie hochhalten, das heißt Gewerkschaften und Arbeitgeber, die wissen ganz genau, was am Arbeitsmarkt los ist, in jedem Betrieb, und die müssen handeln, bis dass weißer Rauch aufsteigt, dass sie den unteren Lohn dann wie das gesamte Tarifgitter festlegen. Der kann dann durch Politik erstreckt werden, und dieses Prinzip, das gilt es jetzt erstens zu diskutieren, zweitens in eine vernünftige Gesetzesform zu gießen und dann auch eben für Deutschland umzusetzen.

    Armbrüster: Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen, heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke schön!

    von der Leyen: Danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.