Samstag, 20. April 2024

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Mirko Bonné: "Seeland, Schneeland"
Die Trostlosigkeit von Newport

In seinem neuen Roman "Seeland Schneeland" berichtet Mirko Bonné von Merce Blackboro, einem jungen Mann, der mit Shackleton in die Antarktis gereist ist. Doch nicht jedes Abenteuer macht einen Helden: Es wird viel gezaudert, bis dieser Roman in Gang kommt.

Von Tanya Lieske | 07.06.2021
Buchcover "Seeland Schneeland" und ein Portrait des Autors Mirko Bonné
Buchcover "Seeland Schneeland" und ein Portrait des Autors Mirko Bonné (Cover Schöffling Verlag / Portrait Bonné (c) Bogenberger/autorenfotos.com)
Die Protagonisten dieses Romans sind in besonderer Weise versehrt. Merce Blackboro etwa, er ist die Hauptfigur dieses mulitperspektivisch angelegten Romans, hat die Antarktis mit Sir Ernest Shackleton bereist. Blackboro hat überlebt, hat Erfrierungen und Vernarbungen im Gesicht davongetragen. Nun arbeitet er im elterlichen Betrieb in Newport in Wales. Er ringt mit seiner Schwermut und einem vagen Gefühl von Sinnlosigkeit.
"Irgendein bedeutsames Bauteil seines Gemüts musste im Packeis des Weddelmeers, auf der felsigen Elefanteninsel oder den Gletschern von Südgeorgien zurückgeblieben sein. An seinem Kontorzimmerfenster sitzend fragte er sich einmal mehr, was es sein konnte – Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Lebensantrieb, ein Lebensziel?"
Mirko Bonné: "Wimpern und Asche" 
Dem Dichter Mirko Bonné gelingt es in seinem Band "Wimpern und Asche" sogar, über Plastikmüll in den Weltmeeren ein Gedicht zu machen. Seine Lyrik ist von Alltag durchdrungen, seine Sprache von einer hoffnungsvollen Sinnlichkeit.
Da das Städtchen Newport in diesem Winter eingeschneit ist, spiegelt die Landschaft mit ihren Verwehungen die Innenwelt des Merce Blackboro. Dies ist ein Roman mit viel Weiß und Grau. Zudem ist Blackboro keineswegs allein in seiner Verzweiflung. Da ist Diver Robey, ein amerikanischer Milliardär mit Sinnkrise und Trunksucht. Merce’ Bruder, ein weiterer Freund, vier junge Frauen, die einander von Kindheit an kennen: Sie alle wirken gelähmt und ausgesetzt, als seien sie Sprösslinge eines einzigen melancholischen Weltbewusstseins. Das wird weitläufig erklärt, ist aber nur dem Leser bekannt, denn die Figuren sprechen nicht über ihre Innenwelt.

Havariert vor Schottland

Knapp gehalten ist zudem die Linie der äußeren Ereignisse. Merce Blackboro war schon vor seiner Exkursion in die Antarktis in die junge Ennid Muldoon verliebt, die sich nun auf einen Dampfer nach Amerika eingeschifft hat. Sie ist eine Kriegerwitwe und will der Trostlosigkeit von Newport entkommen. Doch ihr Schiff, die Orion, gerät in Seenot und havariert vor Schottland. Von mehr als tausend Passagieren scheint sich nur die äußerst komptetente Ennid, Tochter eines Schiffausstatters, der Gefahr bewusst.
"Was ihr nicht aus dem Kopf ging, war dieses unerklärliche Donnern, das sie in der Nacht gehört hatte – etwas Großes, Massives und sehr Schweres war Richtung Heck, tief unter Wasser, fast in Kielhöhe, mehrfach gegen die Bordwand geschlagen, und danach, erinnerte sie sich, hatte plötzlich Ruhe, ein gespenstische Stille geherrscht."
Merce Blackboro hat sich inzwischen an die Fersen von Ennid geheftet, mit dem Zug fährt er der Orion hinterher nach Rotterdam und Hamburg. Doch auch wenn "Seeland Schneeland" sich in so vielerlei Hinsicht vor der Literatur des 19. Jahrhunderts verbeugt – eine dramatische Rettung ist zunächst nicht zu erwarten. Denn die Figuren dieses Romans sind keine romantischen Draufgänger. Sie leiden eher an den Seelennöten der Moderne, wozu Schlafstörung und ein gewisser Ennui gehören. In den Worten Diver Robeys:
"Inzwischen war er überzeugt, dass auch seine Sucht nur eine Sucht war, nicht weniger selbstzerstörerisch als der Gin, den er in sich hineinlaufen ließ, wie um jemanden in seinem Inneren zu ertränken"

Ein hemdsärmeliger Veteran

Mirko Bonné ist ein kluger und ein belesener Autor, der so viel Zögern und Zaudern literarisch begründen kann. Es gibt einiges an Lyrik, Zeilen von Yeats und Keats in der eigenen, der Bonnéschen Übersetzung; zudem liest Ennid in der Wartezeit an Bord den Roman "Anna Karenina" von Tolstoi. Dennoch können all diese Verweise nicht darüber hinweg trösten, dass sich über viele hunderte Seiten zu wenig tut. Daran ändert sich erst etwas, als Ernest Shackleton seinen Auftritt hat. Er, der hemdsärmelige Veteran des heroischen Zeitalters, gibt Blackboro den entscheidenden Hinweis:
"Ich verstehe sie nicht. Das Mädchen, das Sie lieben, ist auf diesem Schiff, und Sie haben die Möglichkeit, dort hinzukommen und sie umzustimmen. Was hält Sie zurück?"
So kommt es, dass dieser Roman in seinen letzten 50 Seiten doch noch an Fahrt aufnimmt. Wer bis jetzt, um im Bilde zu bleiben, noch an Bord ist, hat geradezu seemännische Geduld aufgebracht. Die war – wie es die Geduld so an sich hat - nicht gänzlich vergebens. Durchaus bemerkenswert sind die minutiös ausrecherchierten Tableaus unserer Welt vor einhundert Jahren. Zudem schafft es wohl nur ein Mirko Bonné, deutsche Dialoge so zu schreiben, dass man die englische Sprache darunter mitzuhören meint. Gut hinhören kann man, denn es ist oft still in diesem Roman voller Schnee.
Mirko Bonné: "Seeland, Schneeland"
Schöffling & Co, Frankfurt a. M.
448 Seiten 28 Euro.