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Miserable Bilanz

In Syrien wird seit über vierzig Jahren mit Notstandsgesetzen regiert: das bedeutet, alle geltenden Gesetze sind aufgehoben. Außerdem haben wir ein Gesetz, demzufolge Verbrechen, die von Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden begangen werden, nicht verfolgt werden. Im Klartext heißt das: Verbrechen sind gesetzlich erlaubt.

Von Martina Sabra | 04.10.2004
    Weil er Syriens Diktatur kritisierte, wurde der Rechtsanwalt Heitham Maleh jahrelang ohne Prozess gefangen gehalten und gefoltert. Heute, da Maleh über siebzig ist, wirft man ihn zwar nicht mehr in eine Zelle, aber man lässt ihn nicht ins Ausland reisen. Junge Leute dagegen sitzen zu Tausenden in Haft, weil sie es wie Heitham Maleh gewagt haben, ihre politische Meinung zu äußern.

    Syrien steht auf der Liste der "schärfsten Widersacher der Meinungsfreiheit" von Reporter ohne Grenzen - zusammen mit Libyen, Saudi-Arabien und Tunesien. Damit sind die arabischen Staaten zahlenmäßig überproportional vertreten. Die totale Kontrolle der Bürger ist im Zeitalter von Satellitenschüsseln und Internet allerdings auch für arabische Diktaturen schwieriger geworden. Trotz Verboten kaufen immer mehr Menschen Parabolantennen, und finden Wege ins Internet. Der syrische Journalist Michel Kilo, der in Deutschland studiert hat, ist selbst aktiv im World Wide Web.

    Also das hat eine sehr große Verbreitung jetzt. Es wird von 100.000 zu 150.000 Internet-Abonnenten gesprochen. Aber ich weiß, also jeden Morgen machen tausende von Menschen ihre Computer an und lesen, was es in bestimmten Websites gibt, oder in bestimmten Zeitungen, zum Beispiel die libanesische Zeitung al-Nahar, wo die syrische Opposition schreibt, und wenn sie irgendwo einen Artikel finden, dann fangen sie an zu drucken, zu vervielfältigen und zu verteilen und alles Mögliche.

    Michel Kilo ist international bekannt: Das bedeutet einen gewissen Schutz vor der Macht: Er kann seine Meinung relativ offen sagen. Weniger prominente Cyber-Dissidenten müssen in Syrien jederzeit damit rechnen, dass die Polizei vor der Tür steht. Abdelrachman Al-Shagouri wurde zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er sich angeblich illegale Informationen aus dem Internet besorgt hatte.

    Hinter der mangelnden Informations- und Pressefreiheit in der arabischen Welt stecken hauptsächlich ökonomische Interessen: Die herrschenden Cliquen wirtschaften auf Kosten der Bevölkerung in die eigene Tasche und wollen nicht, dass ihre Macht in Frage gestellt wird. Der Westen stellt sich aus politischem Kalkül allzu oft blind: OSZE-Wahlbeobachter kamen nach der Präsidentschaftswahl in Algerien vom April 2004 tatsächlich zu dem Schluss, die Wahl sei "korrekt" verlaufen. Und das, obwohl der amtierende und wieder gewählte Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika im Vorfeld der Wahlen die unabhängige Presse drangsaliert und das algerische Fernsehen gleichgeschaltet hatte.

    Adlène Meddi, Journalist von der algerischen Tageszeitung "El Watan" wirft den Regierungen Europas und der USA vor, dass sie die von ihnen selbst propagierten demokratischen Ideale nicht energisch genug einfordern:

    Es gibt eine gewisse Solidarität. Aber insgesamt scheint es, als wollten die Europäer sich damit zufrieden geben uns Drittweltlern im Süden nur eine Art Mindestlohn zu geben, was Freiheit angeht. Sonst würden sie nicht die Augen verschließen, wenn bei uns gegen die Pressefreiheit verstoßen wird.

    Die Mechanismen der Zensur sind in der arabischen Welt breit gefächert: Sie reichen von restriktiven Presse- und Informationsgesetzen über Zwangsmitgliedschaften für Journalisten und Medienleute in staatlich kontrollierten Berufsvereinigungen bis zu staatlichen Subventionen für Zeitungen und Medien.

    Die gesellschaftspolitisch wichtigsten Themenfelder sind in den meisten arabischen Staaten tabu: der Islam, die Autorität des Staatschefs und das Militär dürfen nicht kritisiert werden. Seit dem 11. September 2001 ist mit dem Argument der Terrorbekämpfung die Meinungsfreiheit in der gesamten arabischen Welt noch weiter beschnitten worden. In Marokko wurden investigative Journalisten daran gehindert, Korruptionsfälle im Regierungsapparat aufzudecken; in Palästina berichteten Journalisten, sie seien von israelischen Soldaten gezielt beschossen worden. Zwei kamen zu Tode. Zugespitzt hat sich der Kampf um Meinungsfreiheit in den vergangenen zwei Jahren auch in Algerien. Dort wurde im Juni 2004 der Chefredakteur der Tageszeitung "Le Matin", Mohamed Benchicou aufgrund einer Farce zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Doch alle Proteste seien bisher erfolglos geblieben, berichtet Adlène Meddi von der algerischen Zeitung El Watan:

    Die Solidarität der algerischen Kollegen hat etwas nachgelassen - wegen der Sommerpause, aber auch wegen des Drucks von Seiten der Macht. Benchicou geht es schlecht. Er verbringt die meiste Zeit im Gefängniskrankenhaus, und es gibt ein formelles Besuchsverbot. Er ist sehr isoliert. Seinem Kollegen Hafnawi Ghoul, der bei einer arabischsprachigen Tageszeitung arbeitete, geht es ähnlich, er wurde zum zweiten Mal verurteilt. Wir sammeln Unterschriften, die wir in der algerischen Presse veröffentlichen werden, und es gab Proteste aus der ganzen Welt. Ghouls Eltern haben sich jetzt direkt an den Präsidenten gewandt, und hoffen, dass er zum 50. Jahrestag des Unabhängigkeitskrieges, am 1. November im Rahmen einer Amnestie freigelassen wird.

    Trotz der politischen Repression und obwohl auch in Algerien ein Drittel der Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann, ist Adlène Meddi mit Leib und Seele Zeitungsjournalist: denn nur in den Zeitungen kämen die zu Wort, die sonst nirgendwo gehört würden. Fernsehen und Radio, die massenwirksamen Medien sind in Algerien und fast der ganzen arabischen Welt in staatlicher Hand.
    Das staatliche Monopol bei Radio und TV beginnt in einigen arabischen Ländern zwar zu bröckeln, dank Privatisierung und dank der neuen panarabischen Satellitenfernsehsender. Doch Beobachter der arabischen Medien wie der deutsche Islamwissenschaftler Gregor Meyering wenden ein, dass die neuen privaten Medienunternehmen oft Angehörigen der Herrscherclique unterstehen, und dass die relative Meinungsvielfalt der überregionalen Fernsehsender sich bisher nicht in der regionalen und lokalen arabischen TV-Berichterstattung niederschlägt. Die nationalen arabischen Fernsehsender bleiben von den jeweiligen Regierungen kontrolliert, und werden allerhöchstens formal ein wenig moderner. Die Inhalte verändern sich hingegen kaum.