Dienstag, 19. März 2024

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Missbrauch im Turnen
"Bei uns im System kann das nicht passieren"

Der Skandal um den ehemaligen Arzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, hat viele erschüttert. Nassar hatte über Jahrzehnte junge Sportlerinnen sexuell missbraucht. Bundestrainerin Ulla Koch und Turnerin Elisabeth Seitz erklären im Dlf-Sportgespräch, warum das deutsche Turnsystem so etwas verhindert.

Ulla Koch und Elisabeth Seitz im Gespräch mit Marina Schweizer und Sandra Schmidt | 03.06.2018
    Die deutsche Turnerin Elisabeth Seitz bei einer Übung am Stufenbarren.
    Die deutsche Turnerin Elisabeth Seitz (AFP / Daniel Mihailescu)
    "Ich war schockiert, unfassbar für mich", sagt die Cheftrainerin der deutschen Turnerinnen, Ulla Koch. "Vor allen Dingen, weil wir kennen den Herrn Doktor Nassar, wir kennen die Athleten, wir kennen die Trainer die beteiligt sind, oder die auch betroffen sind.
    Und für mich war es ein echter Schock, weil die Amerikaner wirklich vorbildlich für uns waren. Vor allen Dingen in ihrer Motivation, in ihrer Haltung, wie sie aufgetreten sind mit uns auf Wettkämpfen. Und ich hätte niemals gedacht, dass es hinter den Kulissen so schlimme Szenen gegeben hat."
    "Warum hat sich keiner geöffnet?"
    Auch die leistungsstärkste deutsche Turnerin der letzten Jahre, Elisabeth Seitz, hat der Nassar-Skandal erschüttert: "Da überlegt man natürlich: ‚Hätte mir so etwas passieren können?‘ Oder: ‚Was mussten die denn da durchleben?‘ Es war ja auch ein großes Leid, letzten Endes. Gleichzeitig haben die aber Top-Leistungen gebracht, was für mich ziemlich unverständlich ist, wie sowas dann überhaupt gehen kann."
    Ulla Koch ist Chef-Trainerin des Deutschen Turner-Bundes.
    Ulla Koch ist Chef-Trainerin des Deutschen Turner-Bundes. (imago sportfotodienst)
    Keiner habe das erwartet, erzählt Koch. Viele amerikanische und kanadische Trainer sagten, sie hätten Nassar das nicht zugetraut. "Die Athleten haben sich aber auch nicht geöffnet und ich finde das ist das, was man hinterfragen muss: Warum hat sich keiner geöffnet?"
    Keine Behandlung ohne Absprache
    Nassar missbrauchte Athletinnen indem er vorspiegelte, ihre Wirbelsäule zu behandeln. Eine Methode, die es wirklich gibt. Dabei wird mit einem Griff durch den After die Wirbelsäule aufgerichtet. Nassar drang allerdings in die Vagina der Sportlerinnen ein.
    "Kein Physio und kein Arzt unternimmt etwas mit einer Athletin, ohne nicht vorher entweder mit dem Heimtrainer oder mit den Eltern oder mit mir als Cheftrainer vor Ort gesprochen zu haben. Gerade den Eingriff, den Herr Nassar gemacht hat: Da war von uns einer im Zimmer dabei und noch jemand stand vor der Tür, dass in dem Moment keiner reinkommt, weil es halt für den Athleten eine unangenehme Situation ist", sagt Koch. "Ich glaube bei uns im System kann uns das nicht passieren."
    Der frühere Teamarzt der US-Turner, Larry Nassar, vor Gericht in Lansing, Michigan.
    Der frühere Teamarzt der US-Turner, Larry Nassar, vor Gericht in Lansing, Michigan. (AFP / JEFF KOWALSKY)
    In den USA gibt es auch Anschuldigungen gegen den Verband und Trainer, sie sollen Larry Nassar gedeckt haben. Das Unwissen der Trainerin Martha Karolyi hält Koch aber für glaubhaft, weil es das Verhältnis Arzt - Trainer im Grund nicht gäbe. Jeder agiere auschließlich in seinem Bereich. Die Struktur mit der abgeschotteten Karolyi-Ranch habe den Missbrauch eher nicht begünstigt. Abgeschottet sein sei keine Entschuldigung.
    Elisabeth Seitz ist sich sicher: Wäre ihr etwas ähnliches widerfahren, hätte sie sich auch schon als Jugendliche offenbart und Hilfe gesucht. Wenn nicht bei Trainern, dann in der Familie. Als Grund für das Schweigen der missbrauchten Athletinnen haben Seitz und Koch nur eine Erklärung: Die extrem großen Dimensionen des Sports in den USA und der daraus resultierende Druck, Leistung und Erfolge zu liefern.
    Das gesamte Gespräch können Sie mindestens sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.