Freitag, 29. März 2024

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Missbrauch-Studie der katholischen Kirche
Forensiker Dreßing: "Ich erwarte Rücktritte"

Das Erzbistum Köln hatte angekündigt, in einer Untersuchung zum Umgang mit sexualisierter Gewalt "Ross und Reiter" zu nennen. Die Untersuchung ist fertig, bleibt aber unveröffentlicht. Der forensische Psychiater Harald Dreßing forderte im Dlf, Bischöfe müssten Verantwortung übernehmen.

Harald Dreßing im Gespräch mit Christiane Florin | 02.11.2020
Porträt von Harald Dreßing, Professor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Harald Dreßing, Professor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit und Leiter der MHG-Studie (picture allaiance / dpa / Arne Dedert)
Im September 2018 veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz eine Studie über das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche. Wenige Tage bevor diese sogenannte MHG-Studie offiziell vorgestellt wurde, überraschte der Erzbischof von Köln, Rainer Maria Woelki, mit einem Versprechen: Er plane eine eigene unabhängige Untersuchung für sein Bistum. Beauftragt wurde die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl. Das Erzbistum versprach im Laufe der Zeit noch mehr, nämlich Ross und Reiter zu nennen, also die Namen von Verantwortlichen, die ihrer Verantwortung nicht nachgekommen sind, die, umgangssprachlich gesagt, vertuscht haben. Eigentlich sollte die Untersuchung im März dieses Jahres veröffentlicht werden. Daraus wurde zunächst nichts - wegen äußerungsrechtlicher Probleme, so die Begründung.
Forensiker Dreßing: "Ich nenne keine Namen"
Das Erzbistum Köln hat die Veröffentlichung einer Untersuchung verschoben, in der Verantwortliche für die Vertuschung von sexuellem Missbrauch genannt werden sollten. Psychiater Studienleiter Harald Dreßing sagte im Dlf: Um Namen nennen zu können, müsse die Politik die Bedingungen klären.
Am vergangenen Freitag beendete das Erzbistum die Zusammenarbeit mit der Münchner Kanzlei nun endgültig – und zwar nicht diskret, sondern mit einem Knall, mit einer gemeinsamen Pressemitteilung von Erzbistum und Betroffenenbeirat. Die Untersuchung werde nun gar nicht mehr veröffentlicht, stand da zu lesen – unter anderem deswegen, weil die Münchner Kanzlei den Anforderungen des Bistums und der Betroffenen nicht gerecht geworden sei. Beigefügt ist ein juristisches Gutachten, das der Untersuchung Mängel attestiert. Die öffentlich kritisierte Kanzlei wiederum gab dazu eine schriftliche Stellungnahme ab. Demnach könne aus ihrer Sicht die Untersuchung jederzeit veröffentlicht werden. Dem Deutschlandfunk liegt zudem die Information vor, dass mindestens ein Mitglied den Betroffenenbeirat verlassen wird.
Harald Dreßing leitet die Forensische Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und hat die eingangs erwähnte MHG-Studie geleitet.
Christiane Florin: Herr Dreßing, was geschieht da?
Harald Dreßing: Lassen Sie mich vielleicht einen Blick als Wissenschaftler und auch als praktisch tätiger forensischer Psychiater auf die Sache werfen. Denn die beiden Perspektiven sind wichtig, um die Sache vielleicht ein bisschen einordnen zu können. Was mir auffällt in der Diskussion, ist, dass Begriffe sehr unscharf benutzt werden. Da ist einmal von "Studie" die Rede, dann in dem von Ihnen angesprochenen methodenkritischen Gutachten von einem "Gutachten", was die Kanzlei Westpfahl und Kollegen gemacht habe. Studie und Gutachten sind methodisch völlig unterschiedliche Herangehensweisen. Wir haben mit MHG eine Studie gemacht. Wir haben wissenschaftliche Methoden angewandt, transparent die Ziele formuliert und haben diese Ergebnisse dann auch in wissenschaftlichen Journals publiziert. Das hatten wir uns auch vertraglich ausbedungen mit der katholischen Kirche. Wir hätten diese Studie überhaupt nicht angenommen, wenn wir die Ergebnisse nicht hätten publizieren können. Das heißt also, da entscheidet nicht ein Privatgutachter oder der Auftraggeber, ob wir das publizieren, sondern wir selbst.
Da sind wir auch relativ erfolgreich gewesen. Die haben mehr als zehn Studien in hochrangigen Journals gemacht. Und da entscheiden dann wissenschaftliche Kollegen in einem anonymen Verfahren, ob die Arbeiten gut sind oder nicht. Ich selbst bin auch als forensischer Psychiater tätig. Da mache ich Strafrechtsgutachten zum Beispiel zur Schuldfähigkeit. Da geht man methodisch ganz anders vor, dann wendet man keine quantitativ epidemiologischen Studien an, sondern da schaut man sich Einzelfälle an, und das ist auch legitim in einem Gutachten, dass man sich Einzelfälle anschaut. Das kann man aber sicherlich nicht publizieren, schon gar nicht mit Namen publizieren. Die äußerungsrechtlichen Probleme, die da entstehen können, wenn es sich nicht um Personen der Zeitgeschichte handelt, für die ein öffentliches Interesse besteht, sind da evident. Deswegen wurde dieses Gutachten der Kanzlei Westpfahl und Kollegen ja im März auch nicht veröffentlicht. Da wurden äußerungsrechtliche Bedenken geltend gemacht, und das wird auch bis September so durchgehalten. Und jetzt hat man offensichtlich eine Volte vollzogen: Von äußerungsrechtlichen Problemen ist nicht mehr die Rede, sondern es wird von methodischen Problemen dieses Gutachtens gesprochen. Das kann man natürlich nur beurteilen, wenn man dieses Dokument der Kanzlei Westpfahl und Kollegen selbst kennen würde.
Sexueller Missbrauch in der Katholischen Kirche: Streit um die Namen der Vertuscher
Im Bistum Limburg wurde ein ambitioniertes Aufklärungsprojekt zum Thema sexueller Missbrauch angegangen, in dem – mit Zustimmung des Bischofs – sogar die Namen der Vertuscher genannt werden.
Florin: Jetzt geht es aber ja unter anderem auch darum, und das scheint ja das besonders heikle Kapitel zu sein, Verantwortliche zu benennen und auch zu sagen, inwiefern die ihrer Verantwortung nicht nachgekommen sind. Es fällt auf: Im Moment laufen Untersuchungen oder Gutachten oder wie man es auch nennen soll – sie haben gerade das Problem beschrieben – in verschiedenen Bistümern. Einige Bistümer geben den Auftrag an Rechtsanwaltskanzleien, andere haben Historikerkommissionen gegründet. Wie deuten Sie denn das, dass so unterschiedliche Disziplinen damit befasst sind?
Dreßing: Es sind zwei Fragen in einer, ich beginne mit dem Begriff der Verantwortung. Verantwortung ist auch unterschiedlich zu definieren. Es gibt eine strafrechtliche Verantwortlichkeit. Es gibt eine Verantwortung nach dem Kirchenrecht und, bezüglich des Themas über das wir sprechen, sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen im Verantwortungsbereich der katholischen Kirche. Da gibt es ja auch eine weitere, darüber hinausgehende ethisch-moralische Verantwortlichkeit. Also man kann als Personalverantwortlicher sich zum Beispiel strafrechtlich und kirchenrechtlich gerade mal so eben noch korrekt verhalten haben. Das entbindet aber möglicherweise die Verantwortlichen nicht von einer darüber hinausgehenden, ethisch-moralischen Verantwortlichkeit, dass man die Opfer, die Betroffenen nicht so behandelt hat, wie man das hätte tun sollen. Und da kommen natürlich dann auch weichere Begriffe ins Spiel – "Opfer-Empathie" zum Beispiel – die in einer solchen Untersuchung, wie Westpfahl und Kollegen des gemacht haben, unbedingt beleuchtet werden müssen, wenn man dem Thema gerecht werden will. So wie ich Betroffene verstehe, ist es genau das, was auch gefordert wird und was aus meiner Sicht auch notwendig ist.
"Nicht in Ordnung, sich einen schlanken Fuß zu machen"
Florin: Aber genau das wird ja jetzt in dem juristischen Gutachten zur Untersuchung der Kanzlei zum Vorwurf gemacht: Sie habe dort moralisch gefärbte Anschuldigungen niedergelegt. Also geht es überhaupt ohne Moral? Sie haben gerade, wenn ich Sie richtig verstanden habe, gesagt, nein, ohne moralisch-ethische Bewertung kann man eine solche Untersuchung gar nicht machen.
Dreßing: Ja, ich glaube als Verantwortlicher im Bereich der katholischen Kirche ist es nicht in Ordnung, wenn man sich einen schlanken Fuß macht und sagt: Naja, wenn man mir Verstöße gegen Strafrecht oder Kirchenrecht nachweist, dann werde ich entsprechende Konsequenzen ziehen, anderweitig aber nicht. Ich glaube, das geht gerade nicht bei dem Thema und in der katholischen Kirche mit besonderen moralischen Ansprüchen. Ja, ich glaube, diesen Ansprüchen müssen die Verantwortlichen dann auch selbst gerecht werden. Und natürlich sind das zentrale Themen in dieser Debatte.
Was Sie sonst noch angesprochen haben: weitere Untersuchungen in den anderen Diözesen. Das sehe ich, das habe ich auch mehrfach schon gesagt, äußerst kritisch. Also wir sind selbst auf solche Studien oder Untersuchungen angedient worden. Die habe ich alle abgelehnt, weil genau die vorhin angesprochenen, äußerungsrechtlichen Probleme nach meinem Dafürhalten – ich bin kein Jurist – nicht hinreichend geklärt sind, um zum Beispiel Ross und Reiter zu nennen. Da kann man vielleicht den Namen eines Bischofs nennen. Aber ist ein Personalverantwortlicher im Domkapitel eine bedeutende Person der Zeitgeschichte mit Öffentlichkeitsinteresse? Darf man dessen Namen nennen? Das sind alles Themen, die nicht geklärt sind. Und deswegen müssten solche Untersuchungen nach meinem Dafürhalten in einem breiten nationalen Konsens stattfinden, von einer Kommission, die zwingend interdisziplinär besetzt sein müsste und die auch ganz klare Zugriffs- und Durchgriffsrechte haben müsste.
Das Foto zeigt die Pressekonferenz für die Studie zum Missbrauch in der Katholischen Kirche, in der Mitte Kardinal Reinhard Marx (M), Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.
Pressekonferenz zur Veröffentlichung der MHG-Studie im Jahr 2018 (dpa-Bildfunk / Arne Dedert)
Florin: Sollte denn die bisher geheime Untersuchung veröffentlicht werden, also die Kölner Untersuchung?
Dreßing: Ich kenne die vertraglichen Bedingungen nicht, die die Kanzlei Westpfahl mit der Erzdiözese Köln ausgehandelt hat. Also wir hatten ja, habe ich Ihnen eingangs gesagt, in unserer Studie einen Vertrag, in dem wir uns die Veröffentlichung vertraglich vereinbart haben. Und wir hätten eine solche Untersuchung, eine solche Studie nicht angenommen, wenn am Ende der Auftraggeber hätte kommen können und sagen können: Das, was wir gefunden haben, dürft ihr nicht veröffentlichen. Ich weiß nicht, wie die vertraglichen Konditionen zwischen Westpfahl und Kollegen und der Erzdiözese Köln sind. Insofern kann ich das nicht beurteilen.
"Vertragliche Bedingungen publik machen"
Florin: Halten Sie es denn für richtig, dass die vertraglichen Bedingungen geheim gehalten werden? Es gibt doch ein öffentliches Interesse an dem Thema, weil es um sexualisierte Gewalt geht, um Kinder, um Jugendliche. Es gibt auch ein Interesse der Kirchensteuerzahler und Kirchensteuerzahlerinnen daran.
Dreßing: Ich würde jetzt keinen Grund sehen, warum man vertragliche Bedingungen nicht publik machen könnte. Das haben wir ja in unserer MHG-Studie auch immer getan – wir haben immer gesagt, welche vertraglichen Bedingungen wir eingegangen sind. Also da gab es nie irgendwelche Geheimnisse.
Florin: Nun hat das Erzbistum Köln eine neue Untersuchung angekündigt, die schon im Frühjahr nächsten Jahres, im März veröffentlicht werden soll. Wie kann das gehen in so kurzer Zeit?
Dreßing: Ja, das ist schon wieder die Frage: Was soll das sein? Soll das eine wissenschaftliche Studie sein? Wenn es eine Studie sein soll, ist das definitiv unmöglich. Also ich mache jetzt seit 30 Jahren wissenschaftliche Studien. Die Komplexität, die hier zu untersuchen ist, würde nach meinem Dafürhalten, mindestens eine Untersuchungszeit von zwei Jahren erfordern. Also in drei, vier Monaten können Sie da eigentlich nur einen Schnellschuss produzieren, der wissenschaftlich sicherlich nicht sehr fundiert sein kann. Ich weiß nicht, was gemacht werden soll und was dieser Auftrag nun umfassen soll. Auch da ist ja offensichtlich jetzt eine Rechtsanwaltskanzlei beauftragt worden. Also wie gesagt, meines Erachtens müssten solche Untersuchungen von interdisziplinären Kommissionen durchgeführt werden nach einheitlichen Standards.
Florin: Es scheint schwierig zu sein, Namen zu nennen. Das haben Sie auch schon in unserem Interview vor einem halben Jahr, als diese Veröffentlichung verschoben worden war, gesagt. Dass ein Bischof Verantwortung übernimmt, was bedeutet das für Sie?
Dreßing: Dass ein Bischof Verantwortung übernimmt, im moralisch-ethischen Sinne, da braucht es eigentlich keine Untersuchungen dazu. Das geschieht im Gewissen eines jeden Menschen und diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten Personalverantwortung getragen haben im Bereich der katholischen Kirche, die werden ihr eigenes Gewissen befragen müssen und sagen müssen, ob sie da in diesem moralisch-ethischen Sinne Fehler für sich erkennen können und erkennen können, Verantwortung falsch gehandhabt zu haben. Und wenn man das tut, dann ist es auch wieder eine persönliche Entscheidung, wie man damit umgeht. Zumindest das zu bekennen, wäre ein erster Schritt. Und wenn das erhebliche Verfehlungen sind, wäre zum Beispiel auch ein Rücktritt von einem Amt eine angemessene Reaktion.
Florin: Hatten Sie das erwartet, als Sie vor zwei Jahren im September bei der Vollversammlung der Bischöfe in Fulda Ihre MHG-Studie vorgestellt haben?
Dreßing: Na ja, wir haben hier deutliche Hinweise dafür gefunden, dass über Jahrzehnte hinweg vertuscht worden ist. Wir haben jetzt gerade auch noch mal eine aktuelle Studie gemacht und die katholische Kirche mit anderen Institutionen verglichen und gesehen, dass in der katholischen Kirche zumindest in den letzten Jahren deutlich mehr sexuelle Missbrauchshandlungen vertuscht worden sind als in anderen Institutionen. Und wenn das gemacht wird, dann muss eigentlich auch irgendjemand dafür die Verantwortung übernehmen. Und insofern würde ich Rücktritte erwarten, ja.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.