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Missverständnisse

Die Darwinsche Evolutionstheorie gehört zu den großen Errungenschaften der Wissenschaft. Als sie vor 150 Jahren, am 1. Juli 1858, erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, empfanden das viele Menschen als Kränkung. Der Mensch hatte seine Sonderrolle in der Schöpfung eingebüßt. Schon in dieser Kränkung wurzelt die Serie von Missverständnissen über die Evolutionstheorie, die sich bis heute fortsetzt.

Von Martin Hubert | 29.06.2008
    Wenn auch vieles dunkel bleiben wird, so kann ich doch nach dem sorgfältigsten Studium und dem unbefangensten Urteil, deren ich fähig bin, keinen Zweifel mehr daran hegen, dass die Ansicht, die die meisten Naturforscher bis vor kurzem vertraten, und die ich selbst früher vertrat, nämlich dass jede Art unabhängig für sich geschaffen wurde, irrig ist.

    Charles Darwin in seinem 1859 veröffentlichten Epochenwerk "Die Entstehung der Arten durch natürlich Zuchtwahl".

    Ich bin vollkommen überzeugt, dass die Arten nicht unwandelbar sind, sondern dass die ein und derselben Gattung angehörenden in gerader Linie von anderen, gewöhnlich schon erloschenen Arten abstammen, ebenso wie die anerkannten Varietäten einer bestimmten Art von dieser Art abstammen.

    Gewaltige Sätze, die keinen Zweifel zulassen. Sie klingen, als wollte Darwin mit ihnen allen künftigen Umdeutungen seiner Theorie ein für allemal einen Riegel vorschieben.

    "Darwin-Mutationen
    Die Missverständnisse der Evolutionstheorie
    Von Martin Hubert"

    Ganz hat es nicht funktioniert.

    "Das Problem ist, glaube ich, dass auf der einen Seite viele Leute Darwins Buch gar nicht lesen, auch Biologen oder selbst Evolutionsbiologen. Also ich weiß aus meinen eigenen Vorlesungen, dass die Studenten das natürlich zum großen Teil nicht gelesen haben."

    Axel Meyer, Professor für Biologie an der Universität Konstanz.

    "Und dass das Buch in einem solchen altmodischen Stil geschrieben ist, wo es kapitelweise über Variation von Zuchtochsen oder Zuchttauben geht und wo die eigentliche Message nicht besonders klar dargestellt ist. Und was dann auch viel Platz für Interpretationen in die eine oder andere Richtung zulässt."

    Seit Beginn ihres Siegeszugs vor 150 Jahren hat die Evolutionstheorie mit Fehldeutungen zu kämpfen. Sie betreffen den Kern der Darwinschen Ideen: Wie entwickelt sich die Natur und was bedeutet "Fortschritt"? Was ist genau unter "Anpassung" und "Überlebenskampf" zu verstehen? Welchen Stellenwert besitzen die Arten und wie ist die Beziehung zwischen Natur und Kultur zu fassen? Die Missverständnisse zu diesen Fragen halten sich zum Teil so hartnäckig, dass sie im öffentlichen Bewusstsein bisweilen sogar an die Stelle von Darwins ursprünglichen Ideen getreten sind. Wie Axel Meyer betont, hat das einerseits mit Lesefaulheit und mit den Tücken von Darwins Texten zu tun - andererseits spielen aber auch uralte Widerstände gegen Darwins Ideen eine Rolle. Für Eckart Voland, Philosoph und Soziobiologe an der Universität Giessen, steht jedenfalls fest: Viele Menschen haben Darwins Einsicht immer noch nicht ganz verwunden, dass der Mensch nur ein Naturprodukt wie jedes andere ist.

    ""Die Missverständnisse entstehen dadurch, dass die Evolutionstheorie Stellung bezieht zu jedem Einzelnen von uns selbst, zum Platz des Menschen im Kosmos. Und hier haben wir Selbstinterpretationen, die wir, wenn es irgendwie geht, retten wollen. Und wir werden die Evolutionstheorie so lesen, dass wir mit einem Zugewinn an Selbstbewusstsein aus dieser kritischen Reflexion herauskommen und deshalb wird die Evolutionstheorie genutzt, ausgebeutet von den Ideologen der verschiedensten Couleur, von den Persönlichkeitstypen der verschiedensten Machart und so entstehen natürlich unzählig viele Missverständnisse, weil der menschliche Geist nur das wahrnimmt, was er wahrnehmen möchte."

    150 Jahre nachdem Darwins Grundideen am 1. Juli 1858 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurden, ist es daher immer noch nötig, sich ihrer genau zu versichern. Welche Interpretation ist gültig? Welche beruht auf Missverständnissen? Wo bestehen tatsächlich noch ungeklärte biologische Fragen? Natürlich konnte Darwin im 19. Jahrhundert nicht alles wissen, der Kern seines Gedankengebäudes aber ist heute noch gültig. Jede Art, sagt Darwin, ganz gleich ob Pflanze oder Tier, steht unter dem Gesetz der Variation: Sie erzeugt viele Nachkommen, die sich voneinander unterscheiden. Dann setzt die Selektion ein, die mit dem Mechanismus der Anpassung verbunden ist: Von den unterschiedlich ausgestatteten Nachkommen überleben diejenigen leichter, die besser an die Umwelt angepasst sind. Also überleben diejenigen, die eine höhere Fitness im Überlebenskampf aufweisen. Die Arten wandeln sich demnach, um in veränderten Umwelten überleben zu können und stammen von den Arten ab, die vorher überlebt haben. Das klingt bestechend klar - aber die Missverständnisse beginnen schon bei der Frage, was denn genau unter "Anpassung" zu verstehen ist.

    Spechte leben in einer Umwelt von Bäumen. Also klopfen sie auf sie ein. Spechte klopfen, um eine Höhle in den Baum zu schlagen, in die sie ihre Brut legen. Sie klopfen, um durch die Löcher in der Rinde Insekten und Larven aus dem Inneren zu holen. Männchen klopfen im Frühjahr, um die holde Weiblichkeit durch besonders kräftiges und dauerhaftes Hauen von ihrer Potenz zu überzeugen. Und sie klopfen, um ihr Revier gegenüber anderen, konkurrierenden Männchen, lautstark abzugrenzen. Je besser Spechte also in der Lage sind, zu klopfen, desto besser können sie überleben. Man sollte daher meinen, der spitze, starke Schnabel der Spechte mache sie zu Wesen, die optimal an ihre Umwelt angepasst sind. Es gibt scheinbar perfekt angepasste Lebewesen. Mit Sätzen wie dem Folgenden hat Darwin selbst diese Vorstellung nahe gelegt.

    Da die natürliche Auslese einzig und allein durch und für das Wohl eines jeden Lebewesen arbeitet, werden alle körperlichen und geistigen Anlagen dazu tendieren, sich in Richtung Perfektion weiterzuentwickeln.

    "Sicherlich ist die Evolution ständig - wie dieses Zitat vorschlägt – dabei, zu basteln und vielleicht auch zu perfektionieren, aber nur unter den jetzt herrschenden Umweltbedingungen, Selektionsbedingungen, ohne zu wissen, was die nächste Generation brauchen könnte."

    Für den Biologen Axel Meyer gibt es zwar ein paar missverständliche Äußerungen Darwins. Aber im Grunde hat jeder, der von einer "perfekt angepassten Art" spricht, sein Werk nicht wirklich verstanden. Meyer:

    "Mir stellen sich immer die Nackenhaare hoch, wenn ich höre, ‚die Schwalbe, die perfekte Fliegerin’, oder ‚der Gepard, der perfekte Räuber’. Erstens gibt es Probleme damit, Perfektion oder Optimalität zu definieren. Ich weiß nicht, was ‚perfekt’ ist, ich weiß nur, was vielleicht besser funktioniert als etwas anderes, wo ich sage, ja, natürlich ist ein Gepard vielleicht effizienter als vielleicht homo sapiens, aber auch nur unter diesen restriktiv definierten Umweltbedingungen als kurzer Sprinter, er hat vielleicht nicht die Ausdauer wie ein Mensch in der Savanne sie vielleicht hätte."

    Im Rahmen der Evolutionstheorie gibt es keine ideal konstruierten Lebewesen, sondern nur solche, die an gegebene Umweltbedingungen besser als andere angepasst sind. Das liegt vor allem daran, dass es in der Evolution nichts Neues gibt, das nicht auf alten Fundamenten ruht. Meyer:

    "Die Evolution fängt ja nicht mit jeder Generation an wie ein Autokonstrukteur vor einem weißen Reißbrett und sagt "Wie baue ich mir ein neues Auto?" Die Evolution muss ja in jeder Generation einen funktionsfähigen, sich fortpflanzen könnenden Organismus bauen und ist deshalb in den allermeisten Fällen darauf angewiesen, mit relativ kleinen Veränderungen auszukommen. Wie gesagt, sie antizipiert die Zukunft nicht, und die entwicklungsbiologischen Interaktionen von Genen sind oft sehr alt und haben sich über 100 Millionen von Jahren etabliert, das ist natürlich auch ein Teil des Grundes, warum wir genetisch uns so ähnlich sind und warum 35 Prozent unserer Gene auch im Kohlrabi zu finden sind. Also: dass Gene über hunderte von Millionen Jahren in jeder Generation auf vielen evolutionären Linien oder vielleicht sogar allen evolutionären Linien vorhanden bleiben, weil die Evolution eben nicht von neuem anfangen kann, sondern basteln muss mit dem Rohmaterialien, die ihr von Generation zu Generation zur Verfügung stehen."

    Die genetischen und entwicklungsbiologischen Pläne, nach denen jeder einzelne Organismus gebaut wird, beruhen zum Teil auf lange bewährten Mustern. Diese verhindern oft sogar Veränderungen im Detail, die vorteilhaft wären. Meyer:

    "Dass wir zum Beispiel - oder wir und alle anderen Landwirbeltiere - höchstens fünf Finger haben können, ist eine Sache, die schon im Devon, also vor etwa 420 Millionen Jahren festgelegt wurde, dadurch dass es Fische gab, die das Land besiedelten, die zufälligerweise fünf Finger in den Vorder- oder Hinterextremitäten hatten. Dass also die Vogelflügel oder die Flügel von Fledermäusen aus höchstens fünf Fingern bestehen können und nicht aus mehr, was vielleicht aerodynamisch oder strukturell von der Stabilität her für den Flügel von Vorteil wäre, ist jetzt einfach nicht machbar. Das Rad der Evolution müsste um 450 Millionen Jahre zurückgedreht werden und da noch einmal neu aufgerollt werden. Dann hätten wir bei star wars vielleicht ein paar Kreaturen mit mehr als fünf Fingern."

    Manche Lebewesen haben sich daher über Millionen Jahre hinweg kaum verändert. Oder sie weisen einzelne Fähigkeiten auf, die wirklich alles andere als perfekt sind. Eckart Voland von der Universität Giessen:

    "Wir haben sehr viele Beispiele dafür in der Biologie, wie Merkmale ausgesprochen unintelligent sind. Schauen sie doch nur mal, wie unser Auge aufgebaut ist: Die Lichtrezeptoren sind vom Licht weg gewandt. Das ist ein Konstruktionsprinzip, was kein Ingenieur jemals erfunden hätte, der auf technische Perfektion aus ist. Aber die Evolution hat keinen anderen Weg gefunden, damit fertig zu werden. Es gibt viele andere Beispiele dafür, dass die Evolution nicht perfekt ist, aber gleichwohl ist sie effizient, das ist das Kriterium."

    Was funktioniert, muss nicht unbedingt weiter perfektioniert werden. Änderungen gibt es nur, wenn es ums Ganze geht. Oder, in den Worten des Wiener Biologen Franz Wuketits:

    "Das ist eigentlich auch der ganze Zauber der Evolution, sehr vereinfacht ausgedrückt: Es geht nicht um irgendwelche höhere Absichten oder Ziele, es geht nur um das Überleben."

    Wahrscheinlich, meint Axel Meyer, steckt hinter der Vorstellung, dass die Evolution sich perfektioniere, nur ein uraltes Wunschdenken: dass der Mensch das das höchste und wichtigste Lebewesen sei. Meyer:

    "Natürlich hat der Mensch jetzt einen riesigen Einfluss auf die Umwelt, natürlich ist das eine singuläre Geschichte, die keine andere Art hat. Auf der anderen Seite ist Evolution immer noch mit Bakterien beschäftigt. Wir leben in einem Zeitalter der Bakterien, nicht nur in Bezug auf die menschlichen Krankheiten, mit denen wir zu tun haben, auch die Biodiversität an Bakterien ist so viel größer als all die anderen Linien, die wir mit der Evolution assoziieren."

    Mit dem Schnabel des Spechts lässt sich zwar gut klopfen, er ist aber nicht planvoll gezüchtet worden. Die Körperform der Fische erlaubt es ihnen zwar, behände durchs Wasser zu gleiten, sie ist aber nicht das Produkt eines bewussten Konstrukteurs namens "Evolution". Sie sind nur aus einem Grund so wie sie sind: Weil bestimmte Tiere im Wasser und auf den Bäumen aufgrund zufälliger Variation einmal bestimmte Schnäbel und Körperformen ausbildeten, die sie besonders überlebensfähig machten.

    Wenn das aber so ist, beruht dann die ganze Evolution nicht auf blindem Zufall?

    Der Gedanke, die Evolution beruhe auf Zufall, ist immer wieder in die Debatte geworfen worden. Unter anderem von Philosophen, die Darwins Überlegungen wissenschaftstheoretisch untermauern wollten. Für den Biologiehistoriker Thomas Junker von der Universität Tübingen haben sie sich dabei aber nicht mit Ruhm bekleckert.

    "Also es ist wirklich erstaunlich, wie viele intelligente Philosophen bis heute Dinge erzählen wie‚ Darwins Theorie sei eine Zufallstheorie - in dieser verkürzten Form, was einfach ganz falsch ist."

    Diejenigen, die dem Zufall das Wort reden, berufen sich vor allem darauf, dass Mutationen in der Evolutionstheorie eine wichtige Rolle spielen. Demnach sind zufällige Genveränderungen dafür verantwortlich, dass sich die Nachkommen einer Art von ihren Vorfahren unterscheiden. Alle Veränderung in der Evolution, so die Schlussfolgerung, gehe daher auf solche zufälligen Mutationen zurück. Da sei zwar etwas dran, meint Thomas Junker, aber man dürfe es eben auch nicht verabsolutieren.

    "Unsere Voraussetzungen sind gewissermaßen zufällig, als diese Mutationen zufällig sind, also Erbänderungen sind zufällig. Das zweite Große, was zufällig ist, ist die Tatsache, wie Erbmaterial zusammengemischt wird in der Sexualität. Deshalb sind ja die Kinder der Eltern auch immer unterschiedlich, weil das quasi zusammengemischt wird. Und das dritte, was zufällig ist, ist auch, wo ein Lebewesen gerade sich befindet. Wenn Sie sich vorstellen, wo sich ein Baum gerade befindet, so ein Baum produziert Tausende, Hunderttausende von Samen und der eine fällt dann aber auf einen Stein und vertrocknet, obwohl der genetisch vielleicht besser wäre als der andere, der Glück hat und jetzt irgendwie in die Erde fällt. Also es gibt in diesen drei Beziehungen natürlich Zufälle. Es ist aber gleichzeitig eine Notwendigkeit, dass manche derer, die dann sozusagen das Glück haben, irgendwo hinzufallen, dass davon immer noch diejenigen, die dann noch eine bessere Mischung von Genen haben, dass die dann immer noch den anderen gegenüber überlegen sein werden."

    Die Tatsache, dass es keine vorgegebenen Ziele und keine Perfektion in der Evolution gibt, darf also nicht dazu verleiten, sie als reinen Zufallsprozess misszuverstehen. Zufall und Notwendigkeit schließen sich nicht gegenseitig aus. Junker:

    "Und aus dieser Mischung von Zufall und Notwendigkeit entsteht dann tatsächlich etwas, was nicht reiner Zufall ist, sondern wirkt, als wäre es speziell konstruiert, aber es entsteht aus diesem Vorgang von Zufall und Notwendigkeit - Zufall und Irrtum könnte man eigentlich sagen."

    Wildes Treiben im und um den Bienenstock. Sammelbienen fliegen aus, um Nektar von den Blüten der Umgebung zu holen. Arbeitsbienen sorgen dafür, dass im Stock alles in Ordnung ist und die Wabennester gut in Schuss sind. Pflegebienen kümmern sich um die Brut. Der Bienenstaat ist ein wohl organisiertes Ganzes, in dem jede einzelne Biene diszipliniert ihre Arbeit macht. Allen voran die Wächterbienen am Stockeingang. Entdecken sie Fressfeinde, stürzen sie sich sofort auf sie, stechen zu - und opfern damit ihr Leben für das Wohl des Ganzen.

    Immer wieder, beklagt Axel Meyer, höre er das geflügelte Wort, ein Tier verhalte und opfere sich zum Guten oder zum Wohle der Art. Damit wird unterstellt, dass die Art der hauptsächliche Träger der Evolution sei und die einzelnen Individuen nur die Aufgabe haben, deren Überleben zu sichern. Ein Missverständnis, glaubt Axel Meyer, das vor allem im deutschen Sprachraum verbreitet ist.

    "’Artgenossen’, das ist auch ein ganz interessanter Begriff, den es nur im Deutschen gibt - scheint ja auch vorzuschlagen, dass die einzelnen Individuen einer Art sich wie die Genossen einer Gewerkschaft zum gegenseitigen größeren Lohn oder wie auch immer zusammentun. Das tun sie aber nicht, denn die Individuen meiner Art sind meine größten Konkurrenten um Paarungspartner, um Nahrung, um Nistplätze! Die Individuen, mit denen ich die größten Konflikte habe, sind meine Artgenossen, denn sie haben die größte Ähnlichkeit zu mir, die größte Ähnlichkeit in Bezug auf ökologische Ansprüche."

    Bis heute streiten Biologen darum, was eigentlich wissenschaftlich unter einer "Art" zu verstehen ist. Eine häufig verwendete Definition besagt: Zu einer Art gehören alle Lebewesen, die sich unter natürlichen Bedingungen untereinander fortpflanzen können. Damit aber hängt das Schicksal von Arten stark davon ab, wie erfolgreich die einzelnen Lebewesen sind, wenn sie sich reproduzieren wollen. Und die haben eben vor allem ihr eigenes Wohl im Auge und nicht unbedingt das der ganzen Art. Arten sterben also nur in einem besonderen Fall aus: Wenn sich ihre Individuen allesamt nicht mehr in der Umwelt durchsetzen können. Axel Meyer:

    "Natürlich sterben ganze Arten auch aus, aber das ist natürlich ein oft gradueller Prozess, der dadurch zustande kommt, dass einzelnen Individuen sich nicht mehr fortpflanzen oder weniger fortpflanzen. Der Effekt ist natürlich, dass Arten aussterben, aber die Selektion setzt stärker am Individuum an, weniger stark an der Gruppe und noch weniger stark und langsamer und indirekter auf dem Level der Art."

    Diese abwägende Formulierung macht aber auch deutlich, dass es hier nicht nur um Missverständnisse geht. Vielmehr können die Biologen prinzipiell nicht eindeutig sagen, auf welcher Ebene die Evolution ansetzt: auf der Ebene der Art, der Gruppe, des Individuums oder gar der Gene? Eckart Voland aus Gießen gehört zu denen, die zur radikalsten Antwort auf diese Frage neigen.

    "Darwin selbst war in diesem Punkt nicht explizit. Er hat sich sogar mehrfach widersprochen, weil er mit dem Wissen seiner Zeit die Mechanismen der Vererbung nicht verstehen konnte. Und es hat lange gedauert, bis die Frage inzwischen, denke ich doch, so gelöst worden ist, dass die allermeisten Biologen einen Konsens gefunden haben, der so aussieht, dass die Evolution in der Tat ein genzentriertes Prinzip ist. Deswegen spricht man ja auch vom Slogan des "egoistischen Gens", also nur die Gene haben in der Evolution eine Chance, die ihre eigene Replikation bewerkstelligen und nicht etwa die Replikation anderer Gene."

    Gene streben gemäß der Theorie vom egoistischen Gen nur nach einem: sich selbst zu replizieren, also zu vervielfältigen. Dabei versuchen sie, sich gegen konkurrierende Gene durchzusetzen und treiben damit die Evolution voran. Alle Entwicklung beruht demnach darauf, dass Gene sich in immer neuen Organismen fortpflanzen und dadurch ihre speziellen Merkmale in der Natur durchsetzen: bestimmte Körperformen, Haarfarben, Krankheiten, geistige Fähigkeiten oder aggressives Verhalten. Eine rigorose und folgenreiche Theorie, meint Eckard Voland.

    "Diese Sichtweise hat eine Konsequenz im Schlepptau, die noch nicht wirklich verstanden ist, von weiten Teilen der Bevölkerung und auch von weiten Teilen der Biologen. Es bedeutet nämlich zum Beispiel auch, den Artbegriff aufgeben zu müssen."

    Arten sind demnach nur ein Zufallsprodukt genetischer Strategien. Sie sind nur das Vehikel, die oberflächliche Erscheinung dessen, was Gene tun. Voland:

    "Wir haben es zu tun eben in den Individuen mit genetischen Clustern, die per Zufall ihrer Sortierung, als Zufallsselektion als Akteure des Lebens eine Rolle spielen. Die Brisanz dieser Idee besteht darin, dass wenn der Artbegriff aufgegeben wird, natürlich auch aufgegeben werden muss die Idee des Artenschutzes und so weiter. Wir wollen das jetzt nicht ausdiskutieren, das Problem, aber da ist noch sehr viel Feuer zu erwarten an der Front."

    Es ist also vielleicht ein Missverständnis, das "Wohl der Art" als oberstes Prinzip der Evolutionstheorie aufzufassen – andererseits wäre es absurd, auf den Artbegriff völlig zu verzichten. Und die Behauptung, die Gene seien der Träger aller Evolution, ist eben auch nicht völlig unumstritten. Axel Meyer:

    "Gene haben Schwierigkeiten ohne Körper zu leben, auf der anderen Seite haben Gene besondere Strategien, sich innerhalb eines Genoms besonders stark zu verbreiten: Das ist eine interessante Frage und ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich selber nicht sicher bin, auf welcher Seite des Arguments ich mich besonders stark machen will."

    Aufgrund dieser unklaren Situation plädieren Wissenschaftler wie Franz Wuketits von der Universität Wien dafür, sich verschiedene Optionen offen zu halten.

    "Ich glaube, dass man da auch einen eher ganzheitlichen oder holistischen Aspekt oder eine holistische Perspektive annehmen muss und sagen kann, dass die Selektion durchaus auf unterschiedlichen Organisationsebenen ansetzen kann, also nicht ausschließlich an den Genen, sondern dass es unterschiedliche Komplexitätsebenen gibt, auf denen die Selektion jeweils ansetzen beziehungsweise dann zur Wirkung kommen kann."

    Angreifen, zuschlagen, schneller sein als der Andere. Täuschen, den anderen in Sicherheit wiegen und dann blitzartig kontern. Warum begeistern Kampfsportarten wie das Boxen die Massen so sehr? Vielleicht weil sie darin ein Symbol des Lebens sehen, das auf Kampf und Überlegenheit gegenüber den Konkurrenten beruht. Die Sozialdarwinisten proklamierten, dass das ganze soziale Leben nur auf Kampf und Ausmerzung beruht. Und sie versuchten, diese Idee direkt aus der Evolutionstheorie abzuleiten. Auf Darwins Formeln vom "Kampf ums Dasein" und vom "Überleben der Tauglichsten" haben sich bekanntlich sogar die Nationalsozialisten berufen. Und tatsächlich lassen sich in Darwins Schriften befremdliche Stellen finden, etwa in "Die Abstammung des Menschen" von 1871:

    Wie jedes andere Tier ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Zustand durch einen Kampf um die Existenz in Folge seiner rapiden Vervielfältigung gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten will, so muss er einem heftigen Kampf ausgesetzt bleiben…Es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder Gebräuche daran gehindert werden, den größten Erfolg zu haben.

    Solche Textstellen scheinen tatsächlich dem bedingungslosen Kampf ums Überleben das Wort zu reden und sozialdarwinistischen Interpretationen Vorschub zu leisten. Franz Wuketits von der Universität Wien hält das jedoch für eine eklatante Fehldeutung der Evolutionstheorie, vor der selbst Biologiestundenten nicht gefeit sind.

    "Gelegentlich ärgere ich mich sehr, wenn ich hören muss, auch bei studentischen Prüfungsarbeiten lesen muss, Darwin sprach vom ‚Überleben des Stärksten’. Das ist ein kompletter Schwachsinn! Wer sind die ‚Tauglichsten’? Die Tauglichsten sind die, die über ganz bestimmte Strukturen oder Einrichtungen verfügen, die sie dann den übrigen Artgenossen gegenüber relativ vorteilhafter machen. Das heißt, überleben wird nicht unbedingt der Stärkste, es kann hier Darwins Formel vom Überleben des Tauglichsten etwa auch übersetzt werden als ‚Überleben der Feiglinge’. Es überlebt der, der rascher davonlaufen kann vor einer Gefahr. Dass ist auch der Tauglichste unter den gegebenen Umständen."

    Franz Wuketits meint, man dürfe einzelne Zitate Darwins, die dem Zeitgeist geschuldet sind, nicht mit dem wahren Kern seiner Gedanken verwechseln. Und der spreche genau so ein klare Sprache wie Darwins Leben, in dem er sich zum Beispiel immer wieder gegen die Abwertung anderer Rassen ausgesprochen hat. Wuketits:

    "Also ich würde natürlich dringend empfehlen, Darwin zu lesen und Darwin genau zu lesen. Da wird man auch sehen, dass er kein Sozialdarwinist war, nicht nur in seinen Evolutionstheorien nicht, auch im persönlichen Leben war er kein Sozialdarwinist, sondern ganz im Gegenteil. Und hier im Klartext: der so genante ‚Kampf ums Dasein’ wurde von Darwin nicht ausdrücklich und nicht ausschließlich als Kampf im buchstäblichen Sinne verstanden, sondern als Wettbewerb. Er schreibt ja in seinem Werk über die Entstehung der Arten:– jetzt in meiner Version gesagt: Man hat ja doch noch nie zwei Lindenbäume miteinander kämpfen gesehen. Aber trotzdem stehen sie im Wettbewerb zueinander, weil der eine Lindenbaum vielleicht längere Wurzeln hat und dem zweiten Feuchtigkeit entzieht, sodass der zweite auf der Strecke bleibt. Also Wettbewerb ist allgegenwärtig, aber nicht unbedingt als Kampf. Und das ist eines der fundamentalen Missverständnisse."

    Auch Axel Meyer aus Konstanz wendet sich entschieden dagegen, Darwins "Kampf ums Dasein" wortwörtlich als brutalen Kampf um das Recht des Stärkeren zu deuten. Denn der dauerhafte Selektionserfolg eines Lebewesen misst sich letztlich allein an seiner Fortpflanzungsleistung. Meyer:

    "Das ist ja nicht so, dass das den Tod bedeutet, das bedeutet eben nur, dass ich 1,8 Kinder habe und meine Nachbar 1,2, über die Generationen gerechnet. Es ist nicht so, dass man sich Selektion immer als mit Tod verbundenes Blutiges oder Brutales vorstellen muss, sondern es ist eigentlich ein relativer Unterschied in der Anzahl der Nachkommen. Und das ist etwas, ja, in gewisser Weise sehr langsames oder friedliches, ja schleichendes irgendwo. Natürlich manifestiert sich Selektion auch darin, dass ich besonders effizient schwimme oder ein besonders großes Territorium verteidigen kann oder ein besonders großes Geweih habe, wie auch immer, das sind natürlich alles Merkmale, die von der Selektion bevorzugt werden, weil sie darauf hinauslaufen, dass ich mehr Weibchen habe oder dass ich mehr Nachkommen zeugen kann. Aber das muss, wie gesagt, nicht immer blutig sein und es gibt ja auch bei vielen Tieren ritualisierte Kämpfe um den Zugang zu Paarungspartnern."

    Hirsche und andere Tiere schätzen in ritualisierten Kämpfen ihre Kräfte untereinander ab, um dann dementsprechend ihre Reviere zu verteilen, ohne tödliche Gewalt anzuwenden. Andererseits setzen sie ihre Kraft natürlich dann entschieden ein, wenn sie körperlich überlegen sind oder wenn es um eine große Beute geht. Heißt das nicht doch: Das Grundprinzip des Lebens ist Kampf, es geht nur darum, ihn auch beim Menschen möglichst effizient zu gestalten? Nein, meint Eckart Voland von der Universität Giessen. Denn die Tatsache, dass es in der Natur zunächst einmal ums Überleben geht, muss ja nicht heißen, dass der Mensch sein ganzes soziales Leben danach ausrichtet. Voland:

    "Es gibt überhaupt gar keinen logischen Grund, vom Sein der Natur auf das Sollen einer menschlichen Gesellschaft zu schließen. Man nennt das in der Philosophie den naturalistischen Fehlschluss und die Sozialdarwinisten tun genau das."

    Was ist, muss nach ethischen Kriterien nicht das Beste sein, jedenfalls nicht für den Menschen, der sich durch Geist und moralisches Bewusstsein auszeichnet. Außerdem spielen nach Franz Wuketits erwiesenermaßen auch Kooperation und gegenseitige Hilfe in der Evolution eine entscheidende Rolle. Wuketits:

    "Wenn wir uns vergegenwärtigen zwei Gruppen des prähistorischen Menschen. In der einen Gruppe haben die 20 oder 25 Individuen untereinander kooperiert oder untereinander geholfen, in der anderen Gruppe haben sie nichts anderes gemacht, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen: Frage: Welche dieser beiden Gruppen war lebensfähig? Natürlich die erste. Also wenn man hier den Begriff der Gruppenselektion strapazieren möchte, dann hat die Evolution natürlich nur solche Gruppen als Ganzes gefördert, die über bestimmte Mechanismen des Gruppenzusammenhalts, Kooperation, gegenseitige Hilfe und so weiter verfügt haben."

    Ein Leben lang hat sich Charles Darwin mit den Gesetzen der Natur befasst und sie wissenschaftlich zu begreifen versucht. Kultur spielte dabei kaum eine Rolle. Gegen Ende seines Lebens jedoch notiert er in seinem Tagebuch:

    Mein Geist scheint eine Art Maschine geworden zu sein, die dazu dient, allgemeine Gesetze aus großen Sammlungen von Tatsachen heraus zu mahlen...Und wenn ich mein Leben noch einmal zu leben hätte, so würde ich mir zur Regel machen, wenigstens alle Wochen einmal etwas Poetisches zu lesen und etwas Musik zu hören.

    Kultur und Natur werden oft als große Gegenspieler, ja als Gegensätze behandelt. Auch Darwins Denken wird häufig in diesen Gegensatz eingereiht. Aber auch das, meint Eckart Voland, sei eines der Missverständnisse der Evolutionstheorie, die zwar unausrottbar scheinen, aber deshalb nicht wahrer werden. Voland:
    "Das ist ein Missverständnis, das sehr unterschwellig prävalent ist, ich beobachte das sehr häufig, auch unter den Studierenden. Übrigens kommt das immer wieder sehr leicht hoch. Man meint, die Evolution ist zuständig für die animalischen Seiten des Menschen, darunter werden verstanden seine Aggressivität, seine Triebhaftigkeit, all das, was man im Grunde genommen als ‚nicht zivilisiert’ bezeichnet. Das Animalische kommt raus im Kontext der Sexualität, der Nahrungsaufnahme, des Hedonismus, all diese Dinge. Aber die wirklich hohen Kulturgüter, die Moral, die Zivilisation, die Kunst, die Philosophie, die Wissenschaft muss erst mühsam der Evolution abgerungen werden, ist nur durchzusetzen gegen das Tier in uns. Und das ist ein Missverständnis, das in der Tat extrem hartnäckig ist."

    Denn Ideen oder moralische Regeln sind zwar nicht mit Trieben oder Aggressionen zu verwechseln, fallen aber deswegen keineswegs aus dem Rahmen der Evolution heraus. Daher, so Eckard Voland, ist auch alles Geistige nur als Teil einer einheitlichen Natur zu begreifen. Voland:

    "Und das, was als Kulturleistung verstanden werden kann - von der Moral über die Bewusstseinsphilosophie bis zu all dem, was die Gesellschaft auszeichnet - fügt sich natürlich in die große evolutionäre Welterzählung. Und das, was wir am Menschen schätzen: Seine Milde, seine Barmherzigkeit, seine Fürsorge, seine Solidarität, seine Moral, ist genauso Ausfluss des evolutionären Prinzips wie seine Fähigkeit zu dem, was wir nicht schätzen: seine Aggressivität mit all dem, was daran hängt. Es sind verschiedene Seiten derselben Medaille."

    So beschrieb es auch Darwin.

    Der Verlust der Empfänglichkeit für derartige Sachen ist ein Verlust an Glück und dürfte möglicherweise nachteilig für den Intellekt, noch wahrscheinlicher für den moralischen Charakter sein, da er den gemüthaft erregbaren Teil unserer Natur schwächt.