Samstag, 20. April 2024

Archiv


Mit Aussicht auf Erfolg

Zerrissener und hilfloser als im Sommer 2005 hat sich die Europäische Union selten gezeigt. In den Monaten nach dem Scheitern der Europäischen Verfassung begann hinter den Kulissen die Suche nach einem Weg aus der Krise: Die Zwangsverordnete Denkpause währte fast zwei Jahre.

Von Volker Finthammer und Doris Simon | 18.10.2007
    " Meine Europabegeisterung hat heute einen tiefen Knacks erlebt. "

    Es war ein zutiefst deprimierter luxemburgischer Premier, der da im Sommer 2005 vor die Presse trat: Als Ratspräsident der EU musste Jean-Claude Juncker das Scheitern der Europäischen Verfassung verkünden - nach den negativen Referenden in den Niederlanden und in Frankreich blieb ihm keine andere Wahl. Mit diesem doppelten Nein schien nicht nur die jahrelange Arbeit von Politikern und Experten zunichte gemacht. Sinnkrise und Handlungsunfähigkeit drohten, schließlich sollte die Europäische Verfassung der EU klarere Strukturen geben und sie auch in der erweiterten Form handlungsfähig machen.

    Zerrissener und hilfloser als in diesem Sommer 2005 hat sich die Europäische Union selten gezeigt. In den Monaten danach begann hinter den Kulissen die Suche nach einem Weg aus der Krise: Die zwangsverordnete Denkpause währte fast zwei Jahre. Es sollte den Deutschen zufallen, während ihrer Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 die Zustimmung aller nunmehr 27 Regierungen für einen neuen Reformvertrag zu erreichen, wobei lange ungewiss blieb, wie dieser Reformvertrag überhaupt aussehen könnte.

    Nicolas Sarkozy, zu jener Zeit noch Anwärter auf das französische Präsidentenamt, brachte einen Minivertrag ins Spiel, der nur noch Kernelemente der Verfassung enthalten sollte. Dabei hatten 18 Mitgliedsstaaten den Vertrag bereits ratifiziert. Doch mehr Sorgen als das Nein der Franzosen und der Niederländer bereiten zu Anfang dieses Jahres die Widerstände Großbritanniens und des neuen EU-Mitgliedslandes Polen. Großbritannien, von jeher stärker an einer wirtschaftlichen denn einer politischen Integration interessiert, hatte frühzeitig deutlich gemacht, einem neuen Vertrag nur dann zuzustimmen, wenn dieser ohne Auswirkungen auf die britische Innenpolitik bleibt:

    " I will agree to nothing that allows Europe to alter our laws without a consent of this house, "

    erklärte Premierminister Tony Blair. Warschau aber wollte alle weiteren Verhandlungen scheitern lassen, wenn das Land bei der künftigen Stimmgewichtung nicht ein größeres Gewicht bekommen würde. Da wurde mit harten Bandagen gekämpft und selbst die Kriegsschuldfrage mehrfach ins Spiel gebracht. Auch vom deutschen Nachkriegsimperialismus war sogar die Rede. Der Tonfall vor dem Junigipfel erinnerte eher an vergangene Zeiten, als ein Europa, das vom Einigungswillen geprägt ist.

    " Wir fahren nach Brüssel, um dort für unsere Interessen zu kämpfen. Wir sind nicht ohne Chance, obwohl die Situation sehr schwierig ist. Wir sind bereit, einen Teil des Preises für eine Einigung zu zahlen, aber wir wollen nicht degradiert werden. "

    Nur mit größter Anstrengung gelang es Bundeskanzlerin Angela Merkel, die widerstrebenden Polen in einen Kompromiss einzubinden.

    " Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es gut ist für die gesamte europäische Union, für alle neuen Mitgliedsstaaten und für Polen, dass wir das schlussendlich geschafft haben. "

    Warschau hatte erreicht, dass das System der doppelten Mehrheit frühestens im Jahr 2014 in Kraft treten wird und bis dahin noch nach der alten, für Polen vorteilhafteren Stimmgewichtung abgestimmt wird. Und für Großbritannien bleibt die Charta der Menschenrechte nicht mehr als eine unverbindliche Loseblattsammlung ohne rechtsverbindliche Wirkung. Außerdem erhalten die Briten über so genannte Opt-Outs die Möglichkeit, bei allen rechts- und innenpolitischen Fragen der Gemeinschaft außen vor zu bleiben.

    Ansonsten aber sollte die Regierungskonferenz unter portugiesischer Ratspräsidentschaft all das in einen Änderungsvertrag zusammenbinden, was noch übrig geblieben war. Ach ja. Gestrichen hatten die Staats- und Regierungschefs im Juni auch alles, was mit europäischer Symbolik zu tun hat. Die Hymne, Beethovens Ode an die Freude, die Flagge, die zwölf gelben Sterne auf blauem Grund sollen verschwinden und auch der künftige Außenminister soll nicht mehr so heißen dürfen.

    " Wir wollten den vereinfachten Vertrag, jetzt haben wir ihn. Wir wollten raus aus der Blockade, das haben wir geschafft. Schließlich wollten wir die Union grundsätzlich neu ausrichten und auch das ist möglich. "

    Gab sich der französische Präsident Sarkozy zuversichtlich. Und tatsächlich. In nur drei Monaten gelang es den Experten der Regierungskonferenz das auf dem Junigipfel beschlossene Mandat konkret auszuarbeiten. Auf 250 Seiten wird ausführlich dargelegt, wie die bestehenden europäischen Verträge abgeändert und ergänzt werden sollen.

    Doch noch während des Juni-Gipfels taten manche Regierungschefs so, als seien nicht eins, sondern mindestens zwei Mandate verabschiedet worden: Während die Mehrheit unter Führung der Ratspräsidentin Merkel betonte, die Substanz der gescheiterten Verfassung werde komplett in den neuen Vertrag übernommen, behaupteten unter anderen Briten und Niederländer, dieser Reformvertrag habe mit der Verfassung rein gar nichts zu tun. Da sei es kein Zufall, dass der neue Vertrag rein rechtlich ein Abänderungsvertrag bestehender europäischer Verträge ist, meint Daniel Gros, der Leiter des Center for European Policy Studies:

    " Vielleicht haben sich die Staats- und Regierungschefs gesagt:. Es gibt weniger Widerstand... im Grunde genommen identisch mit Verfassung. "

    Diese Meinung teilt auch der Vorsitzende des EU-Verfassungskonventes, der frühere französische Staatspräsident Giscard d'Estaing:

    " Die Substanz des ersten Teils des Verfassungsprojektes, mit dem ich zu tun hatte, ist komplett erhalten. Der Umschlag hat sich geändert, aber der Brief im Inneren ist derselbe geblieben. "

    Doch viele Europaabgeordnete sind anderer Ansicht: Sie meinen, dass über die hässliche Verpackung hinaus der neue Reformvertrag entscheidende Aspekte der Verfassung nicht übernimmt. Symbolträchtige Bestandteile wie die Grundrechtecharta sind aus der Präambel verschwunden, nur verschämt wird in einem Verweis festgehalten, dass sie so rechtsverbindlich ist wie die Verträge.

    " Wir haben die Maschine bekommen, die in der Verfassung entworfen wurde...aber ohne jeden Glanz, "

    meint Johannes Voggenhuber, grüner Europaabgeordneter aus Österreich ebenso wie sein deutscher Kollege Jo Leinen von der SPD

    " Die Verfassung hatte den Anspruch, Europa der Bürgerinnen und Bürger zu schaffen und eine politische Union aufzubauen. Jetzt haben wir einen Reformvertrag, der technokratisch und juristisch einige Änderungen bringt an bestehenden Verträgen, das ist wohl ein Schritt nach vorne, aber es ist nicht der große Wurf. "

    Doch vieles aus der gescheiterten Verfassung findet sich im Reformvertrag wieder: etwa die Entscheidung mit doppelter Mehrheit. Im Rat, also unter Ministern und Regierungschefs, werden Beschlüsse von 2014 an in der Regel mit der so genannten doppelten Mehrheit entschieden: 55 Prozent der Mitgliedsstaaten müssen dafür sein, sie müssen mindestens 65 Prozent der EU-Bürger repräsentieren. Daniel Gros vom Center for European Policy Studies:

    " Bisher war es in der Regel Einstimmigkeit, Ausnahme Mehrheit. Das wird umgedreht. Wieviel das in der Praxis bringen wird, wird sich zeigen müssen. Denn bisher wird im Rat, wenn möglich, vermieden abzustimmen. Meistens versucht man doch immer, einen Konsens herbeizuführen. Aber es ist natürlich leichter einen Konsens herbeizuführen, wenn jeder weiß, im Notfall kann er auch überstimmt werden. "

    Wie in der Verfassung vorgesehen, erhebt auch der Reformvertrag den Europäischen Rat, also die Runde der EU-Staats- und Regierungschefs, zum Organ der Union, dessen Präsident nicht mehr alle halbe Jahre wechselt, sondern auf zweieinhalb Jahre gewählt wird. Damit soll für größere Kontinuität in der europäischen Politik gesorgt werden, die Ziele sollen energischer verfolgt werden als bisher unter den wechselnden Präsidentschaften mit eigener nationaler Agenda. Die Europäische Kommission wird von 27 Kommissaren auf 18 verkleinert. Der Kommissionspräsident erhält darüber hinaus einen neuen Vize: Europäischer Außenminister hieß er noch in der Verfassung, jetzt darf man ihn zumindest offiziell nicht mehr so nennen, erläutert der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen:

    " Der darf sich nicht mehr europäischer Außenminister nennen, sondern nur hoher Repräsentant, aber er bekommt neue Zuständigkeiten. Ich glaube, Europa wird in Zukunft öfter mit einer Stimme sprechen. "

    Dabei hilft, dass der künftige Hohe Repräsentant oder Vertreter dem Rat der nationalen Außenminister vorsitzt, darüber hinaus Vizepräsident der Europäischen Kommission ist und damit einen Beamtenapparat bekommt, der für ihn arbeitet. Damit soll die EU-Außenpolitik eine Stimme, ein Gesicht und eine Telefonnummer bekommen - anders als bisher, wo neben Javier Solana auch EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner die EU-Außenpolitik vertritt. Richtig besetzt, wird dieser Posten großes Gewicht haben - und das könnte durchaus für Schwierigkeiten sorgen, prophezeit Daniel Gros vom Center for European Policy Studies :

    " Es gibt den Hohen Vertreter der Union, es wird den Ratspräsidenten geben, es wird den Kommissionspräsidenten geben, man wird erstmal sehen müssen, wie diese drei Persönlichkeiten und Institutionen zusammenarbeiten können. Es wird sicher Schwierigkeiten geben, dieser Vertrag ist sicher nicht der letzte Entwurf. "

    Bis auf wenige Abstriche übernimmt der Reformvertrag weiter die in der Verfassung vorgesehenen Veränderungen in der europäischen Innen- und Justizpolitik. Die Zusammenarbeit der Ministerien, aber auch zwischen Polizei und Justiz in den Mitgliedsstaaten soll damit verbessert werden.

    Im neuen Textentwurf findet sich auch der Ursprung des gesamten Reformprozesses wieder: Deutschland hatte zu Beginn des neuen Jahrtausends darauf gedrängt, die Zuständigkeiten der Europäischen Union genau festzuschreiben. Europa sollte nur das tun, wofür es besser geeignet ist als alle anderen politischen Ebenen. Mit den so genannten Kompetenzkatalogen und der Stärkung der nationalen Parlamente im neuen Vertrag hat sich die Bundesregierung weitgehend durchgesetzt. Der Bundestag und die 26 übrigen nationalen Parlamente können schon im Vorfeld stärker mitreden oder bremsen als bisher - ihre Verantwortung ist gewachsen, aber die Ausrede, dass Brüssel allein an etwas schuld ist, gilt immer weniger. Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok :

    " Wir werden mehr im Sinne der Bürger entscheiden können - mehr Kompetenzabgrenzung, auch damit wir hier nicht zuviel Zentralismus machen, mit Kontrollmöglichkeiten der nationalen Parlamente. Es wird die Möglichkeit des Bürgerbegehrens geben, auch mehr Transparenz in den Gremien, offen tagen, auch im Ministerrat. Da müssen wir Bürger überzeugen, das gelingt nicht durch Verträge, sondern bessere Politik - der Vertrag aber gibt uns die Instrumente dafür. "

    Diese Instrumente werden mit dem Reformvertrag auch breiter gestreut als bisher: Nicht mehr nur die im Rat vertretenen 27 Regierungen profitieren davon, auch die Europäische Kommission wird künftig von einem gestärkten Kommissionspräsidenten geleitet, und das Parlament wird mit Inkrafttreten des Reformvertrages zum gleichberechtigten Gesetzgeber neben dem Rat. Zudem wählt es künftig den Präsidenten der Kommission - bisher handelten die Mitgliedsstaaten die Besetzung des Postens unter sich aus.

    Viel Diskussion gab es um die Ausnahmeregelungen für einzelne Länder, ohne die der Reformvertrag nicht zustande gekommen wäre. Doch diese opt-outs schadeten dem Rest der Union nicht wirklich, glaubt der Politikwissenschaftler Daniel Gros: Die Konsequenzen für die betroffenen Länder seien viel größer:

    " Wenn Großbritannien also sich auf dieser Ebene wirklich länger ausschließen möchte und gleichzeitig außerhalb des Euro bleibt. Auf die Länge der Frist könnte es dazu führen, dass wir einen Block innerhalb der Europäischen Union haben, wo auf dem Kontinent 25 geschlossen auftreten, und wir zugleich diese Insel haben, Großbritannien und vielleicht Irland, die eine andere Politik verfolgen möchte. Das könnte zu einem Problem führen, eher für Großbritannien, im Verhältnis Festland - Insel, als für die Union selbst. "

    Die Zeit der großen Würfe und Entwürfe ist in Europa erstmal vorbei. Bei allen Reformen wird man sich in Zukunft wohl eher wieder an Jean Monnet orientieren und seinem Hinweis, Europa komme nicht mit einem Knall, sondern nur Schritt für Schritt.

    " Die EU ist, wie Walter Hallstein mal gesagt hat, eine fortlaufende Schöpfung. Das, was wir jetzt machen, ist ein Konsens in einer historischen Sekunde. Aber wir werden dabei feststellen, dass wir in bestimmten Bereichen immer noch nicht gut ausgestellt sind, besser aufgestellt, aber nicht ausreichend aufgestellt sind, "

    sagt Elmar Brok. Doch bis dahin, so der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, müssen noch einige Millimeter gegangen werden. Erneut ist es eine Forderung der polnischen Regierung, die den Mitgliedsstaaten ein weiteres Aufeinanderzugehen abverlangt. Nach wie vor getrieben von der Angst, als mittelgroßer Staat im Konzert der 27 und da besonders im Zusammenspiel der großen Mitgliedsländern auf der Strecke zu bleiben, fordert die polnische Regierung ein Verfahren ein, das den Schutz von Minderheitsmeinungen garantieren soll.

    Einen entsprechenden Mechanismus hat die EU bereits 1994 als Kompromiss von Joaninna festgehalten. Danach können EU-Staaten mit einer klar definierten qualifizierten Minderheit, die jedoch unterhalb der Sperrminorität liegt, und die, die mit einer absehbaren Ratsentscheidung nicht einverstanden sind verlangen, dass weiter nach einem Kompromiss gesucht wird. Während Polen dieses Verfahren gerne in das Protokoll und damit als rechtswirksamen Bestandteil der Verträge aufgenommen wissen will, plädiert die Mehrheit der Mitgliedsländer dafür, es bei einer Erklärung zu belassen, weil die Erfahrung zeige, dass man sich bislang bei allen Fragen um einen Kompromiss im Interesse aller bemüht habe.

    " Diese Joaninna-Klausel darf nicht in den Vertrag rein. Das war ein Gentleman's Agreement für den Notfall, und das darf nicht zum Regelfall werden. "

    Sagt der Europaparlamentarier Jo Leinen. Doch mit diesem Argument will sich die polnische Regierung nicht zufrieden geben.

    " in Kompromiss in der Sache müsste aus meiner Sicht möglich sein. "

    Sagt Außenminister Frank Walter Steinmeier. Und so sieht es wieder einmal nach einem europäischen Kompromiss aus, der da im Raume steht. Die Formel könnte in die Protokolle aufgenommen werden, allerdings mit dem Vermerk, dass sie über einen Ratsbeschluss zum späteren Zeitpunkt wieder herausgenommen werden kann. Dies käme einer zeitlich befristeten Wirkung gleich. Denn faktisch können auf einer Regierungskonferenz beschlossene Verträge wie der jetzige Reformvertrag nur von einer Regierungskonferenz wieder geändert werden. Mit dem Vermerk aber bekäme der europäische Rat die Möglichkeit, die Klausel vorzeitig aufzuheben. Luxemburgs Premierminister Jean Claude Juncker verweist auf den Haken der Geschichte. Die Einbindung der Joaninna-Klausel könnte bedeuten, dass man den Zwang zu einstimmigen Beschlüssen, den man eigentlich überwinden wollte, so durch die Hintertür wieder einführt.

    Und noch ein Kompromissangebot gibt es in diesem Zusammenhang. Polen könnte einen ständigen Generalstaatsanwalt beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg bekommen, wenn man die Zahl der Anwälte von derzeit acht auf zwölf erhöhen würde. Bislang haben in Luxemburg nur Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien Anspruch auf einen ständigen Generalstaatsanwalt. Die verbleibenden drei Posten rotieren zwischen den übrigen Staaten. Diese Entscheidung liegt aber nicht allein in der Hand des europäischen Rates, sagt Elmar Brok:

    " Es muss da auch eine Zusammenspiel von europäischen Rat und Gerichtshof geben und ich hoffe, dass sich der Gerichtshof dann so einer vernünftigen Lösung nicht entgegenstellen wird. "

    Diese Frage kann man guten Gewissens als das verbleibende Kernproblem dieses Gipfels bezeichnen. Daneben gibt es noch einige weitere Fragen, die aber allesamt nicht zwingend in einem direkten Zusammenhang mit der Verabschiedung des Reformvertrages stehen.

    Italien etwa moniert, dass es künftig im Europäischen Parlament erstmals weniger Abgeordnete als Frankreich und Großbritannien haben soll. So sieht es die vom Europäischen Parlament bereits in der vergangenen Woche beschlossene neue Sitzverteilung vor. Mit den nächsten Wahlen im Jahr 2009 soll die Zahl der Sitze von derzeit 785 auf 750 sinken. Gleichzeitig sollen die realen Bevölkerungszahlen stärker zueinander ins Gewicht gesetzt werden, als dies bislang der Fall war. Das führt dazu, dass Italien, das heute noch wie Frankreich und Großbritannien 78 Mandate innehat, künftig nur noch 72 bekommen soll. Damit fühlt sich Italien jedoch als Gründungsmitglied der EU gegenüber Großbritannien mit künftig 73 und Frankreich mit 74 Sitzen benachteiligt.

    " Ich denke, das Problem Italiens ist ein wirklich ernsthaftes. Und es könnte auch ein großes Gewicht im Blick auf eine Einigung in der Regierungskonferenz bekommen. "

    Sagt der liberale Europaabgeordnete Andrew Duff. Auf dem Juni-Gipfel hatten die Staats und Regierungschefs festgehalten, dass das Europaparlament im Oktober einen Entwurf für eine Lösung vorlegen sollte, damit die neue Sitzverteilung frühzeitig vor den Wahlen abgeschlossen werden kann. Sicher ist, bis zur Unterzeichnung des Reformvertrages müsste man sich auf eine Lösung verständigt haben. Das aber könnte schwierig werden, sagt Elmar Brok, denn:

    " Dieser Beschluss könnte nur aufgelöst werden, wenn alle Mitgliedsländer mit solch einer Auflösung einverstanden wären. Was ich nicht sehe. Weil es hier wiederum andere Interessen anderer Staaten gibt. Und aus diesem Grunde sind wir nicht gegenwärtig in der Lage, das Probleme über diesen Weg der Verzögerung zu lösen. "

    Anders gesagt, die EU Parlamentarier drängen darauf, dass es zu keinen Änderungen kommt, weil auch andere Länder, wie etwa Polen über der künftig geringere Zahl der Mandate nicht glücklich sind. Da kommt den EU-Parlamentariern die jüngste Aussage des italienischen Regierungschefs Romano Prodi zugute, der den Reformvertrag an dieser Frage nicht scheitern lassen will.

    Aufgesprungen auf den Zug derjenigen, die auf dem Gipfel noch Nachbesserungen einfordern, sind auch die Bulgaren und die Österreicher mit Einwänden in letzter Minute, die mit dem Reformvertrag nicht direkt etwas zu tun haben: Die Bulgaren wollen ihre spezielle Schreibweise des Wortes "Euro" für alle Zeiten akzeptiert wissen. Und drohen sogar mit einer Blockade des Reformvertrags. Bulgarien verwendet als einziger EU-Staat die kyrillische Schrift und buchstabiert den Euro übersetzt in lateinischer Schrift als "Evro". Die Europäische Zentralbank sieht darin eine Verletzung des Markennamens Euro. Bulgarien wünscht nun, dass in die kyrillische Fassung des Reformvertrags wie auch sämtlicher sonstigen EU-Dokumente seine Version eingeht und kann in dieser Frage auf die Unterstützung des deutschen Außenministers zählen.

    Die österreichische Regierung wollte zumindest zur Sprache bringen, dass es weiterhin den Zugang deutscher Studenten an österreichischen Hochschulen begrenzen will. Gegen eine entsprechende Regelung hat die EU Kommission jedoch Klage vor dem Europäischen Gerichtshof eingereicht, weil sie gegen das Gebot der Freizügigkeit verstoße. Um Wien zu besänftigen, kündigte Kommissionspräsident Manuel Barroso an, das angedrohte Verfahren um bis zu fünf Jahre auszusetzen.

    Doch trotz all dieser noch zu klärenden Fragen gibt es einen wichtigen Grund, der für eine zügige Einigung der Staats- und Regierungschefs spricht: Die Mehrheit will das Thema EU-Reform nach dem jahrelangen Hin und Her nun endlich vom Tisch haben, um sich anderen Problemen widmen zu können. Dabei wird ihr einstimmiger Beschluss nur der Anfang sein, denn der Vertrag muss noch ratifiziert werden, und ob dabei, dieses Mal, alles glatt läuft, möchte heute noch niemand beschwören.