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Mit dem Blick aus dem Keller

Durch Zufall gelangte der Bulgare Dimitr Dinev 1990 nach Österreich. Der Sohn eines germanophilen Chemikers in Plovdiv, der zweitgrößten Stadt Bulgariens, hat Wien wie viele seiner Helden von unten erobert. Ohne Aufenthaltserlaubnis finanzierte er sein Philosophiestudium. Heute profitiert er von diesen Erfahrungen, denn in "Ein Licht über dem Kopf" überrascht Dinev mit zehn tragikomischen Geschichten aus, deren Lebens- und Menschenfreundlichkeit oft ins Gleichnishafte tendiert.

Von Katrin Hillgruber | 04.07.2005
    Im Bulgarischen wird ein Akzent auf einem Buchstaben auch "Schlag" genannt. Als der damals 22-jährige, vom Postkommunismus enttäuschte Bulgare Dimitr Dinev 1990 durch eine Zufallsbekanntschaft mit serbischen Autoschmugglern nach Österreich kam, wurde sein Vorname bei der Transkription versehentlich mit einem E mit Accent aigu versehen. So wurde aus dem slawischen Dimitr der französisch klingende Dimitré. Dimitré Dinev kam 1968 als Sohn eines germanophilen Chemikers in Plovdiv zur Welt, der zweitgrößten Stadt Bulgariens. Er und seine Schwester besuchten das örtliche Bertolt-Brecht-Gymnasium, wo sie von linientreuen Lehrern aus der DDR sehr effektiv Deutsch lernten, wie er sich erinnert. Heute lebt er in Wien und hat gerade sein zweites Buch veröffentlicht, den Erzählungsband "Ein Licht über dem Kopf".

    Wie Adelbert von Chamissos Peter Schlemihl durch einen Teufelspakt seinen Schatten und damit seine Identität verlor, gewann Dimitré Dinev mit dem für ihn "bisher angenehmsten Schlag" seines wechselvollen Lebens, eben jener Umbenennung, außer einem Buchstaben eine neue Identität als Autor. Für seinen 600 Seiten langen Debütroman "Engelszungen" aus dem Jahr 2003, dessen erzählerischer Reichtum überwältigt, erhielt er den diesjährigen Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Dieses Ereignis markierte den vorläufigen Höhepunkt seiner kreativen Odyssee in Deutsche. Plovdiv ist offenbar eine günstige Gegend für Sprachvirtuosen: Die Heimat des mythischen Sängers und Dichters Orpheus, das Rhodopen-Gebirge, beginnt nur wenige Kilometer südlich der Stadt.

    "Meine Anfänge waren auf Bulgarisch. Später kam diese Lust, mich in fremden Sprachen auszuprobieren. Und ich habe einen Freund, der hat es sehr schön ausgedrückt, ein italienischer Philosoph, der selber auch auf Deutsch schreibt, und er hat auch einmal gesagt, als so eine ähnliche Frage gekommen ist, er sei kein Don Juan der Sprachen, sondern er liebt die Sprache, in der er gerade schreibt und macht keine Seitensprünge. Entweder, man schreibt so ganz konzentriert in dieser Sprache oder nicht. Und bei mir ist es auch so ähnlich. Ich bin ja umgeben vom Deutschen, von der Musik dieser Sprache, von der Melodie. Und deswegen fällt es mir immer schwerer, auf Bulgarisch zu schreiben. Das ist dann wirklich eine Überwindung. Da muss ich mich ganz zurückziehen und mich wieder erinnern, wie diese Sprache geklungen hat.

    In "Ein Licht über dem Kopf" überrascht Dinev mit zehn tragikomischen Geschichten aus Ost- und West, deren Lebens- und Menschenfreundlichkeit oft ins Gleichnishafte tendiert. Während ein rumänischer Schwarzarbeiter in Wien noch nie das Wort "Wahrheit" gehört hat, erfüllt in "Lass’ uns Radio hören" ein Mann im hellhörigen Plovdiver Plattenbau nur bei Parteitagsreden sein Soll als Liebhaber. Mit der politischen Wende gerät er in eine ernste sexuelle Krise, als die stundenlangen Übertragungen aus Sofia plötzlich ausbleiben. "Das ist das Ungerechte an der Literatur: Die besten Stoffe liefern Länder, die Absurditäten in sich bergen", sagt der lebhaft gestikulierende Schriftsteller mit der Dirigentenfrisur:

    "Wenn ich nach Bulgarien fahre und mit den Leuten rede, komme ich mit so vielen Stoffen zurück, und es ist ganz anders, wenn ich in Österreich mit den Menschen rede, weil in Bulgarien jeder auf eine individuelle Weise versucht, den Alltag zu bewältigen. In Österreich verlässt man sich auf die Gesetze des Landes, auch auf die vorhandenen Strukturen. Und in Bulgarien gibt’s die nicht, und jeder findet seinen eigenen Weg. Und dadurch ist jeder ein lebender Stoff. Du glaubst es nicht, wie er es schafft, wie ein Fakir mit 20 Euro 15 Kinder zu ernähren. Und wenn er das erzählt, dann lachst du auch darüber, weil über solche Extreme, da kannst du entweder nur lachen, oder du könntest dich aufhängen, es gibt keinen Mittelweg."

    Dimitré Dinev schmerzt die Ignoranz des Westens gegenüber seinem Heimatland, das ja in zwei Jahren der EU beitreten soll.

    "Es bedrückt mich oft und verletzt mich, wenn Menschen überhaupt keine Ahnung haben über Bulgarien, und vor allem deswegen, dass sie nicht mal wissen, wo die kyrillische Schrift entwickelt worden ist, und dass die Bulgaren ein Kulturvolk sind. Ich glaube, es liegt vielleicht am Desinteresse in Bezug auf Byzanz, auf das byzantinische Imperium. Wer interessiert sich schon, wer weiß schon etwas über Byzanz hier. Das ist alles mehr über das Weströmische Reich verlaufen, die Geschichte, die Geschichtsdeutung und Erklärung. Vielleicht hat es zuerst diesen geistlichen Hintergrund gegeben, diese Trennung der Kirche in oströmische und weströmische, und vielleicht wurde da so eine Grenze gezogen im Bewusstsein und im Glauben.

    Wien, die mitunter kaltherzige Walzerstadt, hat sich Dinev wie viele seiner Helden von unten erobert. Hier brachte er jahrelang ohne Aufenthaltserlaubnis zu und finanzierte sein Philosophiestudium mühsam durch nächtliche Gelegenheitsjobs. Doch nun möchte er die Wiener Sprachmelodie nicht mehr missen. In seinen Geschichten, die von Tschechowscher Beobachtungskunst und Weisheit zeugen, errichtet er einen literarischen Vielvölkerstaat, den es sich zu bereisen unbedingt lohnt. Aus dem Keller der westlichen Gesellschaft zu blicken, sagt Dimitré Dinev, bedeute, diese Gesellschaft ganz nackt vor sich zu haben, mit all ihren Schwächen. Er wird die Poesie weiterhin erfolgreich bei den Außenseitern suchen.