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Mit den Augen hören

Medizin.- 1986 wurde das erste Kind mit einem Cochlea-Implantat ausgestattet - einer Art Hörprothese, die bei gehörlosen Menschen das beschädigte Innenohr ersetzen soll. Wie das menschliche Gehirn damit zurechtkommt, zeigen nun gleich mehrere Studien.

Von Kristin Raabe | 18.01.2011
    Wenn ein Mensch sein Gehör verliert, gewinnt er in aller Regel eine andere Fähigkeit: Er wird ein Meister im Lippenlesen. Nur 30 Prozent aller Laute und Wörter lassen sich an den Bewegungen der Lippen erkennen - ist der Kontext bekannt, reicht das aber oft schon aus, um den Sinn eines Satzes zu verstehen. Außerdem bemerken Gehörlose viel schneller, was am Rande ihres Gesichtsfeldes passiert als Hörende. Sie nutzen ihre Sehfähigkeit viel effizienter als es Menschen mit normalen Gehör können. Und das wirkt sich auf ihr Gehirn aus, wie Pascal Barone von der Medizinischen Fakultät der Universität Toulouse nachweisen konnte.

    "Wir sehen dann, dass einige Bereiche des Hörsystems im Gehirn vom Sehsystem übernommen werden. Wenn man einem tauben Erwachsenen eine Aufgabe gibt, die Lippenlesen erfordert, sind dabei auch Bereiche des Hörsystems in der Großhirnrinde aktiv. Interessant ist aber nun, was passiert, wenn man diesen Patienten ein Cochlea Implantat verpasst. Dann sind die Bereiche der Hörrinde beim Lippenlesen nicht mehr aktiv. Sobald also wieder akustischer Input da ist, wird dieser Teil des Gehirns wieder für seine eigentliche Bestimmung eingesetzt: Die ganz normale Wahrnehmung und Auswertung von akustischen Informationen."

    Ein Cochlea-Implantat liefert allerdings nur einen verzerrten Höreindruck:

    Ein gesundes Ohr würde diese Töne wie folgt an das Gehirn weiterleiten:
    "Brother"

    "Brother" – das englische Wort für "Bruder": Hier noch einmal der Vergleich: dasselbe Wort, von einem Implantat wiedergegeben:

    Soundbeispiel Cochlea Implantat:

    Wenn man weiß, was es bedeutet, kann man es tatsächlich verstehen – und tatsächlich können ehemals gehörlose Menschen mit dem Implantat wieder normale Gespräche führen.

    "Sie gewöhnen sich an diese verzerrte akustische Information und können sie verstehen. Die Ergebnisse sind wirklich fantastisch."

    Der Wissenschaftler hat auch herausgefunden, wie die Cochlea- Implantat-Patienten das machen: Sie hören auch mit den Augen.

    "Wenn ein Teil der Information vom Hörsystem kommt, dann hilft das Lippenlesen dabei, diese Informationen zu vervollständigen. Unsere erwachsenen Patienten können mit Implantat im Schnitt in 80 bis 85 Prozent der Fälle einzelne Wörter richtig verstehen. Wenn man ihnen aber die Möglichkeiten zum Lippenlesen gibt, schaffen sie 100 Prozent."

    Nach dem Einsetzen des Cochlea-Implantats wird das Hörsystem im Gehirn wieder für die Verarbeitung von Lauten genutzt. Obwohl also weniger Kapazität für die Verarbeitung von Sehinformation vorhanden ist, verlieren die Patienten mit Implantat ihre Fähigkeiten im Lippenlesen nicht vollständig. Nach Ansicht von Pascale Barone sollte das auch bei der Arbeit mit solchen Patienten stärker genutzt werden.

    "Deswegen glauben wir in Toulouse, dass die Rehabilitation solcher erwachsenen gehörlosen Patienten ein Training ihrer visuellen Fähigkeiten beinhalten sollte, denn dadurch würde sich auch ihre Hörfähigkeit schneller verbessern. Es gibt da einfach Synergieeffekte zwischen diesen beiden Systemen."

    Von einem entsprechenden Training profitieren Patienten allerdings nur dann, wenn sie erst als Erwachsene ihr Gehör verloren haben - beispielsweise durch einen Unfall, eine Krankheit oder einfach durch ganz normale Alterungsprozesse. Kinder, die bereits taub auf die Welt gekommen sind, müssen möglichst frühzeitig ein Cochlea-Implantat erhalten. Das zeigen Studien von Anu Sharma von der Universität von Colorado. Die Wissenschaftlerin hat mit EEG-Elektroden untersucht, wie das Gehirn von Babys und Kleinkindern auf Sprache reagiert.

    "Wir haben das bei etwa 1000 Kindern gemacht. Von der Auswertung dieser Daten wissen wir auch, dass ein Kind, das vor dem Alter von dreieinhalb ein Cochlea Implantat bekommen hatte, sich sprachlich ganz normal entwickelt. Nach dem Alter von sieben Jahren aber, können die Kinder das nicht mehr nachholen."

    Weil sie taub geboren wurden, hat das Gehirn dieser Kinder nie gelernt, Töne zu verarbeiten. Und das lässt sich ab einem Alter von sieben Jahren auch mit einem Cochlea Implantat offenbar nicht mehr nachholen.

    Wenn man ihnen Töne vorspielt, dann können solche spät implantierten Kinder ihre Hand heben und uns mitteilen, ob der Ton laut oder leise ist, was aber wahrscheinlich passiert ist, dass die Hörrinde ihre Verbindung zu höheren Ebenen der Großhirnrinde verliert, wo Sprache verarbeitet wird. Dadurch kann der gehörte Ton nicht so ohne weiteres mit Bedeutung in Verbindung gebracht werden.

    Die Ergebnisse von Anu Sharma und Pascale Barone machen eins ganz deutlich: Wir Menschen hören mit unseren Ohren und manchmal sogar mit unseren Augen. Das Verstehen geschieht aber im Gehirn.