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Mit den Händen Lesen lernen

Psychologie. - Lesen und Fremdsprachen lassen sich leichter erlernen, wenn beim Lernvorgang nicht nur die Augen und die Ohren angesprochen werden, sondern auch der Tastsinn. Zu diesem Ergebnis kommt ein französisches Wissenschaftler-Team. Die Ergebnisse seiner Arbeit wurden jetzt in PLoS one veröffentlicht.

Von Suzanne Krause | 16.03.2009
    An ganz normalen ABC-Schützen im Klassenzimmer erprobten die Forscher von der Universität Grenoble ihre Methode, multisensoriell genannt. Bei der klassischen Methode lernen Schüler Lesen, in dem man ihnen einzelne Buchstaben für das Auge zeigt und diese für das Ohr benennt. Dabei werden im Gehirn das Gehörte und Gesehen zusammen abgespeichert. Beim multisensoriellen Ansatz bekommen die Kinder ein Täfelchen mit einem Buchstaben im Halbrelief-Druck zur Hand. Mit den Fingern können sie die Umrisse nachfahren, den Tastsinn stimulieren. Und dieses, im wahrsten Sinne des Wortes, Be-Greifen erleichert das Lernen, erläutert Forschungsleiter Edouard Gentaz:

    "Wir haben mit zwei Gruppen gearbeitet, die eine lernte nach der klassischen Methode, die andere nach der multisensoriellen. Zu Beginn und am Ende des Experiments haben wir bei jeder Gruppe jeweils die Lernfähigkeit gemessen. Die Teilnehmer der multisensoriellen Gruppe wiesen höhere Lernleistungen auf. Eine Woche nach der Lernphase haben wir das neuerworbene Wissen nochmals abgefragt. Diejenigen aus der multisensoriellen Gruppe erinnern sich eindeutig besser daran, welcher Laut zu welchem Zeichen gehört und umgekehrt."

    Der Ansatz, beim Lernen den Tastsinn einzuschalten, wird schon lange genutzt. Bislang allerdings nur in Einzelfällen, bei Kindern, die extreme Schwierigkeiten beim Lesenlernen aufweisen. Nun belegen Gentaz und seine Kollegen erstmals wissenschaftlich: die multisensorielle Methode funktioniert auch im Schulalltag. Und sie funktioniert ebenso bei Erwachsenen, die eine Fremdsprache erlernen. Die französischen Forscher baten 30 Erwachsene ins Labor und legten ihnen der japanischen Schrift ähnliche Zeichen vor, gekoppelt mit Phantasie-Lauten. Konnten die Testpersonen die Zeichen betasten, prägten sie sich ihnen dauerhaft besser ein. Edouard Gentaz nennt zwei Möglichkeiten, diesen Erfolg zu erklären

    "Die erste Möglichkeit: wenn ich den Tastsinn hinzufüge zur Entdeckung einer Form, dann füge ich auch neue Informationen bei, kodiere die Information also mit vielfältigen Elementen und Sinneseindrücken. Mehr Informationen einzubringen bedeutet somit, die Darstellung der Form, eines Buchstabens, im Hirn zu verbessern. Dies erleichtert es, Bild und Ton zu einem Buchstaben besser miteinander zu verknüpfen."

    Der zweite Ansatz zur Erklärung: der Tastsinn könne eine Art Zement darstellen, um die Eindrücke von Auge und Ohr dauerhaft zusammenzuhalten.

    "Der Sehsinn ist sehr spezialisiert auf die räumliche und auch simultane Bearbeitung von Informationen. Der Hörsinn hingegen ist spezialisiert auf die Bearbeitung aller sequentiellen, zeitlich gestaffelten Informationen. Beim Lesenlernen sind beide Sinne gefragt und sie müssen miteinander verknüpft werden. Das Begreifen einer Form, eines Buchstabens, könnte da als Verbindungsstoff dienen. Denn der Tastsinn kann etwas räumlich ergreifen, wie das Auge. Und zudem wirkt er in einem längeren Zeitraum, wie das Ohr. Denn man kann nochmals abrufen, was man ertastet hat."

    Die multisensorielle Methode setzen die Wissenschaftler mittlerweile nicht nur beim Lesenlernen ein. Sondern auch, um Schreiben zu lernen. Gentaz und sein Team haben einen Roboterarm entwickelt: ein so genanntes haptisches Display. Da ist ein Stift an einem beweglichen Aufsatz festgemacht. Mit dem lässt sich Schreiben üben. Zum einen kann der Roboterarm dabei komplett die Hand des Menschen führen. Zum anderen kann der Schüler auch selbst den Stift führen - bis er einen Fehler macht. Dann übernimmt der Roboter die Kontrolle über den Stift, also die Schrift und korrigiert die menschliche Hand. Gentaz garantiert: Schüler, die mit dem haptischen Display lernen, schreiben flüssiger. Schöner wohl auch, aber nur im Rahmen der vorgegebenen Schriftnorm.